Fundstücke

  • »Ein ungelesenes Buch sträubt sich mitunter gegen das Gelesenwerden. Der ungelesene Inhalt stemmt sich über die erste Seite hinaus dem Leser entgegen. Man muß den Widerstand brechen (es gibt auch andere, sozusagen feile und geile Bücher, die den Leser ansaugen; ob das die besseren sind, ist noch die Frage), man muß eine Bresche schlagen, das Vertrauen der ersten Seiten gewinnen, die dann, wenn sie einmal beruhigt und mit ihrem Schicksal, gelesen zu werden, zufrieden hinter einem liegen und einem den Rücken stärken, den Leser den weiter hinten liegenden Seiten als harmlos und ungefährlich weiterempfehlen. Und wenn man einmal die Mitte des Buches überschritten hat, fühlt man sogar einen leisen Druck in den Rücken. Die letzten Kapitel, die letzten Seiten weichen zurück, zur Seite, das Buch will den Leser nach hinten loswerden, verdaut haben oder absondern, so daß es sich wieder schließen und seine Wunde vernarben kann. In einem anderen Exemplar des gleichen Buches, das man angefangen hat, weiterzulesen, ist fast unmöglich. Da sträuben sich die schon gelesenen, aber eben in diesem Exemplar nicht gelesenen Seiten von vorn und zwingen den Leser mit dieser nahezu allmächtigen Zange förmlich aus dem Buch hinaus.«


    Herbert Rosendorfer, Großes Solo für Anton (Diogenes, Zürich 1981, S. 111 f.)

  • »Ein ungelesenes Buch sträubt sich mitunter gegen das Gelesenwerden. Der ungelesene Inhalt stemmt sich über die erste Seite hinaus dem Leser entgegen. Man muß den Widerstand brechen (es gibt auch andere, sozusagen feile und geile Bücher, die den Leser ansaugen; ob das die besseren sind, ist noch die Frage), man muß eine Bresche schlagen, das Vertrauen der ersten Seiten gewinnen, die dann, wenn sie einmal beruhigt und mit ihrem Schicksal, gelesen zu werden, zufrieden hinter einem liegen und einem den Rücken stärken, den Leser den weiter hinten liegenden Seiten als harmlos und ungefährlich weiterempfehlen. Und wenn man einmal die Mitte des Buches überschritten hat, fühlt man sogar einen leisen Druck in den Rücken. Die letzten Kapitel, die letzten Seiten weichen zurück, zur Seite, das Buch will den Leser nach hinten loswerden, verdaut haben oder absondern, so daß es sich wieder schließen und seine Wunde vernarben kann. ...«


    Herbert Rosendorfer, Großes Solo für Anton (Diogenes, Zürich 1981, S. 111 f.)

    Na, das ist schon eine sehr persönliche Sicht der Dinge, geradewegs eine Temperamentsfrage. Den einen zieht es die Berge hinauf, den anderen nicht. Wenn ich möchte, könnte ich das Zitat auch in sportlichem Sinne umschreiben und müsste dabei nur ein paar Wörter austauschen, etwa so:


    »Eine unbewältigte Steigung sträubt sich mitunter gegen das Hinauffahren. Der ungefahrene Pass stemmt sich über die erste Steilrampe hinaus dem Fahrer entgegen. Man muss den Widerstand brechen (es gibt auch andere, sozusagen feile und geile Touren, die den Fahrer ansaugen; ob das die besseren sind, ist noch die Frage), man muss eine Bresche schlagen, das Vertrauen der ersten Höhenmeter gewinnen, die dann, wenn sie einmal beruhigt und mit ihrem Schicksal, erklommen zu werden, zufrieden hinter einem liegen und einem den Rücken stärken, den Fahrer den weiter hinten liegenden Höhenmetern als harmlos und ungefährlich weiterempfehlen. Und wenn man einmal die Mitte des Passes überschritten hat, fühlt man sogar einen leisen Druck in den Rücken. Die letzten Kilometer, die letzten Höhenmeter weichen zurück, zur Seite, der Berg will den Fahrer nach oben loswerden, verdaut haben oder absondern, so daß er sich wieder schließen und seine Wunde vernarben kann. ...«


    Bergaffine Radler kennen und suchen genau das.


    Nein, im Ernst: diejenigen Bücher, die mich wirklich nachhaltig beeindruckten, waren solche, die mich von der ersten Seite an einsogen. Auch wenn die Aufstiege Arbeit kosteten.

  • Verstößt es gegen den comment, hier einen Witz zu zitieren? Er stammt aus prominenter Feder, und bevor ich später den Urheber und die Fundstelle verrate, darf geraten werden:


    Oben auf dem Felsvorsprung sitzt der Adler, fragt ihn der Falke, was er da mache, ich lockere, und wie? Na so, wumm und weg vom Felsvorsprung und runter im Sturzflug, runter, runter und im letzten Moment wumm und wieder rauf. Sitzt der Adler mit dem Falken auf dem Felsvorsprung, was macht ihr, fragt der Fuchs. Wir lockern. Kann ich mit Euch lockern? Na klar, wumm alle drei runter im Sturzflug. Du, Fuchs, fragt der Adler, kannst du fliegen? Nein, kann ich nicht. Wendet sich der Adler zum Falken: Huh, ist der locker!


    Der sich das traute - er traute sich ja auch sonst eine ganze Menge - war Péter Esterhazy. Die Stelle findet sich in "Verbesserte Ausgabe", übersetzt von Hans Skirecki. An Ort und Stelle ist das aber mehr als nur eine alberne Einlage: Esterhazy selbst ist gewissermaßen der Fuchs dieses Witzes. Die Szene spielt in dem Amt, in dem er jetzt gleich Einsicht in die über ihn und seine Verwandten geführten Dossiers der Ávo, des kommunistischen Geheimdienstes, nehmen wird. Esterhazy gibt sich im Umgang mit der angestellten Historikerin zunächst betont "locker" - bevor er den Akten entnehmen muss, dass sein Vater, der "Meinvater" seines Opus Maximus "Harmonia Celestis", Berichte über seine Familie erstellte. Die "Harmonia" wurde zu diesem Zeitpunkt gerade angedruckt. Esterhazy ließ die väterliche Hommage gleichwohl in die Welt hinaus, schob aber die sogenannte "Verbesserte Ausgabe" nach, in der es ausschließlich um Zitate aus den Dossiers und die Wirkung auf den Autor geht.

  • Es gibt ja schon so eine Serie "Wenn Schubert (oder Haydn oder etc ...) ein Tagebuch geführt hätte ..."


    Jetzt kommt die Serie "Was Ludwig Tieck getwittert hätte"
    "Goethe bei Tinder"

    "Shitstorm mit Schiller"

    ......

  • Leute, es ist soweit. (Gefunden: hier)

    Das ist doch albern: Nicht nur, dass es - wenn schon, denn schon - wohl eher "Briefe & E-Mails" heißen müsste, weil "Mails" ja schlicht "Briefe" heißt: Sind E-Mails keine Briefe? In Briefausgaben werden üblicherweise auch Postkarten oder Telegramme aufgenommen, ohne dass die Ausgabe dann "Briefe, Karten, Telegramme" hieße. Vielleicht einfach "Korrespondenz"? Oder müssten dann auch die Antworten der Empfänger aufgenommen werden? Da ich das kürzlich gelesen habe: Hans Wollschläger hat in den späten Jahren neben Papier- auch elektronische Post verschickt, das wird in der Briefe-Ausgabe dann entsprechend vermerkt (imho etwas unglücklich mit "als E-Post") - ähnliches hätte man für Wolfang Pohrt ja auch machen können. Ts.

  • Ach, Werkausgaben ... Wenn ich mich daran erinnere, welch immer seltsamere Titel die sechs abschliessenden Bände (nach dem "Mann ohne Eigenschaften") der völlig verunglückten Musil-Ausgabe bei Jung & Jung erhalten haben ... ;(

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Einen solchen "Wühl dich durch-Laden" habe ich mal in Le Somail in Frankreich besucht. Der Laden liegt in einem winzigen Städtchen am Canal du Midi, das nur aus wenigen Häusern, zwei Cafés und diesem Laden besteht. Schaut euch mal die Bilder in der le somail bookshop Bildersuche an. Der Laden ist überregional bekannt und war auch schon im deutschen Fernsehen zu sehen. (Es gibt auch eine Ecke für deutschsprachige Bücher, ich habe eine wunderschön illustrierte Ausgabe von Andersens Märchen mitgenommen. )

  • Céret kenne ich, ich bin sehr oft in Katalonien unterwegs. Ein Malerdorf, sehr schön. Von dort aus sollen ja auch die Werfels und - meine ich mich zu erinnern - Heinrich Mann nach Spanien geflohen sein. Ich wollte eigentlich den Granzübergang mal suchen gehen, wenn ich in der Gegend bin, aber dann kam es doch nicht dazu.

    Wir sind fast jedes Jahr mit dem WoMo in der Gegend von Millau, weil wir die Grands Causses lieben, und fahren dann Richtung Perpignan weiter, weil wir die Pays Cathare ebenso lieben. Ich hoffe sehr, dass es auch in diesem Jahr wieder klappt. Der Herr Zefira wird in ein paar Tagen am Fuß operiert und muss danach wieder laufen lernen, das wird eine Weile dauern.

  • ja und auch Walter Benjamin, bevor er sich umgebracht hat. Die Gegend läuft euch ja nicht davon, auf Spurensuche könnt ihr auch im nächsten Jahr gehen.


    Gute Besserung @Monsieur Zefira.


    In Céret warn ja auch Soutine und Braque, Matisse und Co.


    Ich habe darüber in Ralph Dutlis - Soutines letze Fahrt gelesen. Ein wirklich wunderbares kleines Büchlein.

  • Es gibt einen Walter-Benjamin-Gedächtnis-Wanderweg, das weiß ich, er steht in unserem Wanderführer drin. Ich habe schon vermutet, dass das der gleiche ist, den auch die Manns und Werfel benutzt haben. Irgendwann möchte ich den abgehen. Mal schauen, wie es wird mit den Gattenfüßen, danke für die Besserungswünsche!

  • Es gibt literarische Texte, bei deren Abfassung man keine Mathefehler machen kann, weil keine Mathe drin vorkommt. Aber spätestens bei Texten, bei deren Grammatik man keine Fehler machen kann, weil keine Grammatik drin vorkommt, wird mir übel.


    Dietmar Dath, Gentzen oder: Betrunken aufräumen, S. 43