Beiträge von Karamzin

    Wie Du vielleicht bemerkt hast, existiert, um nicht zu sagen, dümpelt im Nachbarforum litteratur.ch seit anderthalb Jahren eine Leserunde zu den Horen vor sich hin. Wir sind jetzt ( quasi zeitgleich) im Augustheft 1796. Im Oktober beginnt Agnes von Lilien von Caroline von Wolzogen. Da wir im Laufe der Horen-Lektüre den Eindruck gewonnen haben, dass mit fortschreitendem Bestehen der Zeitschrift immer mehr literarisch Zweitrangiges dort Aufnahme findet, sahen wir dem Roman mit einigen Befürchtungen entgegen. Dass Du ihn hier empfiehlst, gibt ja zu hoffen! :klatschen:
    Willst Du ab Oktober nicht mitmachen?



    Vielen Dank, Gontscharow, für den Hinweis auf das Forum litteratur.ch., in dem ich bisher noch nicht gelesen hatte, und die dortige Diskussion über die "Horen". Ich werde dort hineinschauen, will aber dem klassikerforum hier nicht untreu werden :winken: und ab 1. Oktober an der geplanten Leserunde über Immermanns "Epigonen" festhalten.


    Die Literaturwissenschaftlerin Ursula Naumann hat sowohl Taschenbücher für ein breites Publikum verfasst, die man auf der Bahnfahrt lesen kann, was vielleicht nicht jedermann/frau's Sache ist (Geträumtes Glück. Angelika Kauffmann und Goethe, 2007), zum Thema des neuen Films pünktlich die Neuauflage:
    "Schiller, Lotte und Line. Eine klassische Dreiecksgeschichte" (2004; 2014),


    als auch an eher wissenschaftlichen Diskussionen teilgenommen, so in dem von Jochen Golz herausgegebenen Sammelband über Caroline von Wolzogen (Marbach 1998). Schon 1985 war ihre Biographie der Charlotte von Kalb erschienen, die bei dem Zwang zum Durchhalten einer klaren Linie im Genre Film in den "Geliebten Schwestern" als Furie erscheint. Aus der Literatur hatte ich gelernt, dass sich die beiden Charlottes (von Lengefeld und von Kalb) zunächst sehr gut verstanden, was von dem in Verlegenheit geratenen Schiller auch befördert wurde.


    Da würde ich Ursula Naumann zustimmen wollen, dass die "Agnes von Lilien" das Denken und Fühlen einer jungen Frau um 1800 auf eine Art so deutlich werden lässt, dass dennoch zahlreiche zeitgenössische Leser über die Autorschaft getäuscht wurden und einen Mann als Verfasser vermuteten (Goethe oder Schiller). Den heutigen Geschmack vieler Leser dürfte die "Agnes von Lilien" sicher nicht treffen, andere Lesegewohnheiten haben sich durchgesetzt.


    Dominik Graf wird sich wohl vor allem noch einmal bei Peter-Andre Alt über den Forschungsstand zu Schiller vergewissert haben.


    Im übrigen ist dieser Roman relativ kurz; :zwinker: wer kann es sich heute andererseits leisten, freiwillig die etwa 3700 (!) Seiten von "Sophiens Reise von Memel nach Sachsen" des Johann Timotheus Hermes durchzulesen, um dann zu wissen, was es mit der "Sprödigkeit" Sophiens auf sich hat?

    Elf Menschen hatten sich in dem Kino der Großstadt eingefunden, um "Die geliebten Schwestern" zu sehen, davon fünf Rentnerpaare in der letzten Reihe. Ich kam noch rechtzeitig, mitten in die Werbung vor dem Film.


    Es war für mich das schönste Filmerlebnis seit drei Jahrzehnten - nicht übertrieben!


    Die Regie und die schauspielerischen Leistungen haben mich hingerissen. Man hatte ja seit langer Zeit seinen "inneren Film" vom Verhältnis Schillers und der beiden Lengefeld-Schwestern vor Augen - jetzt kam ein "richtiger" Film.
    Detailgetreu bis zu den nervösen Zuckungen im Gesicht der liebenden Caroline von Beulwitz, dem Grinsen Knebels und den Selbstverletzungen der gekränkten Charlotte von Kalb. Schiller mit seinen anfänglich 29 Jahren erscheint sensibel und auch schon lebensklug - kein unbedachter Tollkopf. Die sprachlichen Nuancen - Hochdeutsch und Französisch, das mir von Kindheit an vertraute Thüringisch (mit den heimatlichen Schauplätzen Weimar, Rudolstadt, Volkstedt, Heiratsort Jena, Großkochberg) und Schillers schwäbisches Idiom.
    Ganz großes Kino! Und persönlich als Schauspielerin - Hannah Herzsprung als Caroline von Wolzogen,:herz:


    die eine so begnadete Schriftstellerin war, dass Friedrich Schlegel annahm, ihre "Agnes von Lilien" sei von Goethe - haben wir eigentlich schon einen Thread für sie, hat noch jemand Caroline von Wolzogen gelesen? (die Betätigung der Suchfunktion sagt: nein, noch nicht)

    Nachträglich eine Literaturauswahl (im Mai hatte ich begonnen mit der Zusammenstellung)



    Azzouni, Safia: Kunst als praktische Wissenschaft. Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre und die Hefte zur Morphologie. Köln 2005.


    Beck, Andreas: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen: Goethe – Tieck – E. T. A. Hoffmann. Heidelberg 2008.


    Bez, Martin: Goethe „Wilhelm Meister Wanderjahre“ Aggregat, Archiv, Archivroman (Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge. 132)-Berlin/Boston 2013.


    Breuer, Ulrich: Gesammelte Form. Typus und Kollektiv in Goethes Wanderjahren. Internet (zu ergänzen)


    Bunzel, Wolfgang: „Das ist eine heillose Manier, dieses Fragmente-Auftischen“. Die Vorabdrucke einzelner Abschnitte aus Goethes „Wanderjahren“ in Cottas „Taschenbuch für Damen“. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Hrsg, von Christoph Perels. Tübingen 1992, S. 36-68.


    Fink, Gonthier-Louis: Tagebuch, Redakteur und Autor. Erzählinstanz und Struktur in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre. In: Recherches Germaniques. Revue annuelle publiée avec le concours du CNRS. Nr. 16. Strasbourg 1986, S. 7-54.


    Fischer-Hartmann, Deli: Goethes Altersroman. Studie über die innere Einheit von Wilhelm Meisters Wanderjahren. Halle 1941.


    Fues, Wolfram-Malte: Wanderjahre im Hypertext. In: Ortrud Gutjahr/Harro Segeberg: Klassik und Anti-Klassik. Goethe und seine Epoche. Würzburg 2001, S. 137-156.


    Gidion, Heidi: Zur Darstellungsweise von Goethe „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. Göttingen 1969.


    Gille, Klaus F.: Goethes Wilhelm Meister. Zur Rezeptionsgeschichte der Lehr- und Wanderjahre. Königstein/Ts. 1979.


    Haupt, Gertrud: Goethes Novellen Sankt Joseph der Zweite, Die pilgernde Thörin, Wer ist der Verräther. Diss. Greifswald 1913.


    Heinz, Jutta: Narrative Kulturkonzepte. Wielands Aristipp und Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre. Heidelberg 2006.


    Henkel, Arthur: Entsagung. Eine Studie zu Goethes Altersroman (Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge. Bd. 3). Tübingen 1954.


    Herwig, Henriette: Das ewig Männliche zieht uns hinab: „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie. Tübingen/Basel 1997.


    Herwig, Henriette: „Wilhelm Meisters Wanderjahre“: Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie. 2. Aufl. Tübingen/Basel 2002.


    Karnick, Manfred: „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ oder die Kunst des Mittelbaren. Studien zum Problem der Verständigung in Goethes Altersepoche. München 1968.

    Klingenberg, Anneliese: Goethes Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden." Quellen und Komposition (Beiträge zur deutschen Klassik. Bd. 21). Berlin und Weimar 1972.


    Krüger, Emil: Die Novellen in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“. Diss. Kiel 1926.


    Landfester, Ulrike: Unverbundenes. Die Ordnung des Blutes in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ (1829). In: Johann Wolfgang Goethe. Romane und theoretische Schriften. Hrsg. von Bernd Hamacher/Rüdiger Nutt-Kofoth. Darmstadt 2007, S. 97-126.


    Mahoney, Dennis F.: Der Roman der Goethezeit (1774-1829). Ausklang. Goethe „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. Stuttgart 1988, S. 155-161.


    Mittermüller, Christian: Sprachskepsis und Poetologie. Goethes Romane „Die Wahlverwandtschaften“ und „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. Tübingen 2013.


    Müller, Klaus-Detlef: Lenardos Tagebuch. Zum Romanbegriff in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren. In: DVJS Nr. 53 (1979), S. 275-299.


    Neuhaus, Volker: Die Archivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. 62. Band. Heidelberg 1968, S. 13-27.


    Pestalozzi, Karl: Versteckte Anspielungen in Goethes Novelle Wer ist der Verräter? in Wilhelm Meisters Wanderjahren. In: Verbergendes Enthüllen. Zu Theorie und Kunst dichterischen Verkleidens. Festschrift für Martin Stern. Hrsg. von Wolfram Malte Fues/Wolfram Mauser. Würzburg 1995, S. 197-206.


    Pleister, Michael: Zu einem Kapitel vergessener Rezeptionsgeschichte: Heinrich Gustav Hotho. Rezension der Wanderjahre von Goethe, analysiert unter Einbeziehung der Hegelschen Epos- und Romantheorie. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Bd. 87. 1993, S. 387-407.


    Reiss, Hans: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Der Weg von der ersten zur zweiten Fassung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Bd. 39. Stuttgart 1965, S. 34-57.


    Reiss, Hans: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Der Weg von der ersten zur zweiten Fassung. In: Ders.: Formgestaltung und Politik. Goethe-Studien. Würzburg 1993, S. 102-122.


    Renner, Rolf Günther: Text, Bild und Gedächtnis. Goethes Erzählen im Mann von fünfzig Jahren und in den Wanderjahren. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft. 31. Band. München 1999, S. 149-174.


    Schößler, Franziska: Goethes Lehr- und Wanderjahre. Eine Kulturgeschichte der Moderne. Tübingen/Basel 2002.


    Schwanke, Martina: Index zur Goethes Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik Nr. 271). Stuttgart 1994.


    Thums, Barbara: Wandernde Autorschaft im Zeichen der Entsagung: Goethes Wanderjahre. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hrsg. von Heinrich Detering. Stuttgart/Weimar 2002, S. 501-520.


    Vaget, Hans-Rudolf: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre (1829). In: Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Stuttgart 1983, S. 136-164.


    Voßkamp, Wilhelm: Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre. In: Ders.: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 3. Stuttgart 1982, S. 227-249.


    Wiethölter, Waltraud: …. Was nicht entschieden werden kann, bleibt im Schweben – Zum Verhältnis von Erzählung und Moral in Goethes Wilhelm-Meister-Projekt. In: Kontingenz und Ordo. Selbstbegründung des Erzählens in der Neuzeit. Hrsg. von Bernhard Greiner/Maria Moog-Grünewald. Heidelberg 2000, S. 161-175.


    Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800. Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München 2008.


    Wolf, Thomas: Pustkuchen und Goethe. Die Streitschrift als produktives Verwirrspiel. Tübingen 1999.


    Wolff, Eugen: Die ursprüngliche Gestalt von Wilhelm Meisters Wanderjahren. In: Goethe-Jahrbuch. Bd. 34. Hrsg. Ludwig Geiger. Frankfurt am Main 1913, S. 162-192.


    Zenker, Markus: Zu Goethes Erzählweise versteckter Bezüge in „Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden" (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 56). Würzburg 1990.

    Nicht zu weit


    Diese Novelle hat mich doch wieder ziemlich ergriffen, die als einzige von Trostlosigkeit durchzogen zu sein scheint.
    Zunächst kamen mir Filmszenen in den Sinn, die ich allerdings nicht zuordnen konnte. Der Mann mit den Kindern wartet abends zu Hause auf seine Ehefrau, die nicht eintrifft, schließlich schlafen sie ein (oder er zieht sich eine Flasche ein).
    Eine solche Szene verdeutlicht, dass hier etwas Gewohntes durcheinander geraten ist. Der Hausfrau ist eigentlich der Platz zugedacht, den sie an der Seite ihres Mannes einzunehmen hat und an dem sie Huldigungen von den Kindern zu erwarten hat, die im Grunde überhaupt nicht kindgemäß sind und nur von sehr "lieben", gut angepassten Kindern freiwillig übernommen wurden. Das dürften Hollywood-Filme gewesen sein, die das gewohnte Rollenbild von der Hausfrau transportieren; meist kam es dann zum Happy End, und die ausgebrochene Hausfrau zeigt sich wieder an der Seite der sie liebenden Familie. Transportiert wird auch eine Anklage der Frau: sie hat da zu sein, für ihren Mann, für ihre Kinder, und wenn dennoch etwas dazwischen gekommen ist, so muss sie das dann zum allgemeinen Wohlgefallen gefälligst wieder in Ordnung bringen.


    Selbst kennt man eher großstädtische Familiensituationen, bei denen alle gewöhnt sind, dass Familienmitglieder, vor allem auch die Frauen, abends unterwegs sein können, und sich nicht alles planen lässt. Für den Fall eines überraschenden Ausbleibens oder Zuspätkommens tritt dann Plan B als Improvisation in Kraft, und der Abend kann gerettet sein.



    Hier ist hingegen "alles zu spät". Wie es sich gezeigt hat, war Goethe der gefallsüchtige, quirlige Frauentyp nicht sympathisch, der sich selbst anhimmeln ließ (und nicht den Dichter in Positur kommen ließ), mit dem man nicht unter vier Augen tiefsinnig schweigen und über erhabene Gegenstände sprechen konnte. Das heißt: er hat sich wohl doch immer wieder von solch einem Wirbelwind beeindrucken und zeitweise einfangen lassen. In den "Wahlverwandtschaften" ist Lucinde, die verzogene Tochter Charlottes, ein solches flatterhaftes Geschöpf, während Julie in der ersten Novelle der "Wanderjahre" - "Wer ist der Verräter?" - zwar ebenfalls ein unstetes, jedoch auch kluges und lebenserfahrenes Wesen ist.


    Erich Trunz wieder mal (ich habe mich heute wohl auf ihn eingeschossen :zwinker:), nachdem er den bezeichnenden Satz entlassen hatte "Eine Volksmenge braucht einen leitenden Mann" (S. 656, fürwahr, davon gab es im 20. Jh. gleich mehrere, aber kann es nicht auch einmal eine kollektive Führung sein?) vermischt auf S. 658 m. E. eine den Helden bzw. Erzählern untergeschobene Meinung mit seinen eigenen traditionellen Vorstellungen von "Schuld" beim Scheitern einer Ehe:
    "Odoard kann sich nicht ganz freisprechen von einer ursprünglichen Schuld, die darin liegt, daß er diese Ehe geschlossen hat. Da er es aber tat, hält er zu ihr, und das fordert ein unendliches Maß von Selbstzucht und Entsagung."


    Zum einen ist Odoard ja durch eine bestimmte Konstellation am Hof in diese konventionelle Ehe geraten, die keine Liebesheirat war.


    Heute, da im Durchschnitt jede dritte oder sogar zweite Ehe geschieden wird, sagt man sich, dass nur selten eine Seite "schuld" am Auseinanderbrechen der Beziehung hat. Frauen betreiben heute oft aktiv und eher die Scheidung, wenn sie zu dem Schluss gelangt sind, dass sich die ursprünglichen Beziehungen wesentlich zum Schlechten verändert haben, so dass eine "falsche Partnerwahl" oft auch nicht einmal die Hälfte der Wahrheit bedeutet. Goethe hat mit Albertine sicher einen ihm unsympathischen Typ gezeichnet, aber es musste schon eine jahrelange Verkettung von Umständen sein, die zur Katastrophe führte.


    (und ich glaube für mich zu wissen, wer mit "Aurora" gemeint war :zwinker:)

    Eine Ausnahme macht Goethe dabei, und hier sehe ich in hohem Maße Autobiographisches:


    Zitat

    Sehen wir aber bedeutende Staatsmänner, obwohl ungern, ihren hohen Posten verlassen, so haben wir Ursache, sie zu bedauern, da wir sie weder als Auswanderer noch als Wanderer anerkennen dürfen; nicht als Auswanderer, weil sie einen wünschenswerten Zustand entbehren, ohne daß irgendeine Aussicht auf bessere Zustände sich auch nur scheinbar eröffnete; nicht als Wanderer, weil ihnen anderer Orten auf irgendeine Weise nützlich zu sein selten vergönnt ist.


    (HA. Bd. 8, S. 389)


    Das traf nun auch auf Goethe zu. Nach seiner Flucht in die italienischen Kunstgefilde 1786 fand er sich mit höchsten Unlustgefühlen 1788 wieder in Weimar ein. Er war noch nicht einmal 40 Jahre alt, doch waren die mehr als zehn Jahre Ministerdaseins mehr als genug. Der Herzog und der Hof übergaben ihm mannigfaltige Aufgaben auf kulturellem Gebiet: Verfassen von Texten für Singspiele und Hoffeste, Aufsicht über das Weimarer Theater. An der Aufsicht über die Universität Jena fand er auch Gefallen, weil ihn die dort betriebenen Naturwissenschaften in den Bann zogen (physikalisch-optische Geräte; anatomische Sammlungen - Zwischenkieferknochen; Botanischer Garten).


    Aber er hatte bereits für eine gewisse Zeit an der Spitze eines Staates als leitender Minister gestanden. In einem schmerzlichen Prozeß begriff er, dass er Weimar nicht mehr verlassen könne, dass sich ihm nirgendwo anders ein ihm angemessener Wirkungskreis eröffnen würde. Nur noch die "Entsagung" blieb übrig, da er mit der geliebten Frau keinen Bund schließen konnte. Ihm blieb als Rückhalt seine kleine Familie - allerdings alles andere als eine Idylle, wenn man an das Ende Christianes und Augusts denkt.

    Lenardos Ansprache
    Sie ist ein Loblied auf die Mobilität. Angehörige aller Stände und Schichten der Gesellschaft sollten dazu angehalten sein, an anderen Orten wirksam zu werden. Zu jener Zeit war die Bindung der meisten Einwohner an ihren Ort und an den Boden noch nicht so weit aufgehoben, dass sich größere Menschengruppen auf Wanderschaft begeben hätten.


    (In Russland wurden übrigens in jeder Sommer-Saison bis zu 200.000 Treidler an den großen Flüssen als Wanderarbeiter beschäftigt, die im Winter zu ihren Familien in die Dörfer zurückkehrten; da es kaum ein ausgebautes Netz von Überlandstraßen gab, hatten die Flüsse solch eine Bedeutung für den Warentransport - aber das galt ja alles nicht für Mitteleuropa).


    Dieser Weltbund der Wandernden trägt utopische Züge.
    Was wird aus jenen, die nicht imstande sind, am Zielort eine nützliche Tätigkeit auszuüben? Der Russlandauswanderer Christian Gottlob Züge (1746-1823) aus Gera, selbst ein Leineweber, berichtete in seinen 1992 in Bremen erneut herausgegebenen aufschlussreichen Erinnerungen, dass sich unter den 27.000 Auswanderern, die den Versprechungen Katharinas II. glaubten, sie würden ein Land mit Weintrauben und Zitronen vorfinden, auch ein Schneider mit verkrüppelten Händen sowie ein Klavierbauer befunden hätten. Was sollte an der Wolga, wo die Ankömmlinge nur als Ackerbauern den Boden fruchtbar machen sollten, ein Klavierbauer anfangen?


    Um 1816 wurde Literatur zur Wirklichkeit: Als in Württemberg nach den napoleonischen Kriegen eine große Hungersnot ausbrach, zogen zehntausende verarmter Kolonisten, darunter viele Pietisten und Angehörige endzeitlicher Religionsgemeinschaften los und folgten der Verheißung in dem Roman "Das Heimweh" (1794/96) von Johann Heinrich Jung-Stilling, sie suchten das sagenhafte Reich "Solyma", das in Mittelasien gelegen und wo der "ewige Friede" durchgesetzt sei. Einige Gruppen gelangten bis zu den Garnisonen der russischen Kaukasus-Armee in Georgien und gründeten dort um 1817 Siedlungen.


    Bei der Kommentierung der Rede werden wieder einmal einige Passagen nicht erklärt.


    "Was soll ich aber nun von dem Volke sagen, das den Segen des ewigen Wanderns vor allem andern sich zueignet und durch seine bewegliche Tätigkeit die Ruhenden zu überlisten und die Mitwandernden zu überschreiten versteht? Wir dürfen weder Gutes noch Böses von ihnen sprechen; nichts Gutes, weil sich unser Bund vor ihnen hütet, nichts Böses, weil der Wanderer jeden Begegnenden freundlich zu behandeln, wechselseitigen Vorteils eingedenk, verpflichtet ist."
    (HA, Bd. 8, S. 387)


    Erich Trunz schweigt. Ist das "fahrende Volk" gemeint, von dem etliche Gruppen die Landstraßen entlang zogen, als "Landstreicher" abgewertet wurden? Sind es die Zigeuner, die noch im 18. Jahrhundert aus vielen deutschen Territorien ausgewiesen wurden? Bei Zuwiderhandlung war es vorgekommen, dass kurzerhand eine ganze Gruppe von wandernden Männern, Frauen und Kindern aufgehängt wurde. Worin besteht der "wechselseitige Vorteil", wo bleibt die allgemeine Mitmenschlichkeit?
    Da Goethe vom "Segen des ewigen Wanderns" spricht, dürften die Juden eigentlich nicht gemeint gewesen sein: zum einen wurde gemäß den aus dem Mittelalter stammenden Vorstellungen ja eher der "Fluch des ewigen Wanderns" über sie verhängt, zum anderen war nicht das Individuum gemeint, waren die meisten von ihnen zu jener Zeit sesshaft, und nur einzelne Kleinhändler reisten umher.

    JHNewman


    Nun war mein Beitrag vorwiegend rückwärtsgewandt.


    Vielleicht kannst Du mir und den hier Mitlesenden einmal berichten, welche Beiträge in "Sinn und Form" Dich in letzter Zeit besonders beeindruckt haben? Die Zeitschrift ist vielfach nicht sofort in einer nächstgelegenen Bibliothek einsehbar.


    Anhand der Informationen in dem von Dir beigegebenen Link kann man schon erkennen, dass sich die Zeitschrift viel mehr als früher internationalen Entwicklungen geöffnet haben dürfte.


    Hallo JHNewman,


    na ja, die Theologen um 1829 waren schon "wetterfester" als in Goethes Jugendzeit. Um 1774 hatte ihnen Werthers Selbstmord noch zu schaffen gemacht. Goethe nahm es Friedrich Jacobi übel, dass dieser ohne sein Wissen den "Prometheus" veröffentlichte, wenn auch anonym, das war für die Theologen und zahlreiche bibelfromme Schriftsteller immer noch starker Toback.


    Ich habe schon mitbekommen, dass Du Dich mit Theologie beschäftigt hast, garantiert viel mehr als ich, für den das alles nach 1990 Neuland war. Dort wo ich herkomme, wurde der "Prometheus" als für alle selbstverständliches Zeugnis des Atheismus in der Schule durchgenommen und auswendig gelernt, die zwei oder drei Christen in der Klasse gaben sich nicht als solche zu erkennen.


    Dafür ist für mich der Kommentator Erich Trunz (1905-2001) heute tatsächlich eine neue "Leseerfahrung", die DDR-Ausgabe, die ich 1976 las, hatte keine solchen Kommentare. Und ich brauchte noch bessere und gründliche Kommentare. Das eingangs erwähnte Buch von Anneliese Klingenberg erklärte nicht alles in den "Wanderjahren". Da stellte ich fest, dass Trunz nicht nur sehr blumig und schnörkelig schrieb, was sich schon bei seiner Kommentierung der Josephs-Geschichte zeigte, sondern sich auch - 150 Jahre später - bei deftigen religionsfernen Stellen, die bei dem "Heiden" Goethe unvermeidlich sind, gern aus der Affäre zieht oder ganz aus dem Staub macht. Trunz war ein viel gelobter Philologe mit klassischer humanistischer Bildung, für den die christliche Weltsicht jedoch Selbstverständlichkeit war, was sich auch in seinen Kommentaren niederschlug.

    Hallo JHNewman,


    meine Eltern hatten seit den 1960er Jahren bis zum Untergang der DDR und der Durchsetzung der Marktwirtschaft im Verlagswesen 1991 die Zeitschrift "Sinn und Form" abonniert, und ich habe eifrig in ihr gelesen. Sie galt als ein seriöses, vom politischen Tagesgeschäft unbeeinflusstes Blatt.

    Zwei Chefredakteure aus dieser Zeit wurden indes ab 1991 verdammt: Wilhelm Girnus und Max Walter Schulz.


    http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Girnus


    Ersteren kannte ich früh, weil er für das Goethe-Bild den "Realismus" als Maßstab anlegte. Es gab einen blau-weißen Reclam-Band mit seinen gesammelten Aufsätzen zur Literaturkritik.


    Max Walter Schulz (1921-1991) führte "Sinn und Form" 1983-1990 in einer Zeit des allgemein spürbaren Niederganges und der Krise, offenbar ohne die Autoren zu entmutigen und zu behindern, man warf ihm Stasi-Kontakte vor.


    http://de.wikipedia.org/wiki/Max_Walter_Schulz


    Es war anschließend ein Prozess, sich mit der Literaturlandschaft im vereinten Deutschland bekannt zu machen.


    Was in den Jahren 1991 bis 1993 an Schroffem, Verletzenden geschehen ist, mag vielleicht die Generation meines Sohnes, mag die der Enkel erforschen.
    Für die Einheit in Würde traten damals Weizsäcker, Bahr, Gaus, Dönhoff, Schorlemmer, der unvergessene Wolfgang Ullmann, in stillen Broschüren "Weil das Land Versöhnung braucht" ein, was in einem schrillen Chor der Verdammung des "Unrechtsstaates" und seiner Helfershelfer unterging.
    Durch die ungewöhnliche Konzentration in dieser Zeit auf die Staatssicherheit wurde unter entscheidender Anteilnahme des jetzigen Bundespräsidenten ein Geschichtsbild erzeugt, bei dem man die Leute in "Täter", "Widerstandskämpfer" und "Mitläufer" einstufte. Das Wort von Günter Gaus, des Freundes von Christa Wolf, von den eher politikfernen "Nischen", wurde in jenen Jahren wohlwollend aufgegriffen.
    Da hatte allerdings jahrelang "Sinn und Form" kaum einen Platz.
    Offenbar erlebte die Zeitschrift in der zurückliegenden Zeit wieder eine erfreuliche allgemeine Auferstehung. Gefragt sind Freiräume für ruhige Literaturbetrachtung, ohne vorschnelle ideologische Verdächtigungen und Aufgeregtheiten.

    Ettore Ghibellino bekommt jetzt nach mehr als zehn Jahren Unterstützung.


    Der Literaturwissenschaftler Jörg Drews (1938-2009), der sich unter anderem mit Goethes Zeitgenossen Johann Gottfried Seume und Garlieb Merkel sowie eingehend mit Arno Schmidt befasst hatte, befand bereits in vielem die Ghibellino-These für plausibel (Anna Amalia, nicht Charlotte von Stein sei Goethes große Liebe gewesen), hielt dem italienischen Juristen jedoch vor, im Text bereits immer als sicher vorausgesetzt zu haben, dass die Weimarer Herzogin den Platz in Goethes Herzen eingenommen habe, und sich dadurch manches in der öffentlichen Wirkung verscherzt habe.


    Von seiten der Weimarer Klassik-Stiftung wurde Ghibellino ungewöhnlich schroff abgefertigt. Diese aus wissenschaftlichen Gründen nicht erklärbare Ungerechtigkeit der Weimarer Hüter des klassischen Erbes gegenüber einem enthusiastisch und herzlich schreibenden Autor ließ mich gefühlsmäßig auf die Seite Ghibellinos treten. Jemand, der Anna Amalia ernsthaft als große Liebe Goethes in Betracht zieht, "der liest Goethes Liebesgedichte anders, als wenn er sich ohne Vorsatz auf sie einläßt." (Wilhelm Solms, S. 7)
    Eine Bekannte sagte mir zwar einmal um 2005, sie habe einen Auftritt Ghibellinos in Weimar erlebt, der einen unangenehmen Eindruck bei ihr hinterließ. Doch sollten vor allem solche „Live“-Auftritte solch eine verheerende Wirkung bei seinen Kritikern hinterlassen haben?



    Wilhelm Solms: Das Geheimnis in Goethes Liebesgedichten. Verlag LiteraturWissenschaft.de. Marburg 2014. 176 S. ISBN 978-3-936134-44-5


    Nun tritt also der Literaturwissenschaftler Wilhelm Solms (geb. 1937) auf den Plan, der wie sein Bruder, der FDP-Politiker Hermann Otto Solms, die Titulatur seines Standes abgelegt und bereits 1972 zu Goethes „West-Östlichem Divan“ eine Promotionsschrift vorgelegt hatte.


    Die Frage, welche Frauen Goethe zu seinen schönsten Liebesgedichten inspiriert hätten, sollte in der Diskussion bleiben dürfen. Solms klärt zunächst, dass Annette in der Leipziger Studenten- Zeit nicht bloß leichtfertig gewesen („Buch Annette“), Friederike Brion in Sesenheim den Dichter wirklich geliebt hätte und von ihm verlassen worden sei, die sechzehnjährige „Lili“ Schönemann hätte Goethe tatsächlich eine ideale Partnerin werden können, wie dieser auch selbst erkannte. "Lili wäre eine ihm gewachsene Lebenspartnerin gewesen" (Solms, S. 32), doch Lili hieß Heirat und Heirat hieß Frankfurt.
    „Faustina“ in Rom („Römische Elegien“, „Venezianische Epigramme“, Roberto Zapperi, 1999) und Christiane Vulpius in Weimar sorgten für Goethes sinnlichen Genuss, (die Ehrenrettung Christianes durch Sigrid Damm 2006 wird als berechtigt anerkannt), ohne ihm in geistiger Hinsicht ebenbürtige Partnerinnen gewesen zu sein.


    Solms verhält sich nicht unkritisch zu allen Thesen Ghibellinos: so erkennt er an, - und man müsste annehmen, dass er als Verfasser einer Promotionsschrift zu diesem Zyklus eine begründete Meinung dazu vertreten kann - dass Marianne von Willemer eigene Gedichte zum "West-Östlichen Divan" beigesteuert habe und diese nicht, wie Ghibellino annahm, ebenfalls von Goethe stammten, Marianne nur ein falsches Spiel betrieb, wie etwa später Bettina von Arnim.


    Fortsetzung zum Kern der Auseinandersetzung folgt

    Weiter geht es bei mir:


    Die neue Melusine


    Wahrscheinlich schon um 1782 entstanden, ist Die neue Melusine eine der ältesten Erzählungen in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“. Goethe kannte den aus dem Mittelalter stammenden Stoff schon in seiner Jugendzeit und soll die Erzählung seiner geliebten Friederike Brion in Sesenheim vorgetragen haben.


    Die Melusine knüpft ihre Erwiderung der Liebe des jugendlichen Helden an Bedingungen. Sie vertraut dem jungen, leichtlebigen Barbier ein Kästchen an und stattet ihn mit Geld aus, unter der Bedingung, dass er das Kästchen nicht öffne. Als dieser das Gebot übertritt, durch einen Spalt in das Kästchen schaut und seine Geliebte darin in Zwergengestalt erblickt, verzeiht sie ihm dennoch, stellt aber neue Bedingungen: er solle seine Entdeckung nicht in abwertender Gestalt mitteilen, sich loser Reden und des maßlosen Trunkes zu enthalten suchen.
    Der Held erfüllt auch diese Bedingungen nicht, wird von der Melusine jedoch trotzdem auf Zwergengestalt gebracht und mittels Wunderring ins Reich der Gnome verfrachtet. Nur durch die Flucht kann er sich entziehen (wie Goethe 1786 aus Weimar nach Italien).
    Während in den mittelalterlichen Melusine-Erzählungen die Heldin ihren Ritter auf den von Gott gewiesenen Pfad der Tugend bringt, zeigt Goethe, dass wahre Liebe nicht an Bedingungen geknüpft werden kann, sein Held setzt sich über sie hinweg und dringt dennoch weiter vor, dem Ziel seiner Wünsche entgegen.
    Obwohl er erwiesenermaßen ein Leichtfuss ist, ist die Not im Zwergenreich offenbar so groß, einen neuen König zu erhalten, dass selbst er in die engste Auswahl kommt, wobei die Melusine die Initiative ergreift.
    Ettore Ghibellino meint, dass das Zwergenreich eine Karikatur der adligen Hofgesellschaft sei (J. W. Goethe und Anna Amalia. Eine verbotene Liebe. Weimar 2004, S. 236). Wie der naive Springinsfeld seiner Erzählung nicht seine Melusine erlangen konnte, sei es Goethe verwehrt gewesen, sich mit Anna Amalia zu verbinden, die ebenfalls in den ersten Weimarer Jahren versuchte, den lebenslustigen Erzieher ihres Sohnes Karl August von allzu grobem Betragen und vom Trunk abzubringen.


    Goethes Variante der Schöpfungsgeschichte, wonach Gott zuerst das Volk der Zwerge erschaffen habe, fand meines Wissens gar nicht mehr den Widerstand zeitgenössischer christlicher Theologen, wie sie sich insgesamt kaum noch zu Goethes Alterswerk äußerten. Der Kommentator Erich Trunz, der eingangs die Vorbildhaftigkeit der Josephs-Familie hervorhob, übergeht dafür die Goethesche Parodie der Schöpfungsgeschichte weitgehend mit Schweigen (HA, Bd. 8, S. 650-652) und spricht nur an einer Stelle rätselhaft von einer „schelmische(n) Kosmologie“.
    Um 1829 befand sich die Geistlichkeit bereits im vollen Rückzug, von einer wörtlichen Auslegung der Schöpfungsgeschichte mit Adam und Eva als handelnden Personen, die sich den Zorn Gottes einhandelten, konnte zumindest in den großen Volkskirchen keine Rede mehr sein.


    "Solche Rückzüge liegen heute seit Jahrhunderten hinter uns. Christen sahen sich durch Zweifel am tatsächlichen Charakter ihrer Berichte bedrängt; ihre Verteidiger haben den Glauben systematisch gegen Erfahrungsargumente immunisiert; dazu haben sie ihn verdünnt und spiritualisiert. Jetzt auf einmal hat Gott die Welt doch nicht in sechs Tagen erschaffen ... Die Kunst mancher Theologen besteht darin, Formulierungen zu erfinden, denen man nicht leicht anmerkt, daß Eva nicht aus der Rippe gebildet und daß das Grab nicht leer war."
    Kurt Flasch: Warum ich kein Christ bin. München 2013, S. 84.


    Gott hat zuerst die Zwerge erschaffen? Konsistorialpräsident Herder hätte den Spass bestimmt mitgemacht bzw. stillschweigend geduldet.

    Ich bin jetzt ein bißchen verlegen, denn ich hätte selbst erkennen können, dass es sich hier um einen Fall von "Liebhaberei" handelt, die neue Leseerlebnisse beschert, :smile: und nicht etwa um ein "Auftragswerk". Die Freude an neuen Entdeckungen sollte durch meine chronologische Beckmesserei nicht geschmälert werden.


    Indes sei auch angemerkt, dass ich ungefähr mit dem Revolutions-Jahr 1830, dem Ende der "klassischen Periode", die Goethe erlebte, und der Zeit der Handlung der "Epigonen" Immermanns, auch die Zeit in der Entwicklung der Literatur im 19. Jahrhundert verlasse, zu der ich hier in Leserunden und Diskussionen noch etwas beisteuern könnte (vielleicht mit Ausnahme Fontanes oder der russischen Literatur).

    Hallo, finsbury,


    Du wirst am besten wissen, wohin Dich die Recherchen zu Deinem Projekt treiben. Was ich mich die ganze Zeit über frage, ist die Abgrenzung der "industriellen Revolution" bei Deinem Thema von der "Industrialisierung" allgemein, die in Mitteleuropa insgesamt vor allem mit dem 19. Jahrhundert verbunden ist.


    Wir hatten früher gelernt: industrielle Revolution, das ist vor allem der Zeitraum zwischen 1760 und 1830. James Watts Dampfmaschine findet ihren Einsatz im Bergbau, später auch bei der Personen- und der Güterbeförderung auf Schienen sowie in der Landwirtschaft.


    Diese chronologischen Erwägungen mögen Dir vielleicht als chronologische Abgrenzungsversuche profaner Historiker erscheinen, die mit Literatur nicht viel am Hut haben.


    Bei unserer Leserunde zu Goethes "Wanderjahren"" (bei der ich weiter machen will) kam mir vor allem in den Sinn die um 1980 ausgearbeitete "Protoindustrialisierungs"-These von Schlumbohm, Kriedte, Medick: In Gebirgsgegenden, die für die Landwirtschaft nicht so gut geeignet sind, kann das zunächst für die Region bestimmte Gewerbe so ausgebaut werden, dass Exportgewerbelandschaften entstehen. Das wäre dann die für die deutschen Territorien geltende Entsprechung für in England eher einsetzende Entwicklungen.


    Wo willst Du chronologisch bei Deinem Projekt den vorläufigen Schluss setzen? Das mag jetzt für Literaturliebhaber alles ziemlich nüchtern-unpoetisch daherkommen.

    Auch finsbury hat in einem anderen Thread angekündigt, bei Immermanns "Epigonen" mitmachen zu wollen:


    Zitat

    Was übrigens Immermanns "Epigonen" angeht, hättest du in mir sofort einen Mitleser! Es ist über dreißig Jahre her und eine besondere Leseerfahrung in meinen jungen Studienjahren, die mir diesen, literarisch nicht so hoch stehenden, aber hochinteressanten Roman wert hält.

    Hallo finsbury,


    durch die "Wanderjahre" bist Du nun durch, und sie haben Dir in manchem offensichtlich doch Neues gebracht. Dass Du es vor allem auf fiktionale Texte zur industriellen Revolution abgesehen hast, war mir schon klar geworden, ich wünsche Dir dabei viel Erfolg, vielleicht findest Du noch mehr, vielleicht sogar bisher Übersehenes.
    Die "Epigonen" Immermanns kennst Du wiederum schon, ich nicht, will mal sehen, ob eine Leserunde dazu im Herbst zustande kommen wird.


    Wie angekündigt, stelle ich in einigen Tagen weitere Beobachtungen zu den "Wanderungen" hier ein, bisher hat mir die Lektüre viel Neues gegeben. Ich habe noch einmal in meinen Tagebüchern geblättert: als ich sie zum ersten Mal las, war das sogar 1976, ich war noch sehr jung, fühlte mich aber von diesen Stimmungsbildern vom Aufbruch der Wanderer schon damals hingerissen.
    In einer dreiviertel Stunde liegt der Tag des Beginns dieser Leserunde einen Monat zurück. :smile:


    Dass Goethe noch einen Teil des "Wilhelm Meister" vorgesehen haben sollte, kann man sich angesichts seiner 80 Jahre im Jahr der Ausgabe von 1829 kaum noch vorstellen: er hätte dann offensichtlich in der "Neuen Welt" spielen müssen, über die er sich zwar kundig gemacht hatte. Aber die "Neue Welt", das war die Zukunft auf einem anderen Erdteil, wo die Grenzen des alten Europa weggefallen waren, in Amerika zugleich aber neue Anforderungen auf die Wanderer zugekommen wären, die Goethe kaum hätte überblicken können.

    In den Kommentaren der "Hamburger Ausgabe" wird darauf hingewiesen (HA, Bd. 8, S. 649), dass Goethe in diesem Kapitel vor allem auf das Vorbild der Schweizer Hausindustrie zurückgriff. Im April 1810 hatte er seinen Schweizer Freund Heinrich Meier gebeten, ihm eine Darstellung über die Spinnerei und Weberei zu liefern. Dessen Manuskript ist im Weimarer Archiv vorhanden. Goethe hat sich daran gehalten, jedoch aus dem von Meier geschilderten Beruf des "Garnträgers" gleich eine literarische Figur gemacht.


    Im Zusammenhang mit der Schweiz:
    Bei diesem Kapitel über die gewerbliche Produktion im Gebirge fiel mir jedoch noch etwas anderes ein, das Dich, finsbury, bei Deinen Studien über Protoindustrialisierung vielleicht interessieren könnte. Der Schriftsteller Karl Victor von Bonstetten (1745-1832), der ungefähr die Lebensdaten Goethes hatte, lieferte 1782 eine interessante Beschreibung der Käseherstellung in der Schweiz, die ich einmal vor Jahren gelesen habe. Darin schildert er den Übergang von der Produktion auf dem Bauernhofe zum Exportgewerbe. Durch dieses wiederum wurden in der Folgezeit etliche kleinere Höfe zerstört, nur die größeren Betriebe überlebten. Heute ist Schweizer Käse, ohne Frage, weltberühmt. Bei Goethe gibt es in den Schweizer Reiseaufzeichnungen einige entsprechenden Hinweise. Ob aber jemals ein Schweizer diese Prozesse literarisch bearbeitet hat :?:


    Über diese Schrift von 1782 und die entsprechenden Zusammenhänge gibt Aufschluß die Biographie:


    Stefan Howald: Aufbruch nach Europa. Karl Viktor von Bonstetten 1745-1832. Leben und Werk. Basel u. a. 1997.


    http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Viktor_von_Bonstetten


    Hier nun auch das sehr anerkennende Urteil Goethes über den gelehrten Bonstetten. Die bis in die Gegenwart fortgeführten "Bonstettiana" sind eine sehr verdienstvolle Briefsammlung mit tausenden
    Adressaten jener Zeit, eine Fundgrube.


    In meinem nächsten Beitrag, der wohl noch einige Tage warten muss, soll es um die "Neue Melusine" gehen.

    finsbury

    "Gibt es eine Untersuchung, dass Goethe insbesondere von Frauen gelesen wurde?"




    Angesehen davon, dass das aufgrund der Quellenlage nur schwer zu ermitteln sein dürfte: Bisherige Studien haben vor allem Frauen ins Visier genommen, die selbst schriftstellerisch tätig waren. Das waren etwa Charlotte von Stein, Marianne von Willemer und Bettina von Arnim in der Studie von:




    Markus Wellenborn: Frauen. Dichten. Goethe. Tübingen 2006.




    Die Wirkung der "Wanderjahre" jedoch, 1821 bzw. 1829 erschienen, hat erst, wenn überhaupt, nach Goethes Tod eingesetzt. Die schriftstellernden Frauen waren sicher nicht jene, die sich Fragen nach der Herkunft ihrer Kleiderstoffe gestellt haben.
    Aus den "Betrachtungen im Sinne der Wanderer" selbst hatte ich entnommen, dass der Schriftsteller in erster Linie für sich selbst schaffe, weniger ein bestimmtes Publikum vor Augen haben solle. Für den greisen Goethe dürfte das bestimmt zugetroffen haben - und die "Wanderjahre" stießen in eine Leere, aktuelle soziale Fragen wurden nunmehr von der Vormärzliteratur aufgegriffen.

    Lenardos Tagebuch II


    Aber die Schilderung dieser Gebirgsreise wäre wirklich ungenießbar, würde Goethe nicht auch eindrucksvolle Naturschildungen einfügen und dadurch einen Kontrast zum Innern der Handwerksstuben liefern,
    Eindrücke von der Landschaft und dem unendlichen Himmel über den Menschen, die vor allem Bilder von der Dunkelheit, der tiefen Nacht, schließlich vom Schwinden der Nacht und dem Aufgehen der Sonne vor dem inneren Auge des Lesers erzeugen:


    „Tief in der Nacht“ (HA, S. 338); „Wanderung durch die herrlich klare Nacht“ (HA, S. 346);
    „…früh vor Tage aufgebrochen und genossen einen herrlichen verspäteten Mondschein“ (HA, S. 346)


    Bei der „hervorbrechenden Helle“ mag man an die Eingangsszene zu „Faust II“ erinnert sein:


    „Die Sonne tönt nach alter Weise
    In Brudersphären Wettgesang“


    (und an den Deutschunterricht in der 9. Klasse, als der auch im Äußeren an Goethe gemahnende Lehrer die Klasse betrat und eine ganze Stunde der Zeile „Die Sonne tönt nach alter Weise“ und der Vorstellung von einer Sphärenmusik der Gestirne widmete)


    Ich dachte an die „Zwei Männer“ Caspar David Friedrichs (1774-1840), die den Mond betrachteten, manche mögen andere Bilder vor Augen haben.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Z…in_Betrachtung_des_Mondes


    (ganz hübsch die Bemerkung Friedrichs hier: „Die machen demagogische Umtriebe“ – 1819 Karlsbader Beschlüsse, als das Bild entstand :smile:)


    Zwar hatten Goethe und Heinrich Meyer (Kunschtmeyer) 1805 in Weimar dem in neoklassizistischer Malerei ausgebildeten Künstler einen Preis verliehen. 1810 kam es zu einer ersten persönlichen Begegnung zwischen Goethe und Caspar David Friedrich. Doch der Kontakt lockerte sich wieder, denn Goethe hatte kein Verständnis für die Malerei der Romantik.
    Für den heutigen Betrachter dürfte es freilich eher nebensächlich sein, dass Goethe dem Neoklassizismus, Friedrich der Romantik anhing.


    Lenardo war doch auf der Suche nach dem „nußbraunen Mädchen“, das sollte über all den biedermeierlichen Spinnstuben nicht vergessen werden.

    Fünftes Kapitel


    Lenardos Tagebuch
    Das ist nun eine bis ins Detail gehende Schilderung der viertägigen Reise Lenardos in die vom Textilgewerbe geprägte Gebirgslandschaft. Wenn Goethe das Spinnen und Weben bis ins Einzelne schildert und dabei behaglich mehrere handwerkliche Fachausdrücke anführt und erläutert -


    "Garnträger" (HA, S. 339), "die Karden, welche in Deutschland Krempel heißen" (HA, S. 341), "Rädligarn", "Briefgarn" (HA, S. 341), "das Brittli", "die Rispe" (HA, S. 346), "das Aufwinden" (HA, S. 348), "Schienen", "Blatt in der Lade", "Flügel des Geschirrs" (HA, S. 349). "dämmen" (HA, S. 350) und mehr -


    so ist damit die Geduld der an ästhetisch anspruchsvoller Gestaltung interessierten Leser aufs Äußerste strapaziert. Man könnte darüber hinweg lesen, wenn man sich nicht mit Textilproduktion in handwerklicher Heimarbeit befassen will, die bereits jetzt durch das "Maschinenwesen" bedroht wurde.


    Indes scheinen mir in Lenardos Tagebuch mehrere Momente zum Tragen zu kommen.


    - Goethe zeigt bis zu der Konsequenz, wie er sich selbst und seine Romanhelden auf das "Objektive" werfen, auf das tägliche Tun und Handeln, dass er den Preis einkalkulieren muss, in seiner Schilderung sei nicht mehr eine Romanhandlung erkennbar, sondern sie stelle nur noch eine trockene Beschreibung von Produktionsabläufen dar, wie man sie in Diderots Enzyklopädie oder ihrer deutschen Entsprechung, im Johann Georg Krünitz (242 Bände von 1773 bis 1858), nachlesen konnte.


    - Und jetzt ist es ihm gleich, ob er damit Leser vergrault. Er weiß ohnehin, dass nur wenige den von ihm gelegten Spuren weiter folgen werden - wie hier in der Leserunde auch - und sein Anliegen zu würdigen wissen. Er schreibt jetzt vorwiegend für sich, kaum mehr für ein Tagespublikum.


    - Denn er kann sich bestätigt fühlen, dass er all diese Mitteilungen über „Rädligarn“ und „Rispen“ aus eigener Anschauung kennengelernt und nicht Lehrbücher abgeschrieben hat. 1779 beschäftigte ihn das Schicksal der hungernden Strumpfwirker im thüringischen Apolda, wie sollte er unter diesen Bedingungen an seine „Iphigenie“ denken!


    Ich habe auch sehr alte Männer kennengelernt, die ihnen lieb gewordene Dinge bis in alle Einzelheiten schilderten. Sie beweisen sich damit, dass sie das alles bis ins hohe Alter behalten haben. Die Jugend mag eher schwärmen und sich stimmungsvollen Betrachtungen über allgemeine Eindrücke hingeben.

    Und dieser Teil über Amerika zeigt dann auch die Hoffnungen und Illusionen, die mit dem Kontinent "über dem Meere" (HA, S. 330), jenseits des Ozeans verbunden waren, "wo gewisse menschenwürdige Gesinnungen sich immerfort steigern". Goethe war nicht unbedingt gegen die Todesstrafe, seine Beteiligung am Zustandekommen von Todesurteilen in seiner Ministerzeit wird diskutiert.


    Seine Auswanderer hätten sich in Nordamerika im Falle des Gelingens der Übersiedlung unter Verhältnissen wiedergefunden, die vierzig Jahre später zum Bürgerkrieg führten.
    Und noch in unseren Tagen polarisieren die Todesstrafe und die in vielen Filmen thematisierten Zustände in den amerikanischen Gefängnissen die Gesellschaft.