Hallo zusammen!
Wir haben über dieses Thema schon ein paar Mal diskutiert - leider immer wieder über andere Threads verstreut. Ich dachte, es könnte der Diskussion helfen, wenn wir's mal in einen eigenen Thread stellen.
Was ist denn nun ein Klassiker? Ich muss gestehen, dass ich nicht an 'objektive' Kriterien zur Festlegung von Klassikern, Kanons und ähnlichem glaube. Kanons und Leseempfehlungen (woraus die 'Klassiker' entstehen) bilden sich m.M. im intersubjektiven Diskurs (Habermas und Apel lassen grüssen!). D.h. wir - die Menge der Leser - stellen diese Listen zusammen, diskutieren und verändern sie ständig. Indem wir dies tun, akzeptieren wir sie aber gleichzeitig, und sei es nur als Ausgangsbasis. Selbst ein dezidierter Nicht-Leser oder Nur-Bohlen-Feldbusch-Becker-Leser* akzeptiert die Existenz von Klassikern, auch wenn er sie für sich selber als nicht relevant betrachtet.
Natürlich ist es zuerst die Qualität eines Werks, das einen Klassiker ausmacht. Allerdings sind schon die Kriterien zur Festlegung dieser Qualität zeitlich und regional anders. Somit gibt es auch Klassiker, die aus den Listen still und leise verschwinden, solche, die (wieder oder neu) eingeführt werden. Homer z.B. ist erst im 18. / 19. Jh. wieder 'aufgetaucht'.
Klassiker sind von also regional und zeitlich immer andere: Der Europäer des 21. Jahrhunderts nennt andere Autoren als der Chinese ebendieses Jahrhunderts, als der Europäer des 17. Jahrhunderts (vom Chinesen des 12. Jahrhunderts mal ganz zu schweigen). Feministinnen werden u.U. anderes nennen als hartgesottene Machos, vielleicht (wahrscheinlich) Simone de Beauvoir oder Bettina von Armin ihren Lebensgefährten vorziehen. Bloom, der offenbar gegen einen solchen Relativismus ist, stellt selber ein frappantes Beispiel für einen solchen dar: Sein Kanon enthält zwar verblüffend viele Italiener, aber ganz sicher viel zu viele Engländer und US-Amerikaner - dafür aber z.B. keinen einzigen Brasilianer und eine mickrige Handvoll Portugiesen.
Natürlich gibt es, z.B. innerhalb der 'westlichen' Zivilisation von heute, eine Art 'Schnittmenge', die noch Elemente enthalten wird (Shakespeare, Goethe ...); ob das aber heute weltweit existieren würde, wage ich zu bezweifeln.
Das beste Beispiel für meine These sind wir selber in diesem Forum. Wir orientieren uns zwar an bestehenden Kanons, stellen sie aber auch immer wieder in Frage, schlagen Änderungen und Ergänzungen vor - und sind uns trotzdem im Wesentlichen einig, ob ein Werk nun als Klassiker eingeschätzt werden soll oder nicht.
Grüsse
Sandhofer
* Ich wollte zuerst 'Pop-Literatur' schreiben, aber dann wusste ich nicht, ob das nach dem 'o' nun mit einem oder mit zwei 'p' geschrieben wird ...