Friedrich Hölderlin: Hyperion

  • Moin, Moin!


    Jetzt gibst Du aber wirklich Gas. :breitgrins:


    In der Tat habe ich seit Jahresbeginn meine freie Zeit stets für die Lektüre genutzt. An den Arbeitstagen ist sie jedoch unangenehm begrenzt. Gestern und heute schlief ich beispielsweise bis 17 Uhr, habe also, Zeit fürs Tee kochen, Essen und einem Minimum PC (Mails, kurzes Posting in den Miszellen usw) abgerechnet, zirka 2,5 Stunden verfügbar, um in ein Buch zu gucken bzw. auf das Display des E-Book-Readers zu starren. :breitgrins:



  • Mir erschient Kermanis Umgang mit Religion nachgeradezu vorbildhaft.



    Ja!! Dann wird Dir auch gefallen, was Joseph Roth in besagten Essays über den „spießigen Atheismus“ des revolutionären Russland zu sagen hat.



    Noch nicht sehr weit. Gerade im längeren Brief Hyperions, in dem er sein Treffen und den Beginn seiner Freundschaft mit Alabanda schildert. Gerade sind Alabandas Freunde eingetroffen.


    Habe zu Dir aufgeschlossen und bin darüber hinaus: Die Freundschaft endet und Hyperion ist wieder auf seiner Heimatinsel.
    Anscheinend bin ich aber immer noch nicht reif für dieses Hochamt der deutschen Literatur. Es kommt mir bislang so blutleer, weinerlich und überheblich vor. Help!

  • Habe zu Dir aufgeschlossen und bin darüber hinaus: Die Freundschaft endet und Hyperion ist wieder auf seiner Heimatinsel.
    Anscheinend bin ich aber immer noch nicht reif für dieses Hochamt der deutschen Literatur. Es kommt mir bislang so blutleer, weinerlich und überheblich vor. Help!


    So ähnlich sah ich das auch, als ich den Hyperion vor einigen Jahren las. Habe mich seitdem nicht mehr daran gewagt, nur an die Gedichte.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)


  • Habe zu Dir aufgeschlossen und bin darüber hinaus: Die Freundschaft endet und Hyperion ist wieder auf seiner Heimatinsel.
    Anscheinend bin ich aber immer noch nicht reif für dieses Hochamt der deutschen Literatur. Es kommt mir bislang so blutleer, weinerlich und überheblich vor. Help!


    Ah fein. 'Hochamt' ist großartig. Sehr treffend. :breitgrins:


    Ich dachte, es wäre sinnvoller, wenn wir unsere Diskussion im 'Hyperion'-Strang von 2007 weitreführen, aber es scheint so zu sein, dass man dort keine weiteren Beiträge mehr schreiben kann, weil der Strang bereits im Archiv liegt?


    Vielleicht kannst Du mehr Licht in die Frage bringen, warum Hyperion sich von Alabanda und seinen Freunden trennt? Wo genau liegt der Grund für ihre Entzweiiung? Ich konnte das im Text nicht direkt verorten. Liegt es daran, dass Alabanda und seine Freunde zwar die gleichen idealen Ziele verfolgen, aber mit anderen - gewaltsamen - Mitteln? Dass ihnen die Seelen der Menschen gleichgültig sind?


    Ebenso schien mir schon zuvor, dass bei Hyperions und Alabandas Träumen von der idealen Gesellschaft Töne mitschwingen, die sich sehr leicht ideologisch missbrauchen lassen.


    Nun hat Hyperion gerade seine Diotima gefunden. Mir gefällt, wie Hölderlin die innere Erstarrung und Verzweiflung Hyperions nach seiner Trennung von Alabanda beschreibt. Er stellt alle Gewissheiten infrage, er erstarrt innerlich, nimmt an nichts mehr Anteil und hat - das ist wohl das schlimmste - das Gefühl der Verbindung und Einheit mit der Welt verloren. Er ist im tiefsten Sinne einsam. Und nun kommt mit der Schönheit die Liebe und stellt diese Verbindung wieder her.

  • Ich dachte, es wäre sinnvoller, wenn wir unsere Diskussion im 'Hyperion'-Strang von 2007 weitreführen, aber es scheint so zu sein, dass man dort keine weiteren Beiträge mehr schreiben kann, weil der Strang bereits im Archiv liegt?


    Ich habe Euch jetzt einen eigenen Thread erstellt. Der, den Du gefunden hast, war eine alte Leserunde - die sind dann im Archiv tatsächlich gesperrt.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • [...] bislang so blutleer, weinerlich und überheblich [...]


    Eigentlich war ich ja schon fast soweit aufzugeben, aber Deine Antwort hat mich dann doch wieder motiviert weiterzulesen. Das ist das Gute an Leserunden u.ä., dass man bei der Stange bleibt, ein eigens eingerichteter Thread ist natürlich auch irgendwie eine Verpflichtung... :zwinker:



    Vielleicht kannst Du mehr Licht in die Frage bringen, warum Hyperion sich von Alabanda und seinen Freunden trennt? Wo genau liegt der Grund für ihre Entzweiiung? Ich konnte das im Text nicht direkt verorten. Liegt es daran, dass Alabanda und seine Freunde zwar die gleichen idealen Ziele verfolgen, aber mit anderen - gewaltsamen - Mitteln?


    Ja, darüber herrschte übrigens auch in der Leserunde von 2007 Unklarheit. Es sind, wie ich meine, die Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Rolle des Staates (Alabanda gesteht ihm mehr „Gewalt“ zu) in der gemeinsam angestrebten idealen Gesellschaft, womit der Streit beginnt. Als Hyperion dann Alabandas rauhbeinige Freunde kennenlernt, meint er in ihnen den wahren Charakter seines Freundes zu erkennen: „Er ist schlecht, rief ich, ja, er ist schlecht. Er heuchelt gränzenlos Vertrauen und lebt mit solchen – und verbirgt es dir.“
    H. fühlt sich von A. betrogen „ wie eine[r] Braut, wenn sie erfährt, daß ihr Geliebter insgeheim mit einer Dirne lebe.“ Gekränkt fordert er eine Entschuldigung, die Alabanda jedoch aus Stolz nicht leistet. Dieses Motiv des Sich- nicht - beugen - wollens (selbst wenn die Argumente vernünftig sind) tritt noch häufiger auf. Etwas kindisch das Ganze. Im Grunde kann der narzisstische Hyperion nicht verschmerzen, dass sein Busenfreund anders ist als er...


    Den ersten Band habe ich beendet. Mein Eindruck ist leider immer noch derselbe( s.o.). Das ist alles so wenig konkret, schwebt im luftleeren Raum, ist aus dem hohlen Bauch erzählt, alles so unsinnlich und wenig individuell geschildert, wie nur von jemandem, der nie an den Schauplätzen war. Die epistolare Subjektivität ( Begriff irgendwo gelesen :zwinker:) ist zudem nicht überzeugend durchgehalten, H. erzählt aus der Rückschau, vieles klingt aber wie gerade erlebt usw. Besonders ärgerlich finde ich das absolute Fehlen von Humor und Ironie.
    Zwei Beispiele:
    Rückblickend auf sein Leben beklagt Hyperion gleich zu Anfang, dass man ihm ständig geraten habe: „Klage nicht, handle“ und er kommt zu dem Schluss:


    "O hätt ich doch nie gehandelt! Um wie manche Hoffnung wär ich reicher! "


    Ja sicher, das versteht sich von selbst, wie Se tacuisses… oder Weißwein macht keine Rotweinflecke. Nur ironisch wäre diese Tautologie erträglich. So ist ist sie ziemlich kindisch, voller Selbstmitleid und bedeutet ein Festhalten an seiner Problematik, denn das Verharren im nur Potenziellen machte ja sein Leiden an sich und der Welt aus...


    Sicher, die Sprache ist schön, man muss das Ganze wie ein Gedicht lesen, d’accord. Es ist im Grunde die hymnische Elegie oder elegische Hymne (eines Manisch-Depressiven). Allein wieviel Sätze mit Oh und Ach beginnen! Und es gibt einzelne Gedanken von großer Strahlkraft, z. B.:


    'Es ist unglaublich, dass der Mensch sich vor dem Schönsten fürchten soll; aber es ist so.'
    (Rilkes Denn die Schönheit ist nur des Schrecklichen Anfang… (Duineser Elegien) lässt grüßen)


    Hölderlins Roman … gilt als Meisterwerk der deutschen Literatur. Sein am Briefroman orientiertes Werk ist zugleich die Beschreibung eines herausragenden Einzelschicksals und eine Auseinandersetzung mit der klassischen Antike. In dieser menschlichen Parabel äußert der Autor seine Zeitkritik und leistet einen philosophischen Beitrag zum deutschen Idealismus. Was Hölderlin mit dem Hyperion geschaffen hat, ist ein Sprachkunstwerk von unvergleichlichem literarischen Rang.


    Ich weiß nicht, wer diesen Text verzapft hat. Wahrscheinlich jemand, der den Hyperion garnicht gelesen hat. Aber es scheint die gängige Meinung zu sein. Ich will’s ja gerne glauben, seh es aber bislang nicht. Vielleicht lässt mich der zweite Teil alles anders sehen?


  • H. fühlt sich von A. betrogen „ wie eine[r] Braut, wenn sie erfährt, daß ihr Geliebter insgeheim mit einer Dirne lebe.“ Gekränkt fordert er eine Entschuldigung, die Alabanda jedoch aus Stolz nicht leistet. Dieses Motiv des Sich- nicht - beugen - wollens (selbst wenn die Argumente vernünftig sind) tritt noch häufiger auf. Etwas kindisch das Ganze. Im Grunde kann der narzisstische Hyperion nicht verschmerzen, dass sein Busenfreund anders ist als er...


    Vielen Dank! Das erleuchtet mir die Stelle. Ich habe noch einmal zurückgeblättert. Und so erscheint mir das einsichtig, auch wenn ich es beim ersten Lesen nicht wahrgenommen habe. Was mir als Teil eines argumentativen Austauschs zwischen Freunden erschien, ist doch Ausdruck eines grundlegenden Dissens.


    Mein Eindruck ist aber, dass es nicht nur darum geht, dass Hyperion hier kindisch reagiert. Er wünscht sich eine Gesellschaft, die auf dem Gleichklang der Seelen und Geister aufbaut, nicht auf äußerem Zwang. Diese Sehnsucht nach Gemeinschaft, aber im Tieferen noch nach 'Einheit' durchzieht ja das gesamte Werk wie ein roter Faden. Sie ist für Hyperion ein Ideal, das er überall sucht: Einheit des Menschen mit der Natur, Einheit des Freundes mit der Seele des Freundes, Gleichklang und Einheit der Seelen in der Liebe (Diotima und Hyperion). Auch im Kapitel über die Athener klingt dieses Motiv an. Im antiken Griechenland sieht Hyperion ebenfalls dieses Ideal der 'Einheit' verwirklicht, auch eine Einheit von Fühlen und Denken, während er in den Gesellschaften des Orients nur 'Willkür' und 'Despotie', in den Gesellschaften des Nordens eine Übermacht des 'Denkens' erblickt.


    Die Einheit sucht Hyperion auch mit der Natur. Immer dann, wenn es ihm seelisch gut geht, empfindet er diese Einheit, er fühlt sich in Harmonie mit der Welt um sich herum, empfindet aber auch eine tiefe Verbindung mit Pflanzen und Tieren. Diese bewundert er auch an Diotima und in ihrer gemeinsamen Liebe verwirklichen sie dieses Einssein mit dem Kosmos. Die Liebe ermöglicht ihm diese Transzendenz, das Übersteigen des eigenen Selbst hin zum anderen und zur Welt. Wo die Beziehungen zerbrechen, ist auch dieses Weltverhältnis gestört: nach der Trennung von Alabanda ist Hyperion ja nicht nur innerlich wie tot, er verliert auch seine Beziehung zur Umwelt völlig.


    Zitat

    Den ersten Band habe ich beendet. Mein Eindruck ist leider immer noch derselbe( s.o.). Das ist alles so wenig konkret, schwebt im luftleeren Raum, ist aus dem hohlen Bauch erzählt, alles so unsinnlich und wenig individuell geschildert, wie nur von jemandem, der nie an den Schauplätzen war. Die epistolare Subjektivität ( Begriff irgendwo gelesen :zwinker:) ist zudem nicht überzeugend durchgehalten, H. erzählt aus der Rückschau, vieles klingt aber wie gerade erlebt usw. Besonders ärgerlich finde ich das absolute Fehlen von Humor und Ironie.


    Ja, der hohe Ton lässt eine emotionale Authentizität komplett vermissen. Als Vergleich fällt mir etwa der Anton Reiser ein, der fast zur gleichen Zeit entstanden ist, aber psychologisch so ungleich viel ergreifender ein echtes menschliches Schicksal schildert.


    Ich habe jetzt erst den ersten Band beendet. Bin also ziemlich langsam...
    Trotzdem lese ich gerne weiter. :winken:

  • Kurze Zwischenmeldung:
    Leider bin ich in den letzten zwei Wochen aufgrund diverserser unvorhergesehener Umstände kaum zum Lesen gekommen und konnte auch noch nicht antworten. Das wird in den nächsten Tagen nachgeholt. Ich bin jetzt in der ersten Hälfte des zweiten Bandes.
    Du befindest dich hoffentlich noch im Hyperion-Lese-Modus@newman!? :winken:


  • Kurze Zwischenmeldung:
    Leider bin ich in den letzten zwei Wochen aufgrund diverserser unvorhergesehener Umstände kaum zum Lesen gekommen und konnte auch noch nicht antworten. Das wird in den nächsten Tagen nachgeholt. Ich bin jetzt in der ersten Hälfte des zweiten Bandes.
    Du befindest dich hoffentlich noch im Hyperion-Lese-Modus@newman!? :winken:


    Ich habe weigergelesen, bin aber momentan eher im Standby-Modus. Aber ich bleibe dran. :zwinker:


  • Mein Eindruck ist aber, dass es nicht nur darum geht, dass Hyperion hier kindisch reagiert. Er wünscht sich eine Gesellschaft, die auf dem Gleichklang der Seelen und Geister aufbaut,[...]. Diese Sehnsucht nach Gemeinschaft, aber im Tieferen noch nach 'Einheit' durchzieht ja das gesamte Werk wie ein roter Faden. Sie ist für Hyperion ein Ideal, das er überall sucht: Einheit des Menschen mit der Natur, Einheit des Freundes mit der Seele des Freundes, Gleichklang und Einheit der Seelen in der Liebe (Diotima und Hyperion). […] Immer dann, wenn es ihm seelisch gut geht, empfindet er diese Einheit, er fühlt sich in Harmonie mit der Welt um sich herum, empfindet aber auch eine tiefe Verbindung mit Pflanzen und Tieren[…] Wo die Beziehungen zerbrechen, ist auch dieses Weltverhältnis gestört.


    Du hast natürlich völlig Recht. So soll und muss man das verstehen! Wobei, besonders originell ist es nicht. Im Werther…, im zeitgleichen Hesperus findet sich Ähnliches. Hier kam es mir in dunklen Momenten (auch dem Leser seien sie zugestanden) so vor, als habe H. seine Ansprüche und Ziele extra so unerfüllbar hoch gesteckt, um - bei der zwangsläufig eintretenden Enttäuschung - sich über die schnöde Welt erheben und jammern zu können.( Oh hätte ich doch nie gehandelt…etc)
    In meinem letzten post habe ich das angekündigte zweite Beispiel für Larmoyanz und Humorlosigkeit aus Versehen unterschlagen. Es sei hier nachgetragen: In der Vorrede heißt es:


    Ich verspräche gerne diesem Buche die Liebe der Deutschen. Aber ich fürchte, die einen werden es lesen, wie ein Kompendium, und um das fabula docet sich zu sehr bekümmern, indes die andern gar zu leicht es nehmen, und beide Teile verstehen es nicht.

    Dieser Gedanke wird im folgenden noch ein paarmal mit anderen Worten wiederholt. Anstatt zu sagen, wie das Buch denn nun zu verstehen sei, unkt Hölderlin lieber und weiß schon im Voraus, dass und wie er nicht verstanden werden wird. Dahinter verbergen sich wohl Unsicherheit und Zweifel am eigenen Werk, denen mit einem: Es gefällt euch nicht? Ihr habt es nur nicht verstanden! abgeholfen werden soll.. .Wie selbstironisch dagegen z.B. Jean Pauls „Leser-Schelte“ im Hesperus:


    Wenn man überhaupt selber zusieht, wie sie einen lesen - nämlich noch fünfmal elender, gedankenloser, abgerissener als man schreibt[…]


    Genug gelästert!Der zweite Band ist viel äktschenreicher und daher unterhaltsamer … oder auch nicht. Diotima hatte sich gewünscht, dass Hyperion nichts Geringeres als „Lehrer des griechischen Volkes“ werden sollte. Aber Hyperion folgt dem Ruf Alabandas und zieht in den Krieg. Die Auseinandersetzung zwischen Hyperion und Diotima, die ihn zunächst zurückzuhalten versucht, zeigt den Einfluss von Schillers Schrift „Ästhetische Erziehung des Menschngeschlechts“ auf das Werk. (Hölderlin selbst soll irgendwo geäußert haben, dass er im Hyperion Schillers Schrift umzusetzen versucht habe.) Nichts geringeres als die heilige Theokratie des Schönen - man muss sich den Begriff mal auf der Zunge zergehen lassen! - möchte H. errichtet sehen, dafür will er einen "Freistaat" schaffen bzw. Griechenland von der Fremdherrschaft befreien. Sicher ließ das Freiheitspathos Hyperions zeitgenössische Leser an die Französische Revolution denken, die sich gerade vor ihren Augen abspielte. Diotima vertritt quasi Schillers Standpunkt, der in der Ästhetischen Erziehung vor gewaltsamer Umwälzung warnte, da die Menschen noch nicht „reif für die Freiheit“ seien, und einen Weg dahin über „die Schönheit“, bzw. die ästhetische Erziehung empfahl. Hyperion muss später einsehen:

    In der Tat! Es war ein außerordentlich Projekt, durch eine Räuberbande mein Elysium zu pflanzen….


    Bin jetzt etwa bis zur Mitte des zweiten Bandes vorgedrungen.

  • Als ich den "Hyperion" wie auch den "Empedokles" zum ersten Mal achtzehnjährig im letzten Jahr der Erweiterten Oberschule las - die Deutschlehrer hatten die Hölderlin-Lektüre nicht empfohlen, das Reclam-Bändchen hatten wir zu Hause stehen - hatte ich immer auch ein klassisches Bild vor Augen: "Et in Arcadia ego " von Nicholas Poussin (1637), eine Reproduktion des Bildes hing an der Wand.


    Eine Frauengestalt im antiken Gewand lehnt milde blickend an einem Sarkophag, drei Männer, Hirten versuchen die Inschrift zu deuten. So stellte ich mir die Diotima vor, eine abgeklärte, allwissende Frau in einer idyllischen Landschaft.
    Dann gab es Hölderlin-Biographien: die Geschichte mit Susette Gontard und ihrem Bankiersgatten in Frankfurt am Main rührte mich schon an in einer Zeit, in der Ulrich Plenzdorf den Jugendlichen den "Werther" im zeitgenössischen Gewand nahebringen wollte, das Theater war gerammelt voll von Jugendlichen, und man johlte vor Vergnügen.
    Nun ja, so hatte man in der Jugendzeit beim Hölderlin-Lesen Sehnsucht nach idyllischen Zuständen, in denen der Alltag nicht durch Einheitspartei und Staat fremdbestimmt wurde...


    Später erfuhr ich, dass Hölderlin die beiden russisch-türkischen Kriege 1768-1774 und 1787-1792 anhand der aktuell-politischen Literatur und von Karten schon intensiv verfolgt hatte. 1796 ließ Katharina die Große noch kurz vor ihrem Tode eine russische Armee in den Krieg im Süden ziehen. Über Hölderlins Studien zu diesen Ereignissen gibt es ein Kapitel in dem Buch: Christoph V. Albrecht: Geopolitik und Geschichtsphilosophie 1748-1798, Berlin 1998.


    Hölderlin stand wie anderen Zeitgenossen das alte, das antike Griechenland wie das "neue" Griechenland seiner Zeit vor Augen, in dem die Aufklärung (u. a. Rhigas) gerade erst in einigen städtischen Zentren eingesetzt hatte, auf den Inseln und in den Bergen sich griechische Bergkrieger und Räuberbanden einen erbitterten Kleinkrieg mit den osmanischen Besatzern lieferten.
    Da erschien 1769 zum ersten Mal eine russische Flotte in der Ägäis, niemand hatte das in Westeuropa zunächst für möglich gehalten, und eine türkische Flotte wurde bei Tschesme in die Luft gejagt! (Bilderserie des Goetheschen Malerkollegen Philipp Hackert). Die Teilnahme des Helden am Krieg mit Alabanda ist eine Widerspiegelung konkreter Zeitereignisse.


    Dann aber verflogen erst einmal die Illusionen der humanistisch gebildeten Philhellenen für einige Jahrzehnte: Griechenland wurde nicht befreit, die griechischen Bergkrieger blieben, was sie waren, und die russischen Schiffe drehten wieder ab gen Gibraltar und St. Petersburg. Erst ab 1821 entflammten wieder die Herzen der Griechenfreunde, Lord Byron und andere Freiwillige zogen los, holten sich das Sumpffieber. Die freiheitsliebenden Neugriechen als Objekte der Begeisterung der Philhellenen hatten einen großen Vorteil: sie lebten schön weit weg von Deutschland.
    (was etwa der Begeisterung für Nordvietnam, Chile und Kuba um 1973 entsprach)


    Das vernichtende Urteil Hölderlins aber über die zeitgenössischen Deutschen, die "Barbaren von alters her", wie hat es damals nicht bei dem Jugendlichen gezündet. Und dann kam der arme Hölderlin aus Südfrankreich mit seinem gleißenden Sonnenlicht völlig abgebrannt und fertig wieder in seine Heimat, und dann bezog er für den Rest seines Lebens den Turm in Tübingen, den ich gleich nach der Herstellung der deutschen Einheit 1990 nun endlich mit eigenen Augen sehen durfte.