Jean Paul: Des Luftschiffers Gianozzo Seebuch

  • Die vierte und fünfte Fahrt habe ich jetzt auch absolviert.
    Während der vierten Fahrt macht sich Gianozzo über die Verführer der mehr oder weniger Unschuldigen lustig, die fünfte ist wieder ein Höhepunkt, insofern als Gianozzo ein Szenario für ein Galgenjubiläum vorlegt, wo er wieder seine Häme -wie JP es immer gerne tut - über die Verbrecher, die im Gewande der Bürgerlichkeit und des Adels daherkommen, ausschüttet: die Spekulanten, die Raubdrucker - die JP als Schriftsteller natürlich immer wieder besonders auf dem Kieker hat - und die Spieler.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

    Einmal editiert, zuletzt von finsbury ()

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "finsbury"

    Wie Gina glaube ich, dass sich der Schwarzkopf auf die schwarzen Haare bezieht und damit auf die romantisch-italienische Abkunft unseres Luftschiffers. Vielleicht war das ja sogar im 18./19. Jahrhundert eine typische Bezeichnung für Menschen mit mediterranem Einschlag.


    klingt plausibel :winken:
    Gian / Giovanni = Johann / Hans oder im franz. "Jean" !


    Und nun weiß ich auch woher der Name Leibgeber stammt :zwinker:



    Zitat von "Gina"

    Besonders gut gefallen mir die Passagen, in denen Jean Pauls Humor aufblitzt wie bei der Beobachtung der Tanzkolonne und vor allem der Krötenorden ... köstlich!



    Ja, da kam der Schalk zutage.


    Seine Geburt fiel ja auf die Tag- und Nachtgleiche, 21.3.. So meinte wohl Jean Paul, dies steht in Beziehung zu seinem Doppelstil, humoristisch-satirisch und pathetisch-sentimental. (Günter de Bruyn. Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter).


    Bei der 3. Fahrt gibt es statt Schalk eher Segen, zumindest gibt er eine Geldzuwendung für die Dorfgemeinschaft "Dorf".


    Gruß,
    Maria





    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • Seine Geburt fiel ja auf die Tag- und Nachtgleiche, 21.3.. So meinte wohl Jean Paul, dies steht in Beziehung zu seinem Doppelstil, humoristisch-satirisch und pathetisch-sentimental. (Günter de Bruyn. Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter).


    Hast Du die Biographie schon gelesen oder liest Du sie gerade?



    Bei der 3. Fahrt gibt es statt Schalk eher Segen, zumindest gibt er eine Geldzuwendung für die Dorfgemeinschaft "Dorf".


    Diese Zuwendung hat mich etwas überrascht. Ein so großer Menschfeind, wie ich erst dachte, ist Giannozzo doch nicht. :zwinker:


  • Während der vierten Fahrt macht sich Gianozzo über die Verführer der mehr oder weniger Unschuldigen lustig, ...


    Die vierte Fahrt fand ich sehr unterhaltsam mit den Wortspielen, auch der Beschreibung Fahlands und Giannozzos Verfolgungsfahrt mit dem unrühmlichen Ende, als er mit seinem Luftschiff steckenbleibt. Interessant ist, dass sein Gefährt ausgerechnet "Siechkobel" heißt - so nannte man ja Aussätzigenhäuser ...


    Dass Giannozzo keine Vergnügungsreise macht, zeigt die fünfte Fahrt.



    ... die fünfte ist wieder ein Höhepunkt, insofern als Gianozzo ein Szenario für ein Galgenjubiläum vorlegt, wo er wieder seine Häme -wie JP es immer gerne tut - über die Verbrecher, die im Gewande der Bürgerlichkeit und des Adels daherkommen, ausschüttet: die Spekulanten, die Raubdrucker - die JP als Schriftsteller natürlich immer wieder besonders auf dem Kieker hat - und die Spieler.


    Seine Darstellung der Prozession und der gesamten "Jubelveranstaltung" ist teilweise ganz schön böse und zum Abschluss noch die überaus tröstenden Worte des Galgenpaters ... Ich bezweifle, dass die den Galgenkandidaten geholfen haben; tiefschwarzer Humor. :breitgrins:

  • Beim Abflug zur sechsten Fahrt lässt Giannozzo seinen Jubelplan über der Prozession hinunter, was alles gehörig durcheinanderbringt, und segelt davon. Während der Weiterfahrt wird er wehmütig, “ein giftiger Stechapfel von Schmerz”. Er verdrängt den Schmerz, wieder ganz der Alte. Während er schläft, strandet er am Brocken. Im Haus dort hinterlässt er in einem Buch eine “Vorrede des Teufels”. Sehr bildhaft die Beschreibung, als er wieder ins Freie tritt! Dort hat er dann eine Erscheinung, “der Nachtwandler im Hemde”. Weiß jemand, was es damit auf sich hat??

  • Es tut mir sehr leid, aber ich steige aus der Leserunde aus.


    Ich habe zwei Fahrten gelesen und mir bei jedem Satz gedacht: Wie viel Alkohol muss der gute getrunken haben beim Schreiben?! Ich verstehe absolut nur Bahnhof und ich habe leider keine Muße mich näher damit auseinander zu setzen.


    Euch wünsche ich noch viel Spaß beim Lesen :winken:


  • Dort hat er dann eine Erscheinung, “der Nachtwandler im Hemde”. Weiß jemand, was es damit auf sich hat??



    Der Nachtwandler im weißen Hemd ist sein Freund Schoppe, eine Figur aus dem Titan. Das nur mal als Zeichen dafür, dass ich mitlese und -leide im Siechkobel. Liege mit einem Infekt darnieder und war bisher nicht in der Lage, mich hier einzubringen. Habe aber die ersten sechs Fahrten gelesen. Sobald es mir besser geht, mehr...

  • Gontscharow
    Auch von mir gute Besserung!


    Jaqui
    dieses Gefühl kenn ich, denn ich versteh oft nur Bahnhof.


    was mich am Ball bleiben lässt, zumindest bei den kürzeren Werken, ist, dass ich oftmals an Heimito von Doderer erinnert werde, wenn er spöttisch und satirisch wird und wenn er Menschen schildert auch an Dickens. Auch wenn es jetzt seltsam klingt.


    @Gina
    ich habe mit der Biographie begonnen, bin aber noch nicht weit.


    Interessant was über den Aberglauben dort gesagt wird, dass Jean Paul diesen nicht ablegen konnte, er fürchtete sich vor Gespenster, obwohl man anderes hätte erwarten können. In seiner Zeit fielen die geistigen Bewegungen der Aufklärung, des Sturm und Drang, der Klassik, der Romantik.


    Die 4. Fahrt fand ich sehr kraftvoll in seiner Wut!


    Ich komme zur 6. Fahrt.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • O ja, ich kann gut verstehen, dass du nicht den Einstieg findest, Jaqui, wenn es auch sehr schade ist. Auch ich habe diesmal Schwierigkeiten, weil ich eigentlich nur spätabends im Bett zum Lesen komme, und da wirkt JP im Moment leider sehr sedierend. Ich erwache dann eine Stunde später mit dem Büchlein vor der Nase und kann es nur beiseitelegen und weiterschlafen ... :sauer:.


    So bin ich immer noch im Brockenkapitel, der sechsten Fahrt, obwohl mir dieses gut gefällt. Erstmal sind der Brocken und der Harz insgesamt ja wichtige Topoi in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts (z.B. Heine, Andersen). Und die Hexen und Teufel spielen dabei natürlich eine wichtige Rolle. Die Rede des Teufels ist wieder voll von Hieben gegen Heuchler, insbesondere die künstlich Begeisterten. Ich denke, hier haben wir einige Anspielungen auf die romantisch verklärten Freizeitpoeten vor uns.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Maria
    Ich hätte auch nicht gedacht, dass Jean Paul abergläubisch war. Mit seinem kritischen Blick wirkt er so aufgeklärt, fast modern - da passen Gespenster nicht recht ins Bild.


    Die Biographie habe ich auf der Leseliste, aber dieses Jahr wird es wohl nichts mehr.

  • Heine und Goethe kamen mir auch sogleich in den Sinn bei der 6. Fahrt.


    Es hat teilweise eine nachdenkliche Stimmung:


    Der Nebel der alten Zeiten tat sich auf, und ich sah darin unten auf der weiten Ebene die unzähligen Scheiterhaufen glühen, welche bloß Unschuldige zernagten.


    Auch hierbei gibt die Biographie von de Bruyn einen interessanten Gedanken, dass die letzte Hexenverbrennung in Deutschland 1775 statt fand, da war J. P. 12 Jahre alt. Wenn hier auf Anna Schwegelin hingedeutet wird, dann wurde diese Erkenntnis 1998 korrigiert, (die Biographie ist von 1975), denn sie wurde zwar verurteilt, aber doch nicht verbrannt. Dennoch läutete ihr Fall das Ende der Hexenverfolgung ein. Eindruck machte es sicher auf Jean Paul.


    Ich finde die Zeitepoche in der Jean Paul hineingeboren wurde wirklich bezeichnend, zur Zeit seiner Geburt war Preußen auf dem Höhepunkt seiner Macht, als er starb war Karl Marx schon geboren!


    Und dazwischen Aufklärung und Aberglaube mit denen sich Jean Paul auseinander setzte.


    Wie findet ihr diesen Satz..." und das Ich sagte zu sich selber: ich bin gewiß der Teufel; schrieb ich nicht vorhin? -" (6. Fahrt)


    Ich finde, das ist überrascht modern gedacht für die damalige Zeit über das Ich-Bewußtsein nachzudenken, oder?


    Gruß
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • Wie findet ihr diesen Satz..." und das Ich sagte zu sich selber: ich bin gewiß der Teufel; schrieb ich nicht vorhin? -" (6. Fahrt)
    Ich finde, das ist überrascht modern gedacht für die damalige Zeit über das Ich-Bewußtsein nachzudenken, oder?


    Ja, das finde ich auch. Wobei ich allgemein bei Jean Paul viele Zeichen dafür finde, dass er an psychologischen Einsichten seiner Zeit weit voraus war. So gibt es in seinen großen Romanen ja immer diese Doppel-Freundespaare, die zwei Seiten einer Persönlichkeit veranschaulichen. Und dass gerade dieser zynische Gianozzo in sich auch den Teufel sieht, scheint folgerichtig, allerdings nicht den Teufel nach naiv-christlichem Glauben, sondern eben den aufdeckenden und sezierenden Teufel.
    Übrigens möchte ich nochmal an eure Diskussion unten zum Geist am Ende der sechsten Fahrt anknüpfen: Könnte mit dieser Gestalt nicht auch eine zwar vom Autor erdachte, aber als real anzunehmende Person in Gestalt eines verwirrten Gastes gemeint sein, der sich von der Brocken-Romantik mit seinen Teufeln und Hexen zu einem Veitstanz verleitet sieht? Gianozzo sagt ja auch:

    Zitat von Ende der sechsten Fahrt

    Endlich rannt er, die Arme emporgehoben, davon. Mich schauderte dieses tragisch-komische Konterfei und Fieberbild des Lebens und die äußere Nachäffung meiner Gedanken.


    Das klingt doch eher danach, dass er in diesem verwirrten Touristen noch einmal abschließend seine Ausführungen zu den Leuten, die sich im Harz enthemmen und dabei unechter Lyrik und ebensolcher Gefühle entäußern, personalisiert.


    Während der siebten Fahrt könnte man wieder an Jean Paul, den Idylliker denken, ebensogut kann er aber hier die Italien-Sehnsucht der Deutschen durch den Kakao ziehen. Dann scheint dieses Kapitel in einer echten Idylle über den kleinen deutschen Fürstentümern zu enden, aber immer wieder gebrochen durch die drohenden Dunkelheit, die den Luftschiffer in immer größere Höhen treibt ... .


    Bei der achten Fahrt nun wird Gianozzo von den noch immer erbosten Mülanzern inhaftiert und eingekerkert. In diesem Kapitel wie an den Zeiten und den dabei zurückgelegten Reisestrecken der vorherigen und nachfolgenden Fahrten sieht man, dass physikalische Gesetzmäßigkeiten hier keine Rolle spielen. Gianozzo sprengt sein Kerkergelass während eines Gewitters, bläst seinen Ballon - womit auch immer - durch das (Kerker)fenster auf und entfleucht dann mit dem Korb, der noch in dem Raum steht, - wie auch immer.
    Aber abgesehen von den physikalischen Unhaltbarkeiten ist das ein sehr moderner Abschnitt, der die Hast der Handlung in den atemlosen Nominalaufzählungen sprachlich nachgestaltet.


    Frech ist auch der Angriff mit der Marseillaise auf die Festung Blasenstein während der neunten Fahrt: Hier wird - wie oft bei JP - die Angst der deutschen Fürsten vor einem Überschwappen der Revolution karikiert.


    Und nachdem diese Ängste auf die Schippe genommen wurden, widmet sich die zehnte Fahrt den Wünschen der deutschen Produzenten und Händler: Gianozzo stellt hier in einer Rede vor, wie aus den Menschen und aus dem Land noch das Letzte zum ewigen Zwecke des Gelderwerbs zu quetschen wäre.


    Nun halte ich vor der kurzen elften Fahrt und frage mich aufgrund einiger Beschreibungen der eigentlichen Ballonfahrten: Ist JP wohl selber einmal aufgestiegen? Da meine Lektüre der Biografie von Günter de Bruyn länger zurückliegt, Maria, hast du dazu schon etwas gelesen?

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich habe das Büchlein inzwischen beendet. Am Ende wird auch die Geistererscheinung in der sechsten Fahrt aufgelöst.


    Die siebte Fahrt habe ich als Idylle gelesen und die schöne Sprache genossen. :smile:


    Kommt Giannozzo im Titan selbst eigentlich auch vor, vielleicht unter einem anderen Namen? Oder taucht er tatsächlich nur im Anhang auf?
    Ich hätte gerne mehr gewusst über sein Leben und die Umstände, die zu dieser Reise geführt haben. Auch wenn Giannozzo alles von oben beobachtet und immer wieder landet, um für Wirbel zu sorgen, wirkt er auf mich wie ein früher Aussteiger. Die Welt, in der er lebt, ist ihm zu eng und zu engstirnig, er hält es auf der Erde nicht aus und findet nur in der Luft genug Raum. Gleichzeitig fühlt er aber auch die Einsamkeit, die dieses Leben mit sich bringt.

  • Das fiel mir auf der 7. Fahrt auch auf, dass die Einsamkeit und die Kälte ihm dann doch wieder zu schaffen macht.


    Passend dass es ihn in den Süden, nach Italien führt. Reiseziel der meisten Schriftsteller zur damaligen Zeit.


    Dieser Satz berührt:


    Aber der Erdengreuel hatte durch ein giftiges Fieber meine Herzensmuskeln gelähmt; und ich senkte mich erschöpft tiefer der Wärme entgegen und ließ, von Grimm und Wachen matt, die vergeblichen Augen unter ihre Augenlider kriechen


    finsbury.
    Ich werde darauf achten und berichten, sollte ich in der Biographie noch etwas über Ballonfahrt und JP finden.


    Ich hinke hinter euch zurück.


    Liebe Grüße,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Ups, nun ist passiert, was ich befürchtet hatte, Ihr seid (fast) durch und ich komme mit meinen Kommentaren zu spät. Ich poste trotzdem mal, was ich vor einpaar Tagen begonnen habe zu schreiben:


    Zwar immer noch nicht ganz genesen, möchte ich eine halbwegs klare Phase zum Posten nutzen, bevor Ihr mit dem Luftschiffer durch und auf und davon seid.
    Es ist Pferdearbeit, einen Sterne, einen J. Paul zu lesen(Vischer,Ästhetik 1858) im Vergleich zur Hesperus -Lektüre finde ich es diesmal- trotz Fieber und Brummschädel- bedeutend einfacher, was an der additiven Form des Werks, den quasi in sich abgeschlossenen kurzen Kapiteln liegen mag.


    Zum derzeitigen Lesestand:


    Zitat von finsbury

    Erstmal sind der Brocken und der Harz insgesamt ja wichtige Topoi in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts


    Zitat von maria

    Heine und Goethe kamen mir auch sogleich in den Sinn bei der 6. Fahrt.


    Ja, das Brocken- Kapitel mit seiner Schauerromantik weckt allerlei Reminiszensen. Im Goethezeitportal gibt es unter der vielversprechenden Rubrik Orte kultureller Erinnerung ein schön gemachtes Kapitel über den Brocken wo allerlei erklärt wird, z.B. auch das Phänomen des Brocken-Gespenstes, und Literaten Erwähnung finden, die dort waren bzw am Mythos Brocken mitgestrickt haben. Jean Paul mit seinem Giannozzo ist, soweit ich sehe, nicht dabei. Mir völlig unverständlich!


    Apropos Gespenst/ Gespensterglauben:


    Zitat von Maria

    Interessant was über den Aberglauben dort gesagt wird, dass Jean Paul diesen nicht ablegen konnte, er fürchtete sich vor Gespenster, obwohl man anderes hätte erwarten können. In seiner Zeit fielen die geistigen Bewegungen der Aufklärung, des Sturm und Drang, der Klassik, der Romantik.


    Zitat von gina

    Ich hätte auch nicht gedacht, dass Jean Paul abergläubisch war. Mit seinem kritischen Blick wirkt er so aufgeklärt, fast modern - da passen Gespenster nicht recht ins Bild.


    Von Aberglauben würde ich nicht sprechen, weil der Begriff die Existenz eines allgemein anerkannten, allein seligmachenden Glaubensinhalts voraussetzt .J.P.s Vorliebe für und Furcht vor Geistererscheinungen steht auch nicht unbedingt im Gegensatz zu seinem modern anmutenden Skeptizismus. Am Ende des Spuks auf dem Brocken heißt es:Mich schauderte dieses tragisch-komische Konterfei und Fieberbild des Lebens und die äußere Nachäffung meiner Gedanken. Geistererscheinungen sind für J.P. also eher Produkte , quasi nach außen gestülpte Teile der eigenen Psyche. Auch Dein Zitat, Maria geht ja in die Richtung:


    Zitat von maria

    Wie findet ihr diesen Satz..." und das Ich sagte zu sich selber: ich bin gewiß der Teufel; schrieb ich nicht vorhin? -" (6. Fahrt)Ich finde, das ist überrascht modern gedacht für die damalige Zeit über das Ich-Bewußtsein nachzudenken, oder?


    Ja , das mutet „modern" an,besonders auch die Selbstverständlichkeit und Beiläufigkeit, mit der der Teufel zu einem Teil des menschlichen Innenlebens deklariert wird. Was das Giannozzio'sche Brockengespenst angeht, so tanzt es - dem Ort gar nicht angemessen - Menuett, ihm wächst ein Zopf, es schickt sich an zu minaudieren – eine Karikatur des verhassten „ancien regime“ !?


    Weiter bin ich dann damals nicht gekommen, habe aber inzwischen bis zur neunten Fahrt weitergelesen. Ich mach mal da weiter:

    Zitat von finsbury

    Frech ist auch der Angriff mit der Marseillaise auf die Festung Blasenstein während der neunten Fahrt



    Ja, frech ist der richtige Ausdruck.Ich muss sagen, dass mir das Büchlein wegen solcher Stellen außerordentlich gut gefällt.Unfassbar, dass es so wenig bekannt ist.Ich kannte es nicht mal dem Namen nach.Dabei steht es als Satire auf die politisch sozialen Zustände am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in der deutschen Literatur sicher allein und einmalig da! Nicht nur die Kleinstaaterei,Duodezfürstentümer, die man bei einmal Wasserlassen überfliegen kann, werden aufs Korn genommen, auch die höfisch provinzielle Gesellschaft, das spießige Bürgertum, die lauen Aufklärer kriegen ihr Fett weg. Jean Paul nennt seinen Giannozzo zwar irgendwo einen Mysanthropen. Aber ist jemand , der wie er Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Unterdrückung anprangert, nicht eher ein Menschenfreund?
    [quote= Jean Paul, Giannozzo, 2. Fahrt] Schon drunten war ich oft imstande, tagelang die Stube auf- und abzulaufen und die Faust zu ballen, wenn ich [... ]über Ungerechtigkeit und Aufblasung reflektierte und mir die greuliche Menge der Schnapphähne und der Krähhähne vorsummierte, die ich in so vielen Ländern und Zeiten muß machen lassen, was sie wollen, [...] ungestraft saugen, stechen, stoßen und rupfen; – wie sie[...] sogar den Schrei des Menschenschmerzes in das Brüllen einer wilden Tierstimme verkehren?[/quote]


    Klingt das nicht fast nach "Friede den Hütten ,Krieg den Palästen"? Menschenfreundlich ist auch die bittere Satire auf die Todesstrafe durch Erhängen in der fünften Fahrt.Und dann im siebten „idyllischen“ Kapitel der Flug über das Schlachtfeld, übersät mit Leichen,(die auch noch gefleddert werden)!Das hat mich sehr beidruckt undan alle möglichen Kriegsschauplätze(auch heutige) denken lassen!Danke @ Maria für die Erwähnung der Scheiterhaufen, die G. vom Brocken aus lodern sieht.Alles was die 'Menschheit schindet, kommt in dem schmalen Band zur Sprache!und lässt den Luftschiffer immer wieder „abheben“ ...Fortsetzung folgt

  • Danke, Gontscharow für deine weiterführenden Ausführungen und den interessanten Link zum Goethezeit-Portal.
    Auch ich habe mittlerweile das Büchlein beendet, das mir gut gefallen hat, weil hier der Satiriker JP den Idylliker bei weitem überwiegt und tatsächlich ein gesellschaftskritisches Werk entstanden ist, das, da stimme ich dir zu, unter den Zeitgenossen JPs seinesgleichen sucht. Ein Zyniker ist ja nun auch ein Mensch, der an der Unzulänglichkeit seiner Mitwelt verzweifelt und damit natürlich auch ein Moralist ist.
    Die dreizehnte Fahrt bietet den Besuch eines weiteren Kurortes und dort noch einmal abschließend die Möglichkeit, dem Adel und den arrivierten Bürgerlichen ihre Indolenz und Unfähigkeit im Spiegel der böhmischen Hochzeit vor Augen zu führen.
    Das Ende Gianozzos dann ist wieder eine Feier für den Genießer Jean Paulischer Verschränkung von Kritik und geradezu hymnischer Naturschilderung: Ein Schlachtfeld übertönt ein herannahendes Gewitter, beide sowohl Vorausdeutungen auf den Tod des Helden als auch Gipfel je der Kritik, die hier bitter und völlig unsatirisch daherkommt und der Naturschilderung, die im Unfall Gianozzos zwischen zwei Gewitterfronten endet, wohlgemerkt im Angesicht des arkadisch geschilderten Zieles, der gebirgigen Schweiz. Diese ist vielleicht in zweifacher Hinsicht das Ziel: Als freies Land mehr oder weniger gleichberechtigter Bürger und natürlich als Verkörperung der majestätischen, makellosen Natur weißer Berggipfel mit arkadischen Schäfern.


    Kein Buch für die letzten Minuten vorm Einschlafen, wie ich es jetzt leider lesen musste, sondern ein weiteres Kleinod aus Jean Pauls Feder.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Und wenn man in der 9. Fahrt über Völkerrecht und Europa liest und Giannozzo den Blasenstein kartographiert (Google Earth lässt grüßen :breitgrins: ) dann fühlt man sich wie in der Gegenwart.


    Gontscharow
    Sehr erhellend deine Gedanken!


    Ich bin noch nicht durch.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)