Kleist, der vergessene Dramatiker?

  • Das ist aber eine interessante Diskussion und ich habe einen Einwurf zu machen, vielleicht sogar an meiner eigenen Theorie.


    Denn als wir vom Baum gekostet haben, haben wir den Sündenfal begangen. Damit sind wir aus dem Paradies vertrieben worden und haben die volle Erkenntnis verloren. Durch nochmaliges Kosten könnten wir sie wieder erlangen.


    Oder ist das kompletter Quatsch, was ich hier schreibe? Ich bin gerade ein bisschen verwirrt, merke ich.


    Katrin

  • Hallo,


    Beim Verfassen einer Seminarbeit über den Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg bin ich auf das Werk “Prinz Homburg” von Kleist gestoßen. Da ich über den Kurfürsten bevor ich mit der Arbeit begonnen habe, so gut wie gar nichts gewusst habe, hat mich dieses Thema und sein Leben noch mehr fasziniert und interessiert. Bevor ich nun aber zu Kleist greife wollte ich mal nachfragen ob jemand weiß wie viel Biographisches in dem Werk tatsächlich drinnen steckt.


    Beim Durchstöbern des Threads bin ich auf ein altes Zitat von Bluebell gestoßen und musste echt herzhaft lachen, denn offensichtlich bin ich überhaupt nicht romantisch veranlagt.



    Ich träume ja insgeheim davon, einmal folgendermaßen angeflirtet zu werden:
    "Mein schönes Fräulein, darf ich's wagen, mein Arm und Geleit ihr anzutragen?"
    Ich würde dahinschmelzen! Aber auf die Idee, die holde Weiblichkeit mit Literaturzitaten zu beeindrucken, kommen scheinbar die wenigsten Männer ... :rollen:


    Denn wenn mich ein Mann mal so anspricht frage ich ihn ob er betrunken ist :breitgrins:


    Katrin


  • betrunken? Schein eher vom Teufel besessen zu sein. :zwinker:

  • Wenn Heinrich v. Kleist (der sich heute vor 200 Jahren das Leben nahm) ein Zeitgenosse wäre, dann sässe er vermutlich jetzt auch vor dem Computer, würde chatten und posten, stilvoll vereinsamen, manisches Zeug tippen und unter seiner Erfolglosigkeit leiden. Das ist nicht etwa meine persönliche Meinung, sondern die des Schauspielers Ulrich Matthes (gefunden in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung). Kleist als einer von uns? Keine unsympathische Vorstellung ...


    LG


    Tom

  • Danke für diesen Link.


    Ich bin wohl eine der wenigen die Kleist nicht mit Tod in Verbindung bringen. Immer wenn ich an ihn denke, habe ich den zerbrochenen Krug im Gedächtnis. Das erste Werk was ich von ihm las.


    Bei diesen Satz bin ich aber mal hängen geblieben: Goethe und Schiller scheinen unendlich weit in einer mit Staub bedeckten Vergangenheit zu liegen, aber wer heute Kleist liest, kann sich erschüttern lassen.


    Goethe und Schiller haben doch auch gute Sachen geschrieben, und auch Dinge die einen erschüttern. Ob Kleist da wirklich so viel besser war?


    Katrin


  • Ob Kleist da wirklich so viel besser war?


    Hallo Katrin,


    "besser" ist immer so eine Sache ... Kleist war anders, viele empfinden ihn als moderner im Vergleich zu Goethe oder Schiller (auch der FAZ-Rezensent). Ich bin geneigt, dem zuzustimmen, habe aber keine wirklich umfangreichen Kleist-Kenntnisse (Der zerbrochene Krug, Penthesilea, Die Marquise von O. sowie die kleine Abhandlung "Über das Marionettentheater").


    LG


    Tom


  • Kleist war anders, viele empfinden ihn als moderner im Vergleich zu Goethe oder Schiller


    Dazu habe ich von allen dreien viel zu wenig gelesen um das wirklich beurteilen zu können.




    habe aber keine wirklich umfangreichen Kleist-Kenntnisse (Der zerbrochene Krug, Penthesilea, Die Marquise von O. sowie die kleine Abhandlung "Über das Marionettentheater").


    Der zerbrochene Krug und das Marionettentheater habe ich auch schon gelesen, Prinz Friedrich von Homburg auszugsweise, die Familie Schroffenstein ganz. Einige andere Sachen stehen hier noch rum, unter anderem Michael Kohlhaas.


    Katrin

  • Hallo,


    Kleist ist für mich vor allem ein begnadeter Verfasser von erzählender Prosa, seine verdichtete Sprache ist in seiner Zeit mit nichts zu vergleichen. Wer das "Erdbeben von Chili", "Das Bettelweib von Locarno" oder die "Marquise von O liest", wird geradezu atemlos von diesen Teilsatzkaskaden, diesen Satzungetümen, die dennoch gut verständlich sind. Vor allem die Anfangssätze sind unvergleichlich, umfassen einen großen Teil des Inhalts der jeweiligen Novelle (Marquise und Erdbeben z.B.). Als Dramatiker schätze ich ihn nicht mehr als die anderen Großen der Epoche, aber auch nicht weniger :zwinker:.


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)


  • Kleist ist für mich vor allem ein begnadeter Verfasser von erzählender Prosa, seine verdichtete Sprache ist in seiner Zeit mit nichts zu vergleichen. Wer das "Erdbeben von Chili", "Das Bettelweib von Locarno" oder die "Marquise von O liest", wird geradezu atemlos von diesen Teilsatzkaskaden, diesen Satzungetümen, die dennoch gut verständlich sind.


    Ja, seh ich auch so. Ulrich Greiner hat in seinem exzellenten Artikel über Kleist Sprache eine treffende Metapher dafür gefunden:


    Zitat von Ulrich Greiner

    Seine syntaktischen Konstruktionen gleichen den Viadukten, wie sie in alten Filmen manchmal zu sehen sind, jenen aus zahllosen Verstrebungen und Verbindungen gebauten Brücken, die spinnwebhaft-filigran gewaltige Abgründe überspannen. Gerade dann, wenn Kleist sich solchen Abgründen der Seele und des Schicksals nähert, baut er diese zerbrechlich wirkenden Hypotaxen, und wenn der Leser sie beschreitet, ergreifen ihn Schwindelgefühle und die Furcht, die Brücke könnte brechen.
    Die von Kleist gebauten Sprachbrücken brechen nie, aber sie zittern im Anblick des Ungeheuerlichen...


    Ulrich Greiner: Bis an die Grenze des Sagbaren
    http://www.zeit.de/2011/02/Kleist-Greiner

  • So wie es aussieht habe ich bisher das falsche von Kleist gelesen. Das werde ich nun nachholen. Danke für die Tipps.


    Nicht das Falsche. Das gibt es bei Kleist eigentlich fast nicht. Nur noch nicht alles ... :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Einige andere Sachen stehen hier noch rum, unter anderem Michael Kohlhaas.


    Dann liest doch mal den Michael Kohlhaas. Ich habe ihn vor einiger Zeit gelesen und fand ihn sehr modern, was das Thema angeht. Jeder der schon mal gegen eine große Firma oder Bank (oder was auch immer) gekämpft hat, die einen Fehler begangen hat und diesen nun aber dem Kunden zuschiebt, findet sich da wieder...


    Viele Grüße
    thopas

  • Dann liest doch mal den Michael Kohlhaas. Ich habe ihn vor einiger Zeit gelesen und fand ihn sehr modern, was das Thema angeht. Jeder der schon mal gegen eine große Firma oder Bank (oder was auch immer) gekämpft hat, die einen Fehler begangen hat und diesen nun aber dem Kunden zuschiebt, findet sich da wieder...


    Viele Grüße
    thopas


    und eine zeitgenössische Variante wäre in "Ragtime" von E.L. Doctorow in der Figur des Coalhouse Walker zu finden.

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo,


    jetzt weiß ich auch wieder, warum ich weder den Michael Kohlhaas noch Ragtime mag: Mir geht die Hutschnur hoch, wenn ich über solch unverschuldetes Unrecht lese und den vergeblichen Kampf der Protagonisten dagegen. Komischerweise kann ich mich dann nicht distanzieren, sondern bin so aufgebracht, dass ich kaum weiterlesen kann.


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)


  • Ulrich Greiner hat in seinem exzellenten Artikel über Kleist Sprache eine treffende Metapher dafür gefunden:


    Das ist ganz nett, fast schon poetisch formuliert. Ich gestehe allerdings, dass mich beim Kleist-Lesen weder Schwindelgefühle noch Furcht übermannt haben. Hymnische Verehrungen wie die des Herrn Greiner sind mir deshalb ziemlich verdächtig. Hier schreibt jemand, um seine Zunftkollegen "spinnwebhaft-filigran" zu beeindrucken, auf dass sie zittern mögen "im Anblick des Ungeheuerlichen".


  • Hallo,


    jetzt weiß ich auch wieder, warum ich weder den Michael Kohlhaas noch Ragtime mag: Mir geht die Hutschnur hoch, wenn ich über solch unverschuldetes Unrecht lese und den vergeblichen Kampf der Protagonisten dagegen. Komischerweise kann ich mich dann nicht distanzieren, sondern bin so aufgebracht, dass ich kaum weiterlesen kann.


    finsbury


    Das geht mir ähnlich, finsbury. Ich lese solche Geschichten auch nicht gerne, weil ich mich aufregen muß :rollen:.


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo Tom!


    Nimm mal diesen Satz von Kleist:


    Herzog Wilhelm von Breysach, der, seit seiner heimlichen Verbindung mit einer Gräfin, namens Katharina von Heersbruck, aus dem Hause Alt-Hüningen, die unter seinem Range zu sein schien, mit seinem Halbbruder, dem Grafen Jakob dem Rotbart, in Feindschaft lebte, kam gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts, da die Nacht des heiligen Remigius zu dämmern begann, von einer in Worms mit dem deutschen Kaiser abgehaltenen Zusammenkunft zurück, worin er sich von diesem Herrn, in Ermangelung ehelicher Kinder, die ihm gestorben waren, die Legitimation eines, mit seiner Gemahlin vor der Ehe erzeugten, natürlichen Sohnes, des Grafen Philipp von Hüningen, ausgewirkt hatte.


    Sind das nicht schwindelerregend viele Informationen in einem Satz? Tun sich innerhalb desselben nicht Abgründe verwandtschaftlicher Verwicklungen und Ahnungen künftiger Konflikte auf? Werden da nicht Verbindungen hergestellt zwischen zeitlich weit auseinander liegenden Ereignissen und Bögen gespannt zwischen entfernten Orten? Und wird man nicht sicher über diese Untiefen getragen, wenn auch immer ein bisschen begleitet von der Furcht, die Konstruktion könnte nicht tragfähig sein?
    Also, ich finde Greiners Vergleich der Kleist’schen Satzgefüge mit Brücken, die Schluchten überspannen, äußerst gelungen. Na gut, des Spinnwebhaft-Filigranen hätte es vielleicht nicht unbedingt bedurft, da sind die metaphorischen Rosse mit ihm durchgegangen. Aber auch sonst ist der Artikel sehr lesenswert und erhellend, nicht zuletzt auch, weil Greiner mit einem Zitat von Mark Twain beginnt, der bekanntlich monierte, dass man im Deutschen das Verb mit dem Fernrohr suchen müsse.


    Hymnische Verehrungen wie die des Herrn Greiner sind mir deshalb ziemlich verdächtig. Hier schreibt jemand, um seine Zunftkollegen "spinnwebhaft-filigran" zu beeindrucken, auf dass sie zittern mögen "im Anblick des Ungeheuerlichen".


    Ja? Mir ist er eigentlich als ernstzunehmender Literaturkritiker bekannt. Hast du außer meinem Zitat Anhaltspunkte für deinen „Verdacht“?
    :winken:


  • Herzog Wilhelm von Breysach, der, seit seiner heimlichen Verbindung mit einer Gräfin, namens Katharina von Heersbruck, aus dem Hause Alt-Hüningen, die unter seinem Range zu sein schien, mit seinem Halbbruder, dem Grafen Jakob dem Rotbart, in Feindschaft lebte, kam gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts, da die Nacht des heiligen Remigius zu dämmern begann, von einer in Worms mit dem deutschen Kaiser abgehaltenen Zusammenkunft zurück, worin er sich von diesem Herrn, in Ermangelung ehelicher Kinder, die ihm gestorben waren, die Legitimation eines, mit seiner Gemahlin vor der Ehe erzeugten, natürlichen Sohnes, des Grafen Philipp von Hüningen, ausgewirkt hatte.


    Sind das nicht schwindelerregend viele Informationen in einem Satz?


    Für mich sogar zu viele Infos und Verwinkelungen. :breitgrins: Da dreht sich ja alles beim Nachdenken über diesen Satz.
    Habe gerade gesehen, dass es den "Zweikampf" im Gutenberg Spiegel gibt, da werde ich mal reinlesen.


    Katrin

  • Ja? Mir ist er eigentlich als ernstzunehmender Literaturkritiker bekannt. Hast du außer meinem Zitat Anhaltspunkte für deinen „Verdacht“?
    :winken:


    Hallo Gontscharow,


    ja, ich habe weitere Anhaltspunkte.


    Greiner: Kleist machte das keineswegs zum Spaß.
    Was kann man an einer solchen Aussage ernstnehmen?


    Greiner: Gerade dann, wenn Kleist sich solchen Abgründen der Seele und des Schicksals nähert, baut er diese zerbrechlich wirkenden Hypotaxen, und wenn der Leser sie beschreitet, ergreifen ihn Schwindelgefühle und die Furcht, die Brücke könnte brechen.
    Wie ich schon sagte: Mir wurde bislang niemals schwindlig beim Lesen, auch habe ich keine Furcht, etwas könnte beim Lesen unter mir zerbrechen.


    Greiner: Die von Kleist gebauten Sprachbrücken brechen nie, aber sie zittern im Anblick des Ungeheuerlichen ...
    Das macht mich jetzt wirklich sprachlos. Hier ist wohl jemand fürchterlich verliebt in seine Metapher der "Sprache als Brücke".


    Greiner: Da fällt zuerst die regelwidrige Interpunktion auf. Kleist benutzt die Satzzeichen als rhythmische Markierungen, er verwendet sie wie ein Schlagzeug, um den Exzess anzufeuern. Nicht allein das, was diese Satzkaskade schildert, ist Gewalt, sondern der sprachliche Sturzbach selber ist Gewalt, eine Gewalt, die das Sprachgefüge bis ins Innerste zum Beben bringt, aber niemals zum Einsturz.
    Interpunktion als Schlagzeug? Ein Sprachgefüge, das im Innersten zum Beben gebracht wird?


    Ich möchte an dieser Stelle H. Greiners Urheberrechte wahren und keine weiteren Zitate anführen. Ob er ein ernstzunehmender Kritiker ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Die Kleist-Hymne jedenfalls ist zum Teil ein ziemlicher Schmarrn.


    LG


    Tom