Re: Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre

  • Das hier ist eine Leserunde de luxe! Gute Fragen, kluge Antworten, kompetente Kommentare. Ich kann nur allem zustimmen, was hier bislang zu den Wanderjahren geschrieben wurde, auch dem sich Widersprechenden und Kontroversen.


    Ja, , Sprücheklopfer Goethe durchsetzt seinen Roman mit Sentenzen und Aphorismen, wodurch dieser etwas belehrend Behäbiges bekommt, aber es finden sich immer wieder pfiffige Personen, die diese Weisheiten umdrehen, ins Gegenteil verkehren oder spielerisch in Frage stellen und dem ganzen das Gravitätische nehmen….
    Das Erzählerische tritt zurück hinter der Darlegung von Ansichten, Gedanken Weisheiten, das bedeutet aber nicht unbedingt, wie bonaventura schreibt und auch hier in der Leserunde anklingt, dass Goethe Romanhandlung nicht kann. Wie Faust II nur noch wenig von einem Drama hat, einen Bilderbogen vor dem Leser ausbreitet, so die Wanderjahre auf dem Felde des Romans...
    Mag sein, dass das additive Prinzip und eine gewisse Monotonie vorherrschen, was Schauplätze und Personen betrifft, aber nicht nur Güter mit ihren Majoren, Oheimen, Nichten etc. sucht W. auf . Gleich zu Anfang wird er auf Bergpfaden und in einer Klosterruine Zeuge der mythischen imitatio des Joseph (danke, Karamzin, für die Erinnerung an die Bilder der Nazarener),besucht später den wundersamen Antiquitätenhändler, der ihm u.a. die schöne Geschichte von der Nadel erzählt, und den weitläufigen Nicht-Ort der Pädagogischen Provinz…
    Ja, die Novellen scheinen wahllos eingestreut, als habe Goethe lediglich seine alten Papiere geordnet, Lost :breitgrins:, und irgendwie wiederverwertet, aber ich glaube mit Karamzin, dass den Geschichten, die schließlich alle ein Thema varieren, eine bewusste Komposition zugrundeliegt, sei es auch nur die, den Eindruck des Zwanglosen und Zufälligen zu erwecken.
    Die Novellenschlüsse sind bis auf Wer ist der Verräter? offen, der Schluss des Mannes von fünfzig Jahren wirklich hanebüchen@ Jaqui, stichwortartig, so als hätte Goethe keine Lust mehr gehabt, den skizzierten Entwurf auszuarbeiten. Der Leser bleibt frustriert zurück. Wer kriegt nun wen? Gut, eine Auflösung gibt es später im „Rahmen“, wenn Wilhelm Hilarie und die schöne Witwe als „Entsagende“ wiedertrifft. Aber die Geschichte selbst bleibt unvollendet. Ich glaube, Goethe piesackt den Leser mit Absicht, unter anderem um klar zu machen, dass es in der Geschichte nicht um Wer- bekommt- wen? geht.


    Ein Mann von fünfzig Jahren übrigens ist meiner Meinung nach eine sehr hintergründige Erzählung voll feiner (Selbst)Ironie.
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    Kann es sein, Karamzin und Jaqui, dass Ihr in bezug auf den Mann von fünfzig Jahren von Hersilie sprecht, aber eigentlich Hilarie meint?


  • Goethe hält den Ausgang seiner Novelle "Der Mann von funfzig Jahren" offen.


    Ich bin davon ausgegangen, dass jede Novelle in sich abgeschlossen ist und habe gedacht dass ich beim Lesen einfach was versäumt oder überlesen hatte. Aber offenbar ist dem nicht so.




    Die Novellenschlüsse sind bis auf Wer ist der Verräter? offen, der Schluss des Mannes von fünfzig Jahren wirklich hanebüchen@ Jaqui, stichwortartig, so als hätte Goethe keine Lust mehr gehabt, den skizzierten Entwurf auszuarbeiten. Der Leser bleibt frustriert zurück. Wer kriegt nun wen? Gut, eine Auflösung gibt es später im „Rahmen“, wenn Wilhelm Hilarie und die schöne Witwe als „Entsagende“ wiedertrifft. Aber die Geschichte selbst bleibt unvollendet.


    Ich hatte auch das Gefühl dass Goethe hier keine Lust mehr hatte das richtig auszuarbeiten.



    Kann es sein, Karamzin und Jaqui, dass Ihr in bezug auf den Mann von fünfzig Jahren von Hersilie sprecht, aber eigentlich Hilarie meint?


    Ja, das war mein Fehler, ich habe den falschen Namen verwendet, ist mir aber nicht mehr aufgefallen. :winken:


    Ich bin nun im Kapitel Betrachtungen im Sinne der Wanderer angekommen. Die Geschichte die Wilhelm erzählt mit den ertrunkenen Kindern hat mich sehr betroffen gemacht. Und ich kann verstehen dass er anschließend rastlos war und lernen wollte wie man ihnen hätte helfen können.


    Katrin

  • Hallo, willkommen Gontscharow!


    (dieser Schriftsteller verehrte übrigens Karamzin, glänzend sein "Oblomow", "Fregatte Pallas")


    Ich bin da auch wieder (wahrscheinlich im Unterbewusstsein) mit den "Lehrjahren" durcheinander gekommen, Hilarie statt Hersilien muss es heißen.


    Kannst Du mir mit "bonaventura" noch einmal auf die Sprünge helfen?


    Schließlich: in den Novellen werden immer wieder Grenzen sichtbar, an die die Akteure stoßen, es ereignet sich für sie Unerwartetes, Unvorhersehbares, wie es sich in Liebesdingen eigentlich auch gehört; anfängliche Gewissheiten, Planungen, ursprüngliche Festlegungen helfen nicht mehr weiter.


    Man hatte Goethe doch den Vorwurf gemacht, dass seine klassischen Figuren, seine Iphigenien, völlig der Welt entrückt seien, sein Rivale auf der Bühne, August von Kotzebue, griff hingegen Gegenwartsprobleme auf, von deren Bearbeitung das Publikum hingerissen war. Denke man nur an die eheliche Untreue der Ehefrau in Kotzebues "Menschenhaß und Reue" (1789), das bewegte damals die Leute ebenso, wie etwa in der Musik die Oper "Nina" von Paisiello (1788), bei deren ersten Aufführungen in Italien sich wildfremde Leute auf der Straße umarmten.



    Nachdem Goethe schon in den "Wahlverwandtschaften" (1808), die beim Lesen der "Wanderjahre" immer mit im Auge behalten werden sollten, das Neue in den Beziehungen der Geschlechter in einer Epoche der Umwälzungen darzustellen versuchte - die traditionelle, bisher kirchlich gesegnete Ehe wurde als Institution fragwürdig - blickte er in den "Wanderjahren" schon mehrfach weit in die Zukunft. Viele Zeitgenossen kamen schon gar nicht mehr mit.
    Um 1820 beschäftigte er sich intensiv mit Amerika, in dem viele das Land der Zukunft sahen. Etliche der Auswanderer wurden von profitgierigen Transportunternehmern auf den Schiffen zusammengepfercht und an der Küste Amerikas von modernen Sklavenhändlern empfangen, die billige Arbeitskräfte rekrutierten - Goethe las die entsprechenden Schilderungen der Siedler, er denkt in seinem Roman darüber nach, wie diese Auswanderung geordnet und planvoll ins Werk gesetzt werden könnte, und war darin seiner Zeit voraus.

  • Hmm. Mein Lieferant ist mir davon geritten? Ich hatte ihn eigentlich schon bezahlt und mich darauf verlassen dass er mit den Wanderjahren widerkehrt. Jedenfalls isat er in der zwischenzeit immer noch nicht da aber ich hoffe dass er sich einfach in der zustelladresse geirrt hat.


    Meier

    "Es gibt andere Geschichten auf einem andern Blatt Papier, doch jede ist mit der ersten verwandt" * Keimzeit

  • Bonaventura aka Dr. Marius Fränzel. Nicht zu verwechseln mit Bonaventura aka Ernst August Friedrich Klingemann. Oder gar mit Bonaventura aka Johannes Fidanza. :zwinker:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Bonaventura aka Dr. Marius Fränzel. Nicht zu verwechseln mit Bonaventura aka Ernst August Friedrich Klingemann. Oder gar mit Bonaventura aka Johannes Fidanza. :zwinker:


    Gontscharow Danke für den Link! und sandhofer für die weiteren Informationen.
    Die "Nachtwachen" Klingemanns (1804) kenne ich auch.




    bonaventura zieht ja recht bissig über Goethes „Wanderjahre“ her, im Gefolge von Arno Schmidt und anderen Kritikern des Romans. Es kann sein, dass das von seinen andersgearteten Lesegewohnheiten und Erwartungshaltungen herrührt. Wer vorwiegend Literatur des späten 19., des 20./beginnenden 21. Jahrhunderts zum Maßstab nimmt, mag zu einem derart schroffen Urteil gelangen. Wenn man aber die Entwicklung seit Goethes Jugendzeit und die Romane im 18. Jahrhundert betrachtet: der Dichter geht auf die 80 zu und experimentiert noch mit der Romanform! Wie unterscheidet sich dieser Roman von vorangegangener literarischer Produktion der „klassischen Periode“, die um 1830 zu Ende geht, als man sich noch am klassischen Formenkanon und der Antike orientierte, auch Goethe selbst. Mit den neuen, „offenen“ Schlüssen, den rätselhaften eingestreuten Novellen, die mehrere Deutungen zuließen, kamen schon die meisten Zeitgenossen nicht klar. Vieles in Goethes "Wanderjahren" weist bereits in die Zukunft, die zweite Hälfte des 19. und in das 20. Jahrhundert.


    Sowohl in den Inhalten (Maschinenwesen, pädagogische Utopie, die an die realen Fellenbergschen Anstalten in der Schweiz anknüpft, welche jedoch noch den Standesunterschied bei den Zöglingen kannten) als auch in der Form weist der alternde Goethe m.E. in die zukünftige Literatur, die mehr Schreibweisen zuließ, als das 18. Jahrhundert.
    Er nimmt noch 1830 die Anfänge des jungen Balzac wahr („Chagrinleder“), der zum Meister der Gestaltung sozialer Verwerfungen in Frankreich nach den napoleonischen Kriegen werden sollte, und ärgert sich über die mittelalterlichen Schaudergeschichten des Romantikers Victor Hugo im „Glöckner von Notre Dame“, doch dieser Schriftsteller sollte schließlich „Die Elenden“ (1862) verfassen.


    Auch meine Lesegewohnheiten unterscheiden sich stark von denen bonaventuras alias Marius Fränzel.


  • Das hier ist eine Leserunde de luxe! Gute Fragen, kluge Antworten, kompetente Kommentare. Ich kann nur allem zustimmen, was hier bislang zu den Wanderjahren geschrieben wurde, auch dem sich Widersprechenden und Kontroversen.


    Das kann auch ich nur unterschreiben. Ganz viel Respekt vor euren hervorragenden Stellungnahmen! Ich hab so wenig Zeit im Moment, dass mir durch das Lesen eurer Texte schon ein Gutteil meiner Lesezeit angenehm verfliegt. Dennoch habe ich es inzwischen geschafft, das erste Buch durchzulesen und stecke im 1. Kapitel des zweiten Buches.


    Nachtrag zu
    "Die pilgernde Törin": Karamzin, ich fand deine Ausführungen sehr erhellend. Nun, da ich weiß, dass der Text tatsächlich aus dem Französischen stammt. erschließt er sich mir ganz anders und die Hauptfigur ist mir viel sympathischer, da sie für eine Frauengestalt der damaligen französischen Literatur ganz ungewöhnlich entschlussfähig und auch auf modernste Weise schlagfertig ist.
    Ich habe noch einmal in meinem inzwischen eingetroffenen Erläuterungsbändchen (Königs Erläuterungen, ach ja, die Schulzeit damals ... ) nachgeschaut und dort genauere Daten zu dieser Erzählung gefunden. Sie erschien, wie Karamzin schon schrieb, das erste Mal 1789 (!) in den "Cahiers de lecture" und der deutsche Titel entspricht genau der Übersetzung "La folle en pélerinage". Schiller hatte sie frei verdeutscht 1799 in seinem Musenalmanach veröffentlicht.


    Nun zur Pädagogischen Provinz (II,1):


    Ganz am Anfang sagt der Aufseher über die Grußformen der Jungen:


    Gewissen Geheimnissen und wenn sie offenbar wären, muß man durch Verhüllen und Schweigen Achtung erweisen, denn dieses wirkt auf Scham und gute Sitten.


    Das erinnert mich wieder daran, dass Goethe Freimaurer war, eine Gesellschaft, die auch dazu neigt/e, eher Banales unter dem Mantel des Geheimnisvollen zu verbrämen.
    Interessant ist, dass hier anders argumentiert wird als von Seiten Jarnos/Montans, der am Anfang des Romans sagt, dass Kindern und Jugendlichen durchaus einige Informationen vorenthalten werden sollten, weil ihr Verstand dafür noch nicht reif sei. Dieser Argumentation kann ich folgen, derjenigen des Aufsehers weniger, weil man da Verhaltensweisen aufgrund von Verschleierung erzielen will.


    Interessant dagegen finde ich den Ansatz, dass das Singen das Lernen fördere: Das will ich gerne glauben. Kinder, die in Chören singen, sind oft auch gute Schüler. Das kann allerdings auch daran liegen, dass öfter gebildete Eltern ihre Kinder in Chorschulen schicken als die sogenannten bildungsfernen Schichten.


    Ich bin gerade an der Stelle, an der der Aufseher Wilhelm bei den "Oberen" abgibt. Da ist eine komische unlogische Stelle:


    Da sich der Obere nicht erreichen ließ, sagte der Aufseher: Ich muß euch nun verlassen, meine Geschäfte zu verfolgen, doch will ich euch zu den Dreien bringen, die unsern Heiligtümern vorstehen, euer Brief ist auch an sie gerichtet und sie zusammen stellen den Obern vor.


    Warum suchen der Aufseher und Wilhelm dann zuvor den Oberen, wenn der Aufseher doch weiß, wo die drei zusammen sind und dass es gar keinen einzelnen Oberen gibt? Was habe ich da nicht verstanden oder übersehen?


    Allgemein zum realen Hintergrund der "Pädagogischen Provinz": Laut meinen Erläuterungen (s.o.) fußt der Grundgedanke auf der Pestalozzischen Pädagogik, deren Orientierung an den Armen aber hier durch die "Weiter"entwicklung im Sinne Philipp Emanuels von Fellenberg einen aristokratischen Zug bekam und die Erziehung zur praktischen Ausbildung durch wissenschaftliche Studien für adelige Zöglinge ergänzte. Spiegelt sich das eurer Meinung nach in dem Ausdruck "Wohlgeborene gesunde Kinder ...", den die drei Oberen im ersten Gespräch mit Wilhelm verwenden oder ist dieser Ausdruck nicht aristokratisch bezogen?


    Ich werde heute vielleicht noch ein wenig weiterkommen und bin momentan mit den W.M.W. dank eurer weiterfühenden Kommentare wieder versöhnt.


    Noch eine letzte Frage. Die Figuren der eingefügten Novellen und der Personen, die Felix begegnen, haben so gesuchte, romanische Namen: Soll das eine Anspielung auf den Handlungsort - wohl ein ideales Südtirol und Eisacktal? - sein oder hat Goethe allgemein eine Vorliebe für derartige Namen, die ja ähnlich z.T. auch schon in den Wanderjahren vorkommen?


    meier:
    Einerseits tut es mir leid, dass du dein Buch immer noch nicht erhältst, andererseits finde ich es witzig, wie deine afrikanischen Probleme hier durch diese schöne, aber natürlich recht abgehobene Diskussion geistern.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Heute abend vielleicht drei Bemerkungen:
    finsbury und andere


    Goethe und die Freimaurerei


    Bei der Schilderung der "Turmgesellschaft" in "Wilhelm Meisters Lehrjahren" (1796) wird deutlich, dass die freimaurerische Phase Goethes hinter ihm lag und er das geheimnistuerische Gebaren der Freimaurer an mehreren Stellen nunmehr (selbst-)ironisch betrachtete.
    Nachdem Goethe am 23. Juli 1780 als Lehrling in die Weimarer Loge "Anna Amalia" (!) aufgenommen worden war, war er ab 1783 de facto Leiter der Weimarer Regierung. Am 11. Februar 1783 unterschrieb er nach Herzog Ernst von Sachsen-Gotha und Karl August von Sachsen-Weimar den Antrag zur Aufnahme in die Geheimgesellschaft der Illuminaten, die der Aufklärer Adam Weishaupt in Bayern gegründet hatte, die nach jesuitischem Vorbild mit strenger Geheimhaltung aufgebaut war und etliche Herrscher deutscher Kleinstaaten dazu anhielt, eine neue Organisation der politischen Geschäfte auf aufklärerischer Grundlage herbeizuführen. In Bayern wurden die Illuminaten 1784 verboten, zu denen auch der bekannte Freiherr von Knigge gehörte. Als ihr Führer Adam Weishaupt in die Länder der sächsischen Herzöge emigrierte, verweigerten ihm Goethe und Karl August 1785 eine Professur in Jena und zogen sich wieder von maurerischer Betätigung zurück. Daniel Wilson stellte die Hypothese auf ("Geheimräte gegen Geheimbünde", 1991), dass Karl August und Goethe als Obrigkeit mit ihrem Eintritt in den Illuminatenbund die Untergrundtätigkeit der Freimaurer überwachen wollten, doch wurde diese These von den meisten Forschern zurückgewiesen. Die Unterschrift Goethes vom 11.2. 1783 tauchte in der so genannten "Schwedenkiste" mit Freimaurerakten, die nach 1945 nach Moskau gelangt war, in dem Organ des russischen Geheimdienstes "Sovershenno sekretno" (Vollständig geheim), Nr. 4 (47), 1993, S. 11, als "Sensation" auf, doch war sie der Forschung schon seit 1889 bekannt; bloß wollte man eben lange Zeit nichts von freimaurerischer Betätigung Goethes hören (Nazizeit, DDR). Die deutsche Archivarin Renate Endler (erst Merseburg, dann Berlin-Dahlem) machte die Akten der Forschung allgemein zugänglich.


    Vgl. Helmut Keiler (Hg.): Querelen um die Schwedenkiste Band X in Moskau. Archivsignatur 1412 (1) 5432. Giessen 1994.


    Zu Südtirol und dem Eisacktal


    So sehr heute diese wunderschöne Landschaft zum Anziehungspunkt für den Tourismus geworden ist (Kafka suchte Heilung im Kurort Meran), so sehr suchten die Italien-Reisenden möglichst schnell durch Bozen und weiter nach Süden durchzukommen, und Meran wurde als völlig unbekannt, abseits von der Hauptstraße liegend, beiseite gelassen. Im Etschtal drohten noch Fiebersümpfe. Man lese die Schilderungen der Italienreisenden, Goethes selbst. Erst die Aussicht auf den Gardasee ließ die Reisenden spüren: jetzt erst sind wir in Italien.


    Und nun noch etwas, was bestimmt nicht in den Kommentaren steht, weil eine direkte Verbindung unmöglich nachweisbar ist, wenngleich die Idee umgesetzt wurde: sprechende Wände, belehrende Bildergalerien. Eine Bekannte machte mich darauf aufmerksam, dass sie bereits in Campanellas Utopie "Der Sonnenstaat" als Hilfsmittel der Bildung zu finden sind. Mit General Graf Friedrich zu Anhalt (1732-1794), einem Enkel des "Alten Dessauers" und entferntem Verwandten der Kaiserin Katharina der Großen, waren um 1783/84 die Hoffnungen zahlreicher Aufklärer verbunden, den humanistisch gebildeten, bei Militärs und Zivilisten wegen seiner Hilfsbereitschaft und seines Humors überaus beliebten Anhalt als politisch-militärisch führende Persönlichkeit in Mitteldeutschland zwischen Preußen und Österreich zu sehen. Der alternde Preußenkönig Friedrich II. beleidigte ihn, seinen einstigen Generaladjutanten. Anhalt, der mit Immanuel Kant in Königsberg zu Tisch gesessen und am "Philantropin" in Dessau geweilt hatte, ging in kursächsische Dienste, traf 1778 und 1781 amtlich mit Goethe zusammen, schließlich wandte er sich nach Russland. Er leitete das Landkadettenkorps in St. Petersburg, sein Nachfolger wurde Michail Kutuzov, der russische Oberbefehlshaber 1812 (Tolstoj: "Krieg und Frieden"). Generalleutnant F. von Anhalt zog den Dramatiker Friedrich Maximilian Klinger als engen Helfer dorthin; Jacob Michael Reinhold Lenz wandte sich von Moskau aus ebenfalls an Anhalt um Unterstützung. Und jetzt kommt es: in dieser Erziehungsanstalt schuf er eine "Sprechende Wand" sowohl im "Erholungssaal" der jungen Kadetten (Alter 6 - 20 Jahre), als auch auf der Außenmauer, die er in zwei Büchern 1790 und 1791 vorstellte: "La salle de recreation" und "La muraille parlante".


    Schon um 1800 machten sich die Petersburger lustig über den "deutschen Pedanten" und seine "sprechende Wand", auf der sich Sprichwörter, die Lehren des weisen Konfuzius, Montaignes, Voltaires und vieler anderer Geistesgrößen wiederfanden. Das pädagogische Verfahren aber war Goethe durchaus geläufig.
    Es müsste mal einer eine Biographie dieses Friedrich zu Anhalt schreiben, der die Französische Revolution begrüßte und Zeitungen aus dem revolutionären Paris in seinem "Erholungssaal" auslegte, mit seinem Fortgang nach Russland allerdings der germanistischen Forschung entschwand. :zwinker:

  • Karamzin, herzlichen Dank für deine Rückmeldung.


    Zu Südtirol und dem Eisacktal


    So sehr heute diese wunderschöne Landschaft zum Anziehungspunkt für den Tourismus geworden ist (Kafka suchte Heilung im Kurort Meran), so sehr suchten die Italien-Reisenden möglichst schnell durch Bozen und weiter nach Süden durchzukommen, und Meran wurde als völlig unbekannt, abseits von der Hauptstraße liegend, beiseite gelassen. Im Etschtal drohten noch Fiebersümpfe. Man lese die Schilderungen der Italienreisenden, Goethes selbst. Erst die Aussicht auf den Gardasee ließ die Reisenden spüren: jetzt erst sind wir in Italien.


    Wo hat man sich die beschriebene Landschaft denn dann vorzustellen? An den oberitalienischen Seen oder schon in der Po-Ebene? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Goethe, der diese ganzen Landschaften ja kannte, nicht eine zu seiner Zeit real existierende Landschaft als Vorlage diente, die er dann gemäß seiner Absichten idealisierte.


    Nun bin ich bei den Fresken, deren interessante Verbindungen nach St. Petersburg du ja offengelegt hast, Karamzin.


    Was ich erstaunlich finde, ist die Betrachtung der äußeren Fresken, die allein der Geschichte des israelischen Volkes gewidmet sind, wobei aber die Bedeutung der biblischen Geschichten des Alten Testaments als Grundlage auch des Christentums völlig außer Acht gelassen wird. Hat man sich da z.B. nicht ein Bild mit Moses und den Gesetzestafeln auf dem Berg Sinai vorzustellen?
    Interessant auch der im Nebensatz geäußerte alltägliche Antisemitismus in den vergangenen Jahrhunderten:


    Das israelitische Volk hat niemals viel getaugt, wie es ihm seine Anführer, Richter, Vorsteher und Propheten tausendmal vorgeworfen haben; es besitzt wenig Tugenden und die meisten Fehler anderer Völker
    dann allerdings gleich im Anschluss:
    aber an Selbstständigkeit, Festigkeit, Tapferkeit, und wenn alles das nicht mehr gilt, an Zähheit sucht es seinesgleichen.


    Goethes Verhältnis zum Judentum war wohl ziemlich widersprüchlich und auch von den Vorurteilen seiner Zeit geprägt, die uns, die heute um die schrecklichen Folgen wissen, abstoßend vorkommen, aber von den Damaligen wahrscheinlich eher im Sinne der auch heute von uns so geschmacklos und alltagsrassistisch gemachten Dönerwitze u.Ä. verwendet wurden.
    Ich verlinke dazu einen interessanten Artikel von Ursula Homann im Materialienteil.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

    Einmal editiert, zuletzt von finsbury ()

  • Und nun noch etwas, was bestimmt nicht in den Kommentaren steht, weil eine direkte Verbindung unmöglich nachweisbar ist, wenngleich die Idee umgesetzt wurde: sprechende Wände, belehrende Bildergalerien. Eine Bekannte machte mich darauf aufmerksam, dass sie bereits in Campanellas Utopie "Der Sonnenstaat" als Hilfsmittel der Bildung zu finden sind.


    Hochinteressant und fast so etwas wie ein Fall von Gedankenübertragung: Gestern verspürte ich im Zusammenhang mit den Wanderjahren den Drang in Campanellas Utopie Citta del sole zu stöbern!
    Das Werk des kalabresischen Dominikaners Campanella, Zeitgenosse und „Anhänger“ Gallileis, der als „Anzettler eines süditalienischen Volksaufstands“ Jahrzehnte im römischen Knast schmorte und dort seine Sozialutopie von der Aufhebung des Eigentums verfasste, hat mich letztes Jahr bei meiner Reise durch Kalabrien begleitet. Ich fand das Büchelchen zu meinem Erstaunen zwischen Zeitungen und Andenken in der Bahnhofsbuchhandlung von Reggio Calabria - schon das ein Zeichen, dass dieses Werk des frühen 17.Jahrhunderts im südlichsten Zipfel Italiens, wo die Zeit ohnehin stehengeblieben zu sein scheint, noch heute bekannt und populär ist. Das bestätigte sich, als ich im Zug und am Strand darauf angesprochen wurde ….

    Ich wollte, wie gesagt hineinschauen, weniger wegen der Bildergalerien als wegen der „ drei Oberen“, die auch dem Sonnenstaat vorstehen. Der Satz aus den Wanderjahren, den du zitierst finsbury, ist ja wirklich paradox!

    Zitat von finsbury Gestern um 19:06


    Warum suchen der Aufseher und Wilhelm dann zuvor den Oberen, wenn der Aufseher doch weiß, wo die drei zusammen sind und dass es gar keinen einzelnen Oberen gibt? Was habe ich da nicht verstanden oder übersehen?


    Absichtliche Irreführung, Versehen oder sybillinisches Offenbaren eines Geheimnisses?? Siehe da, in Campanellas Sonnenstaat ist dem herrschenden Triumvirat noch ein Vierter, der Metaphysicus, vorangestellt. In dem von dir zitierten Satz klingt es auch so, als seien es vier: drei einzelne, die erreichbar sind, und die drei als Einheit, ein Vierter also, der nicht erreichbar ist. Ein bisschen wie bei Reinhard Baumgarts Die Macht des Vierten, wo hinter der europäischen „hochelaborierten Mystik der Dreiheit“ immer noch ein Viertes/ein Vierter lauert….


    Das Schöne an der Wanderjahren-Lektüre: Man kann guten Gewissens der Esoterik frönen, ist ja von Goethe.


    Zitat von finsbury : Heute um 11:02

    Wo hat man sich die beschriebene Landschaft denn dann vorzustellen?


    Also ich habe sie mir von Anfang an in der Schweiz, im Tessin, vorgestellt. Wilhelms Weg führt ja dann vom Hochgebirge zum Großen See, wo Mignon ursprünglich herkommt, gemeint ist wohl der Lago Maggiore…
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    Mir ist ein Fehler unterlaufen: der Herausgeber der Beiträge ist der Philosoph Reinhard Brandt, nicht Baumgart:
    Reinhard Brandt (Hg.)
    Die Macht des Vierten
    Über eine Ordnung der europäischen Kultur
    Ich zitiere mal aus dem Vorwort von Brandt:
    In den neun Beiträgen dieses Bandes wird die Bedeutung der Denkfigur des Vierten in der Philosophie seit Platon bis Schopenhauer exemplarisch demonstriert, herausgestellt und reflektiert. …
    1, 2, 3 / 4: Drei Dinge werden aufgeführt, aber ihr Grund oder Zweck, ihre dirigierende Einheit liegt im abschließenden Vierten.
    Diese von Homer bis Platon, von den Heiligen Königen bis zum Vierten Stand des Proletariats wirksame Gestaltung einer Vielheit als Einheit ist weder logisch noch mathematisch begründet und ist so der Selbstreflexion der europäischen Kultur fast gänzlich entgangen. Dennoch ist sie eine immer wiederkehrende Konstellation, die in der Dichtung, den Institutionen und der Bildkunst als schlüssige Komposition dient; sie formt den Inhalt und gehört zu ihm…

  • Ich würde auch sagen, dass sich der Großteil der Handlung einige Tagesreisen im "Umritt" des Lago Maggiore abspielt, wobei die Gegend für Goethe ja auch nur ein Landesteil seiner Sehnsüchte war. Er war zwar dreimal in der Schweiz, ist aber nicht von dort nach dem Süden, nach Italien vorgestoßen.


    http://commons.wikimedia.org/w…e%27s_Italian_Journey.png


    Nicholas Boyle (Bd. II, 1999, S. 519) schildert, wie Goethe 1795, also nach seinen Italienreisen, die Aquarelle vom Lago Maggiore und seinen Inseln ansah, die der Weimarer Maler Georg Melchior Kraus von einer Studienreise in diese Gegend mitgebracht hatte.


    http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Melchior_Kraus


    Wenige Jahre später ließ Jean Paul einen Teil seines Romans "Titan" in einem Palast auf der Isola Bella des Lago Maggiore spielen, wo er nie war. Aber diejenigen, die diese Gegend aus eigenem Augenschein kannten, mussten sie in der Schilderung im Roman wiedererkennen. Jean Paul hat sich eifrig Reiseschilderungen und Kupferstiche angesehen, und die Illusion des eigenen Augenscheins konnte dann auch erzeugt werden.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Isola_Bella_(Lago_Maggiore)

  • Wie angekündigt, will ich in den Teilen noch einmal „nachwaschen“, die von Euch bereits gelesen wurden.



    Wer ist der Verräter?

    Anna Magdalena hat diese Novelle nicht so gut gefallen, für finsbury ist sie sogar eine „unsägliche Geschichte“.


    Ich war in meiner Kindheit und Jugendzeit in Erfurt und Weimar auf den Spuren Goethes und anderer Zeitgenossen aufgewachsen, ich stand in meiner Geburtsstadt Erfurt vor der Tafel, die an die Begegnung Goethes mit Napoleon 1808 erinnerte, am Dacherödenschen Haus, wo Wilhelm von Humboldt die kluge Caroline von Dacheröden heiratete. Als ich 1978 die „Wanderjahre“ las – ich gestehe es – identifizierte ich mich als junger Mann weitgehend mit der literarischen Figur des Lucidor. Mich hätte die stille, häusliche Lucinde mit ihrer „Geradheit und Reinheit“ (HA, S. 87) mehr angezogen als die quirlige Julie mit ihrem Reisedrang.
    Mir fielen damals die großen Ähnlichkeiten mit Goethes „Wahlverwandtschaften“ ein: auf dem Gut erscheint ein Schwarm von Gästen mit Charlottes verzogener und mutwilliger Tochter Luciane, die immer im Mittelpunkt stehen will. Sie belustigt sich über Bilder von Affen, die sie mit ihnen bekannten Personen vergleicht. Das dürfte sowohl ein Beitrag Goethes zur Diskussion über die Zwischenglieder zwischen Affen und Menschen ("Orang-Outan"-Diskurs) als auch eine Kritik an der Physiognomie, der Lehre Lavaters, gewesen sein.
    Affen waren für Goethe „abscheuliche Geschöpfe“, denen er offenbar ebenso Abneigung entgegen brachte, wie Brillen und Tabakrauch. Die nervige Luciane posierte, tanzend verschiedene Figuren darstellend, wie Lady Hamilton in Neapel, die die Mätresse und spätere Gattin des viel älteren schwerreichen Lord Hamilton war, des „Liebhabers des Vulkans“ (in meinen Augen schlechter Roman der Susan Sonntag), den sie schließlich betrog. Goethe lernte das Paar während seines Besuchs in ihrer Villa und der Besteigung des Vesuv kennen.


    Jetzt aber endlich zurück zu „Wer ist der Verräter?“: Julie hat im Unterschied zur oberflächlichen Luciane ein ernsthaftes Interesse an Geographie und Reisen, wofür ihr der welterfahrene Antoni als Partner gerade recht kommt. Ihr steht es zu, dem unbeholfenen Lucidor am Schluss in der Kutsche etwas Lehrreiches zu vermitteln (auch in „Lotte in Weimar" Thomas Manns findet das letzte geisterhafte Gespräch in einer Kutsche statt; Charlotte kann dem Dichter für die letzten Lebensjahre noch einige Wahrheiten mitgeben).


    Nicht zufällig heisst Antoni so ähnlich wie Antonio im „Torquato Tasso“. Ihn fasst der Held, Lucidor, wie zuvor auch Tasso, zunächst als Nebenbuhler und Gegner auf, doch erweist sich dieser am Schluss, wenn auch nicht als Freund, so doch als erträglicher Schwager.


    Goethe ironisiert das Herangehen der Juristen, der er selbst in Straßburg und Wetzlar einer war, und nimmt zugleich ihre Maximen ernst, die freilich ins Groteske umschlagen können: „Wir sollten vertraute Geschäfte der Freunde wie unsere eigenen behandeln“ (HA, S. 106). Lucidor kann nicht anders, als in eigenen Herzensangelegenheiten ebenso vernünftig zu verfahren.


    Es ist gesagt worden, dass in der Novelle „Kommunikation verweigert“ wird, von der oben von mir erwähnten Autorin, von der ich noch berichten wollte: Henriette Herwig: „Wilhelm Meisters Wanderjahre“: Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie. 2. Aufl. Tübingen/Basel 2002.

  • Wer ist der Verräter - 2


    Professor N., der Vater Lucidors, ist wie der Oberamtmann Witwer. Goethe spielt an den drei jungen Leuten durch, wie unterschiedlich Kinder aufwachsen können, denen in jungen Jahren die Mutter genommen wurde.


    Mit dem Vater und Sohn kommt der universitäre Bereich ins Spiel, den Goethe in Straßburg kennenlernte. Ich habe bei den Novellen immer Bilder vor Augen, in diesem Falle ist es die Universitätsstadt Jena, in deren Nähe sich das Gut Drackendorf befand, wo der alternde Goethe der jungen Sylvie von Ziegesar den Hof machte, was sich auch noch in Karlsbad fortsetzte. Das war keine tragische Leidenschaft mehr, sondern nur eine herzliche, verspielte Zuneigung des 53-jährigen „Mannes von funfzig Jahren“ Goethe.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Sylvie_von_Ziegesar


    (gemäß der von mir favorisierten Hypothese war dann auch 1823 Ulrike von Levetzow in Marienbad nicht mehr die letzte große Liebe und der alte Goethe schon liebesblind; sondern die „Marienbader Elegien“ sind die Erinnerungen eines reifen Mannes an eine längst verflossene Zeit des Liebesglücks.)


    Der „Anton Reiser“, auf den Goethe mehrfach anspielt, war der bitterarme Romanheld seines Freundes in der italienischen Zeit, Karl Philipp Moritz (1756-1793), den Goethe nach dessen Sturzverletzung eigenhändig am Krankenbett pflegte. Der „Anton Reiser“ ist eine erschütternde Lektüre, die autobiographische Momente enthaltende Schilderung der Entwicklung eines jungen Mannes, der in Pyrmont in einer pietistisch-seelenzerquälerischen Umgebung (Quäkergemeinde in der Nachfolge der quietistischen Madame de Guyon, die es heute noch gibt) aufwuchs, buchstäblich Hunger litt, als Handwerkslehrling ausgebeutet wurde (Hände blutig gescheuert) und, wie Wilhelm Meister, zu einer Theatertruppe stieß.
    „Anton Reiser“ ist ebenso ein spannendes autobiographisches Zeugnis, wie die Jugenderinnerungen des Augenarztes und Pietisten Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817), der sich nach den „Stillen im Lande“ nannte, die auch in der Novelle „Das nußbraune Mädchen“ erscheinen (HA, S. 130).


    Gerade von der „Isola Bella“ wollte Julie etwas erfahren, der Insel im Lago Maggiore (siehe oben).
    Schließlich unternahm Goethe ebenfalls 1774 so eine Rheinfahrt „zwischen Mainz und Koblenz“ (S. 90), mit dem Physiognomiker Lavater und dem Pädagogen Basedow als zeitweiligen Reisegefährten. Und wenn Lucidor in einer „guten Lehranstalt“ nicht nur herangebildet, sondern auch in Dingen Herz und Verstand erzogen wurde, so könnte das ein „Philantropin“ von der Art der 1774 von eben diesem Basedow in Dessau gegründeten Lehreinrichtung gewesen sein. Aber jetzt höre ich auf mit „Wer ist der Verräter?“

  • Gott zum Gruße zusammen!


    Ich bin am Wochenende kaum zum Lesen gekommen, daher jetzt erst mit dem 'Mann von fünfzig Jahren' durch.


    Mich hat diese kleine Erzählung doch sehr erheitert und berührt aufgrund ihrer so nachvollziehbaren Menschlichkeit (beinah hätte ich geschrieben 'Männlichkeit'). Wie hier die Auseinandersetzung eines Mannes mit seinem beginnenden Alter und der Aussicht auf die Verbindung mit einer jungen Frau heiter und trotzdem treffend beschrieben wird, hat mir sehr gut gefallen. Der nur angedeutete Schluss irritierte mich weniger. Die Handlung der Erzählung war ja in einer gewissen Sackgasse gelandet, wo es vor allem der Zerschlagung oder Auflösung des Knotens bedurfte. Und diese wird angedeutet, zugleich durch die Einführung Markariens die Verbindung zur Haupthandlung hergestellt.


    Dramaturgisch und im Hinblick auf das Romanganze empfinde ich diese Erzählung als nicht schlecht plaziert. Nach der Schilderung der etwas kühlen Idealwelt der Pädagogischen Provinz schlägt hier das pralle Leben mit seinen Verirrungen und Verwirrungen der Gefühle und Sehnsüchte zu. So werden die Handelnden Personen auch einmal als 'Verwirrte und Verirrte' angesprochen. Hier stellt Goethe eine Balance her, die die päd. Provinz als solche vermissen lässt.


    Zur Rolle des Gesangs in der päd. Provinz - sowas höre ich als Sänger ja gerne. Es ist sofort nachvollziehbar und auch mittlerweile gut belegt. Jüngst hörte ich einen Radiobeitrag über das noch weiterreichende Konzept einer kunstgestützten Lernmethodik. Kinder lernen das Einmaleins oder chemische Formeln besser und nachhaltiger, wenn sie sie singen oder tanzen. Voilà: http://www.ltta.de


    Noch eine Anmerkung zur Pädagogischen Provinz: Die Fruchtbarmachung aller religiösen Traditionen (Heidentum, Judentum, Philosophie und Christentum) hat etwas durchaus Faszinierendes. Bemerkenswert ist freilich, dass Goethe bei der Einbindung des Christentums in dieses Konstrukt vor allem die belehrend-gleichnishaften Aspekte der christlichen Tradition benennt - die Passion, Tod und Auferstehung Christi aber ausspart. An diesem Punkt scheitern seine ästhetischen und dogmatischen Ansprüche. Damit verfehlt er natürlich aus der Sicht der weiteren christlichen Tradition den Kern - aber umso überraschender ist dann, dass er auf einem anderen Wege zu einer Lebenshaltung und Weltanschauung gerät (einer Ehrfurcht gegenüber dem, was ist und einer Haltung der puren Präsenz), die der des Christentums sehr nahe ist.


    finsbury: Ich verstehe ein gewisses Stutzen angesichts der von Dir zitierten Passage zum Judentum. Gleichwohl handelt es sich hier nicht um einen Ausdruck eines 'alltäglichen Antiseimitismus', wie man vermuten könnte. Diese Feststellung ist durchaus eine treffende Zusammenfassung dessen, was in weiten Teilen die Bücher des Alten Testamentes durchzieht - also die ewige Spannung zwischen göttlichem Ideal und menschlicher Untreue, menschlichen Unwillens und menschlichen Versagens - dargestellt am göttlichen Bundesvolk Israel. Freilich nimmt die Aussage hier die Kritik für die Wirklichkeit, was immer problematisch ist.


  • ...


    Noch eine Anmerkung zur Pädagogischen Provinz: Die Fruchtbarmachung aller religiösen Traditionen (Heidentum, Judentum, Philosophie und Christentum) hat etwas durchaus Faszinierendes. Bemerkenswert ist freilich, dass Goethe bei der Einbindung des Christentums in dieses Konstrukt vor allem die belehrend-gleichnishaften Aspekte der christlichen Tradition benennt - die Passion, Tod und Auferstehung Christi aber ausspart. An diesem Punkt scheitern seine ästhetischen und dogmatischen Ansprüche. Damit verfehlt er natürlich aus der Sicht der weiteren christlichen Tradition den Kern - aber umso überraschender ist dann, dass er auf einem anderen Wege zu einer Lebenshaltung und Weltanschauung gerät (einer Ehrfurcht gegenüber dem, was ist und einer Haltung der puren Präsenz), die der des Christentums sehr nahe ist.


    ...


    Von all dem Interessanten, was Du schreibst, will ich mir das über die christliche Tradition herausgreifen.
    Im 18. Jahrhundert waren einige religiöse Autoren massenhaft gelesen worden, von Lessing, Herder zustimmend, wie "Der Christ in der Einsamkeit" (1758) des in Bremen geborenen und in Schlesien tätigen Martin Crugot (1725-1790) oder "Die Bestimmung des Menschen" (1748) von Johann Joachim Spalding (1714-1804), in denen Jesus Christus und seine Tat als Erlöser nicht ein einziges Mal vorkommen! Dabei hatten beide Autoren einen hohen Rang in der protestantischen Geistlichkeit inne und waren angesehen.


    "Der Christ in der Einsamkeit" von Crugot, das sind hymnische Betrachtungen eines Christen über sein intimes Verhältnis zu Gott, die er am Morgen bei aufgehender Sonne, abends, bei Anbruch der Dunkelheit, und in tiefer stiller Nacht anstellt. Crugot wandte sich dem zu seiner Zeit populären Thema der "Einsamkeit" zu, mit dem eine Individualisierung des Gläubigen verbunden war. In der "Bestimmung des Menschen" Spaldings begibt sich der Christ bewusst in die Hände Gottes, ohne dass die Vermittlung durch Christus auch nur erwähnt ist. Die Königin Elisabeth Charlotte von Preußen war von Crugot und Spalding so begeistert, dass sie ersteren ins Französische übersetzte, um ihren ins Freigeistige verirrten Gemahl Friedrich II. vielleicht doch noch auf den Weg des Glaubens bringen zu können.
    Das Christentum ist vor allem eine Morallehre für das Individuum, das sein eigenes Verhältnis zum Allmächtigen, zur All-Natur herstellt, bis zum Pantheismus Goethes ist es nicht mehr weit.


  • Das Christentum ist vor allem eine Morallehre für das Individuum, das sein eigenes Verhältnis zum Allmächtigen, zur All-Natur herstellt, bis zum Pantheismus Goethes ist es nicht mehr weit.


    Ja, die Religion der Aufklärung - die in sich wiederum sehr viel von einer säkular verstandenen Variante des Pietismus hat. Nimm den Pietismus in seinem Entwicklungsgedanken, seinem pädagogischen Impetus, seinem Heiligungsstreben und ziehe die religiöse Dimension ab - schon landest Du bei der Aufklärung par excellence, selbst in den verstiegenen und spekulativen Elementen, die sich manchen pietistischen Zirkeln finden, und die dem Aufklärungszeitalter ja ebensowenig fremd sind.


    Eine grundlegende Wende in dieser Entwicklung hat da wohl erst Schleiermacher geschafft, der in seiner Religionsphilosophie und seiner christlichen Dogmatik die Auflösung ins ethisch-moralische ohne tiefgreifende transzendente Elemente aufgebrochen hat.


    Hat Goethe eigentlich Schleiermacher rezipiert? Muss ich jetzt mal recherchieren...

  • Das Verzeichnis der Bibliothek Goethes ist mittlerweile 56 Jahre alt:


    Goethes Bibliothek. Katalog. Bearbeiter der Ausgabe: Hans Ruppert. Weimar 1958.


    In Weimar geht man jetzt daran, die Bibliothek mit modernen Mitteln zu erschließen. Mit Hilfe der Elektronik können Randbemerkungen, Eigentumsnachweise und ähnliches gut eingearbeitet werden.


    5424 Nummern umfasst der Katalog. Die Theologie nimmt darin nur einen verhältnismäßig kleinen Platz ein, von den Nummern 2603 bis 2739. Schleiermacher oder Spalding sind nicht darin vertreten. Über seine Universitätsverbindungen in Jena und Göttingen ist es verständlich, dass Goethe Werke der führenden Theologen Eichhorn in Göttingen und Paulus in Jena für seine Bibliothek erhielt.


    Gontscharow


    S. 464, Nr. 3185
    "CAMPANELLA, Thomas. - F. Thomae Campanellae De sensu rerum et magia libri quatuor ... Francofurti 1620. 8 Bl., 371 S.
    Tag- und Jahreshefte 1817: "Zufällig macht' ich mir ein Geschäft, eine alte Ausgabe des Thomas Campanella de sensu rerum von Druckfehlern zu reinigen: eine Folge des höchst aufmerksamen Lesens, das ich diesem wichtigen Denkmal seiner Zeit von neuem zuwendete."


    Was die Pädagogik betrifft, so sind die Werke Pestalozzis nicht vertreten.
    Der russische Staatssekretär griechischer Herkunft, Graf Capo d'Istria (1776-1830), eine zeitlang Leiter der russischen Außenpolitik, Freund Karamzins und erster Präsident des freien Griechenlands, der durch eine Verschwörung ermordet wurde, schickte 1814 an Zar Alexander I. eine Beschreibung der Fellenbergschen Erziehungsanstalten:


    S. 469, Nr. 3219, Capo d’Istria, Comte de: Rapport présenté à sa Majesté l’Empereur Alexandre …. sur les établissements de M. Fellenberg à Hofwyl en Octobre 1814. Paris et Genève:Paschoud 1815. 92 S., 2 Bl.


    Schließlich finden sich mehrere Titel über Amerikareisen, wobei Alexander von Humboldt Reisen in die Äquatorialländer dokumentierte.


    S. 589, Nr. 4098
    Bernhard Herzog zu Sachsen-Weimar-Eisenach. - Reise Sr. Hoheit des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach durch Nord-Amerika in den Jahren 1825 und 1826. Hrsg. von Heinrich Luden. Weimar 1828. XXXXI, 317 S., 3 Kupfertafeln usw.


    Das Elend der "spontanen" Auswanderer nach Amerika:
    S. 590, Nr. 4104 GALL, Ludwig: Meine Auswanderung nach den Vereinigten Staaten in Nord-Amerika, im Frühjahr 1819 und meine Rückkehr nach der Heimath im Winter 1820. Th. 1.2. Trier 1822.




    Solche Bibliothekskataloge müssen allerdings nicht zu viel besagen. Goethe konnte sich zunächst aus der Bibliothek seines Vaters und dann auch aus der Herzoglichen Bibliothek in Weimar und anderen Büchersammlungen bedienen, und wenn andererseits der eine oder andere Titel seinen Bücherschrank zierte, so heißt das noch lange nicht, dass er ihn auch gründlich gelesen hätte.

  • Die Novelle "Das nußbraune Mädchen" ist nun tatsächlich sehr kurz und geht unmittelbar in die Handlung über.


    Was aber zumindest an Eindrücken festgehalten werden sollte: Die Fürbitte des "nußbraunen Mädchens", das dem "Baron" in den Parkanlagen gegenübertritt, muss daran erinnern, dass sich der Beginn der Begegnungen Goethes und der Blumenherstellerin Christiane Vulpius im Weimarer Ilmpark 1788 so abgespielt haben könnte, deren Äußeres durchaus dem des "nußbraunen Mädchens" entsprochen haben kann (sie hatte einen dunklen Teint).


    Goethe hat, wie Nicholas Boyle in Teil II festhält, ab 1796 noch innigere Liebe zu seiner Gefährtin Christiane empfunden, die allerdings noch nicht in der Weimarer Gesellschaft anerkannt war, der Sex trat in ihrem Verhältnis zurück. Sie half ihm, hielt ihm den Rücken frei, wärmte ihn auf, berichtete ihm, was im Weimarer Theater vorging und war nicht das "Dummchen am Herd" - Sigrid Damm setzte sich ja auch vehement für Christiane als eine beeindruckende Persönlichkeit ein.


    Goethe musste sich während seiner Italienreise zeitweise als "Baron" ausgeben. Gegenüber Christiane (gest. 1816) dürfte er in der Zeit der Abfassung der "Wanderjahre" Dankbarkeit empfunden haben, und wenn er bei ihrem qualvollen Ende nicht anwesend war, so entsprach das wohl generell seinem Habitus, schweres Siechtum und Tod persönlich zu meiden.


    Und nun noch etwas ziemlich Finsteres: Goethe scheint ja auch sein dominantes Verhältnis gegenüber Sohn August in den "Wanderjahren" reflektiert zu haben:


    Lenardo:
    "... der Vater behält immer eine Art von despotischem Verhältnis zu dem Sohn, dessen Tugenden er nicht anerkennt und an dessen Fehlern er sich freut; deswegen die Alten schon zu sagen pflegten: 'Der Helden Söhne werden Taugenichtse'..." (HA. Bd. 8, S. 141)


    Zum Zeitpunkt des Erscheinens der Ausgabe von 1829 lebte August von Goethe noch; 1830 ging er in der Fremde in Rom zugrunde.
    Ich habe ja nun auch einen erwachsenen Sohn, aber an dessen Fehlern kann ich mich nun wirklich nicht freuen, gruselige Vorstellung :rollen:


  • 5424 Nummern umfasst der Katalog. Die Theologie nimmt darin nur einen verhältnismäßig kleinen Platz ein, von den Nummern 2603 bis 2739. Schleiermacher oder Spalding sind nicht darin vertreten.


    Bei Bielschowsky ist zu lesen, dass sie sich einmal persönlich begegnet sind. Keiner von beiden hat diese Begegnung aber später beschrieben oder sonst darauf Bezug genommen. Bemerkenswert, wenn man Schleiermachers Bedeutung nicht nur in der Religionsphilosophie, sondern auch in der Pädagogik bedenkt.