Ein Klassikerforumswettbewerb für 2020

  • Ich habe die Islandglocke abgeschlossen und bin sehr, sehr angetan von diesem perfekt komponierten und mit großer Stilsicherheit geschriebenen Roman. Eine echte Bereicherung!

    Der war auch für mich ein großes und nachhaltiges Leseerlebnis, an das die anderen Laxness-Romane trotz vieler Stärken nicht heranreichten.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich habe gestaunt über diese unauffällige und nichtsdestotrotz so straffe Personenführung, die über den Zeitraum eines ganzen Menschenlebens die drei Hauptpersonen in immer neuen Situationen zusammenbringt, die Karten neu mischt, die Charaktere nachhaltig aufbaut (in einer Kritik irgendwo im Netz habe ich gelesen, die "Frau mit dem Elfenleib" Snaefridur sei charakterlich undurchsichtig und unausgewogen, aber dieser Einschätzung kann ich nicht folgen). Und auch der Dialogstil ist hervorzuheben, die große Sicherheit in der Milieuzeichnung durch die Sprechweise der Personen. Speziell Arnas und Snaefridur sprechen ähnlich wie Figuren bei Jane Austen, mit immer gleicher Sicherheit und Höflichkeit, und wissen trotzdem bei jeder Gelegenheit geschliffene Spitzen anzubringen, das ist eine reine Lesefreude.

  • Tatsächlich habe ich jetzt erst :entsetzt: mein erstes Buch für den Klassikerforumswettbewerb 2020 geschafft und endlich - nach zehn Jahren- die Joseph-Tetralogie von Thomas Mann mit "Joseph, der Ernährer" abgeschlossen.

    Und das ist auch gut so, denn erst der letzte Band gibt die Zusammenschau und Pointierung der Idee. Mann wollte ja wohl den Mythen des Totalitarismus einen neu nachgedichteten positiven, die Humanität und die praktische Menschenliebe feiernden Mythos aus der Tradition des Pentateuch entgegenstellen. Das Ganze garniert mit einer schönen Portion Humor, die die Erzväter-Geschichte liebevoll ironisiert und für viele erzählerische Glanzlichter sorgt. Z.B. das "Vorspiel in oberen Rängen", das diesen vierten Band einleitet: Da schütteln die Engel immer wieder halb amüsiert, halb genervt den Kopf über ihren Chef, weil er sich von ihrem gefallenen Kameraden Rosinen in den Kopf setzen lässt und die Menschen absichtlich in schwierige und herausfordernde Situationen schickt. Auch wird erst im letzten Teil deutlich, dass es nicht nur um die Humanität geht, sondern auch darum, ganz praktisch zu denken und den mythisch-religiösen "Überbau" eher distanziert-liebevoll als allein sinnstiftend zu sehen und sich lieber auf die notwendigen Dinge, die eine Gesellschaft am Laufen halten, zu konzentrieren. So muss Joseph auch am Sterbebett seines Vaters Jaakob, obwohl er dessen lange vermisster Lieblingssohn ist, auf die Ehre eines Stammvaters der Israeliten verzichten und diese an seine Söhne Manasse und Ephraim übergeben. Er stattdessen soll als genialer Volkswirt im Gedächtnis der Menschheit weiterleben. Auch ganz klasse: Echnaton, in dessen Regierungszeit Mann kurzerhand den erwachsenen Joseph versetzt und der als empfindsamer, im Prinzip lebensuntüchtiger religiöser Schwärmer dargestellt wird, der den Sonnengott Aton kurzerhand über die ägyptische Götterwelt gesetzt hat.


    Für dieses herausforderende, aber lohnende Werk gilt ein Zitat, das ich im Moment leider nicht zuordnen kann: Ehe die Bücher sich an uns bewähren, müssen wir uns an ihnen bewähren. Ich habe dazu zehn Jahre gebraucht … .

    Aber es lohnt sich!

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich habe "Der unvollendete Satz" von Tibor Déry durch, juhu!
    Es war keine leichte Lektüre. Ein sehr ungewöhnliches Buch mit gigantischem Umfang; fast tausend sehr eng bedruckte Seiten.

    Ich schreibe demnächst eine kurze Vorstellung.

  • "Ein Nashorn für den Papst" ist nun auch geschafft.
    Ich hatte streckenweise sehr viel Freude an der Lektüre (ich kannte das Buch bereits), dann wieder, und vor allem jetzt am Schluss, fragte ich mich manchmal, wie dieser überdrehte Wortschwall eigentlich gelesen werden soll. Meine ältere Tochter, die selbst zu ihrem Vergnügen schreibt, nennt diese Schreibweise "Infodump" - der Leser wird zugedonnert mit Wichtigem und Unwichtigem in inniger Vermischung, bis man sich überhaupt nicht mehr auskennt.

    Es war nett, aber jetzt möchte ich mal wieder was Schlichtes und neudeutsch "Straightes" lesen.

  • Ich bin gerade bei dem letzten Klassiker meiner Leseliste, der Strudlhofstiege. Habe den ersten Teil beim Frühstück fertig gelesen.

    Tja. Das Buch kommt mir bisher vor wie eine Reihe von Perlen für eine Perlenkette. Große Perlen, die im Gedächtnis haften bleiben wie die Bärenjagdszene oder der Dialog zwischen Melzer und Editha beim Spaziergang (als Frau Schmeller die beiden nicht grüßt), und kleine Perlen, wie das Tennisspiel am Anfang, Astas verlorener und wiedergefundener Schmuck, Etelkas Abendkleid in der Bowlenschüssel. Was fehlt, ist ein durchgehender Faden, der die Perlen zusammenhält ... Ich weiß natürlich, dass das zum Erzählkonzept gehört, habe mir aber trotzdem eine Namensliste gemacht. Hinreißend ist natürlich Doderers Stil mit dieser selbstverständlichen Hellsicht, wie ich ihn schon aus "Ein Mord den jeder begeht" kenne.

    Das Hin- und Herspringen im Zeitstrahl, für das die titelgebende Treppe sinnbildlich steht, kenne ich übrigens schon aus Dérys "Unvollendetem Satz". Da habe ich mich nach einer Weile ganz gut hineingefunden.


    Edit: der verlorene und wiedergefundene Schmuck gehörte nicht Asta, sondern Grete Siebenschein. Da haben wir's schon ...

    Nochmal Edit: Typisch ist vermutlich, dass ich kein Problem damit hätte, jetzt gleich (am Ende des ersten Teils) das Buch nochmal von vorne zu beginnen. Vielleicht mache ich das auch ... :D

  • Hier wirst du dich auch gut einfinden, besonders da du Doderer schon kennst.
    Du bist ja gut durchgekommen mit deiner Liste. ich habe noch drei Projekte, den Plivier: Der Kaiser ging, die Generäle blieben habe ich schon angefangen, aber war gerade so gar nicht mein Thema, sodass ich Krimis dazwischengeschoben habe. Ich hoffe aber, dass ich in den nächsten Wochen doch noch zu dem Plivier komme. Dann habe ich noch zwei Euripides-Dramen und ein kleines Mittelalter-Epos auf der Liste, das müsste zu schaffen sein.
    Dieses Jahr sind einige interessante Leseprojekte dazwischen gekommen. Man muss die Würfel halt nehmen, wie sie fallen. Nicht immer hat man das Glück, dass irgendwo eine Leserunde zu einem Buch zustande kommt, das man schon lange lesen wollte.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich habe in diesem Jahr mehr gelesen als je zuvor, und es waren mehr großartige Bücher und weniger Zweitlektüren dabei als je zuvor. Lesetechnisch ist ein phantastisches Jahr, das weiß ich jetzt schon. Ich erwarte sogar noch einige richtig gute Bücher.


    Die Liste für nächstes Jahr ist schon in Bearbeitung. Ich werde mal offenen Auges am Regal entlang gehen und auch den Keller durchforsten ...

  • Ja, ich bin auch schon auf Themensuche. Ich habe noch zahlreiche historische Romane sowohl aus der Unterhaltungsliteratur als auch aus der Weltliteratur stehen, mal sehen, ob ich mir aus dem letzteren eine Liste für dieses und aus den ersteren eine für das Mutterforum stricke.

    Den "Herzog Ernst" - das Mittelalterepos - hatte ich hier ja gar nicht auf der Liste, habe ich gerade gesehen. Lese ich aber trotzdem noch dieses Jahr.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich hab das Jahr für mich abgehackt. In jeder Hinsicht.

    Gesundheitlich komplett am Tiefpunkt. Ich hab zwar gelesen. Aber eher seichtes. Für Klassiker hatte ich keinen Nerv. Das kommt jetzt schön langsam wieder.

  • Zitat

    Ich hab das Jahr für mich abgehackt.

    Ein Freudscher Verschreiber?

    Für mich ist es, nachdem ich im letzten Jahr schon dachte, ich kann (nach drei Fuß-Ops) nie wieder richtig laufen, ab Februar endlich aufwärts gegangen. Ich drücke Dir die Daumen, Jaqui , dass es bei Dir auch wieder heller wird.

  • Zefira ja. Das war unabsichtlich :D


    Es geht bergauf. Ich habe den ersten großen Brocken hinter mir (Chemotherapie bei Brustkrebs). Jetzt kommt noch eine Operation, vielleicht Bestrahlung, eine Reha und dann ist es überstanden.


    Die Lust am Lesen kommt auch wieder zurück. Langsam aber sicher.

  • Danke.

    Den Mut und meinen Optimismus hab ich nicht verloren.


    Ein Buch will ich mindestens lesen. Dass ich nicht ganz kampflos untergehe 8o

    Auch von mir die besten Genesungswünsche und Anerkennung deiner Leistung bei dieser psychisch und physisch die letzten Kräfte fordernden Erkrankung.
    Wenn du noch einen Band von deiner Liste lesen willst: Lies doch einen Fontane, wie du es dir vorgenommen hast, die sind oft sehr amüsant und dennoch tiefgängig. So kannst du dich langsam wieder reingrooven. Oder nimm die Prosanacherzählung des Nibelungenliedes von Joachim Fernau, die macht auch sehr viel Lesespaß. Wollte jetzt aber nicht vorlaut sein :winken:.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ein Nachtrag zur Strudlhofstiege: es gibt im "Literaturliebhaberblog" einen tabellarischen Leitfaden zur Studlhofstiege zum Download. Für mich eine große Hilfe. Ich werde ihn alle paar Tage, wenn ich ein größeres Stück gelesen habe, zur Hand nehmen, damit ich mich nicht im Buch verlaufe.