• Moin, Moin!


    Wunderbar die Kritik am “Bitterfelder Weg” aus dem Mund von Christa Wolfs 5-jähriger Tochter 1961:


    Zitat

    Habt ihr nur Bilder von Arbeitern? - Warum? - Die will ich nicht mehr sehen. - Warum nicht? - Weiß nicht. Sie sind langweilig. - Aber Arbeiter sind doch sehr wichtig. - Wichtig schon. Aber ich will sie nicht immerzu sehen. - Was willst du denn lieber sehen? - Na, andere Menschen.” (…) Gerd ist entzückt. Literaturkritik auf hohem Niveau, sagt er. Der künftige Leser meldet seine Ansprüche an. Das laß dir mal gesagt sein, Frau Autorin. Keine Arbeiter, wenn’s möglich ist.


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  • Moin, Moin!


    "... meine stumme Verzweiflung, wenn die Tage mir auseinanderlaufen. (...) Es ist doch etwas daran, daß eine Frau in 'Künsten und Wissenschaften', wenn sie Kinder hat, nicht leisten KANN, was einem Mann mit gleichen Anlagen zu leisten möglich ist. Einhäufig durchdachtes Kapitel, das einen bitteren Bodensatz hinterläßt, der Gerd rasend macht. Aber die Kinder werden größer, und einmal MUSS doch wieder Konzentration in mein Leben kommen - wenn ich sie dann nicht schon verlernt habe." (Christa Wolf: Ein Tag im Jahr, 1961)


    Daß einem die Tage auseinanderlaufen, kann man übrigens auch prima ohne Kinder erfahren. Selbst oder gerade im Urlaub. Aber dies ist bei mir ja kein neues Phänomen...


  • Moin, Moin!


    "... meine stumme Verzweiflung, wenn die Tage mir auseinanderlaufen. (...) Es ist doch etwas daran, daß eine Frau in 'Künsten und Wissenschaften', wenn sie Kinder hat, nicht leisten KANN, was einem Mann mit gleichen Anlagen zu leisten möglich ist. Einhäufig durchdachtes Kapitel, das einen bitteren Bodensatz hinterläßt, der Gerd rasend macht. Aber die Kinder werden größer, und einmal MUSS doch wieder Konzentration in mein Leben kommen - wenn ich sie dann nicht schon verlernt habe." (Christa Wolf: Ein Tag im Jahr, 1961)


    Daß einem die Tage auseinanderlaufen, kann man übrigens auch prima ohne Kinder erfahren. Selbst oder gerade im Urlaub. Aber dies ist bei mir ja kein neues Phänomen...


    Auch bei mir passiert es leider nicht selten und ins besonders, wenn ich eine schwere Arbeit anfangen muss ... :grmpf:

  • Moin, Moin!


    Ich mache Frühstück, röste Brot, koche für ihn Tee, für mich Kaffee, muß noch lachen über die erregten Diskussionen, die in den letzten Wochen über die Kaffeepreise stattfanden, über die ungenießbare Erfindung "Kaffee-Mix" für sechs Mark, über die Witze, die darüber im Umlauf sind: Was ist der Unterschied zwischen Kaffee...-Mix und der Neutronenbombe? Keiner. Beide werden geächtet. (Christa Wolf: Ein Tag im Jahr)


    Allerdings weiß man das erst richtig zu würdigen, wenn man die Plörre damals trinken mußte.


  • Moin, Moin!



    Offensichtlich eine kleine Schwäche der Christa Wolf, wenn sie zweimal Namen verhunzt. Und der Lektor hat nicht aufgepaßt.


    Nun ja, wie man's nimmt. Persönlich finde ich es wichtig und richtig, dass solche falschen Schreibweisen eines Autors belassen werden. Es lässt doch rückschliessen auf den Autor. Vielleicht hat sie die Namen ja nur gehört, nie gelesen. Oder die Lektüre hinterliess nicht wirklich bleibende Spuren. Zumindest würde ich, wenn denn korrigiert würde, wie bei einer anständigen Klassikerausgabe erwarten, dass in einer Anmerkung "C.W. schreibt 'Wonneguth'" oder so ähnlich stehen würde.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • ... Christa Wolf 82jährig in Berlin verstorben ...


    Schade. "Kein Ort. Nirgends" finde ich großartig. Es ist die schönste (fiktive) Begegnung zweier Literaten, die ich je gelesen habe. "Kassandra" und "Medea" kenne ich nicht. Lohnen die sich? Und was sollte man sonst noch unbedingt lesen, Eurer Meinung nach?


    :winken:


    Tom


  • gerade habe ich die traurige Nachricht im Radio gehört, dass Christa Wolf 82jährig in Berlin verstorben ist.


    Die wirkliche Bedeutung von Christa Wolf wird sich erst zeigen, wenn die tagespolitischen Diskussionen um ihre Person abgeklungen sind. Sie ist eine widersprüchliche, aber immer reflektierende Autorin gewesen, und ich glaube, dass wir noch viel aus ihrem Werk lernen können.
    Mein liebstes Buch: Wie bei Sir Thomas: Kein Ort. Nirgends
    Aber ich muss auch noch ganz viel von ihr lesen.


    finsbury

  • Wirklich eine traurige Nachticht heute. Ich schätze Christa Wolf sehr als Autorin und als Frau. "Kein Ort. Nirgends" steht noch auf der Wunschliste, gelesen habe ich bisher "Nachdenken über Christa T." (fand ich sehr berührend) und "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud", welches 2010 erschienen ist. Zynischerweise finde ich es passend, dass dieses Buch, welches einen Bogen um ihr gesamtes Leben schlägt, auch ihr letztes sein soll.


  • Die wirkliche Bedeutung von Christa Wolf wird sich erst zeigen, wenn die tagespolitischen Diskussionen um ihre Person abgeklungen sind. Sie ist eine widersprüchliche, aber immer reflektierende Autorin gewesen, und ich glaube, dass wir noch viel aus ihrem Werk lernen können.
    Mein liebstes Buch: Wie bei Sir Thomas: Kein Ort. Nirgends


    Die Generation scheint sich nun nach und nach zu verabschieden. Aber wo sind solche deutschen Autoren har, die in 30 in 40 oder 50 Jahren sterben? Kein Ort, Nirgens?

  • Moin, Moin!


    Helga Schubert, die kürzlich den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann und dadurch wieder auf dem Radar erschien, schießt nun offensichtlich gegen Christa Wolf, die ein Funktionär gewesen wäre. Passenderweise sendete das Deutschlandradio gestern einen RIAS-Mitschnitt aus der Akademie der Künste vom Sommer 1990 mit Christa Wolf, Jurek Becker und Peter Schneider, dem Jahr, in dem die Debatte um die DDR-Literatur hochzukochen begann.

  • Christa Wolf: Kindheitsmuster. Roman 1976

    Christa Wolf veröffentlichte diesen Roman nach ca. fünf Jahren Recherchearbeiten und Schreiben 1976 im Aufbau-Verlag. Sie beschäftigt sich darin mit ihrer Kindheit und Jugend während des Nationalsozialismus und in den ersten Nachkriegsjahren.


    Zum Inhalt und zur Darstellungsform

    Wolf beginnt mit Überlegungen zur Perspektive, die sie zur Erzählung der folgenden autobiografischen Inhalte einnehmen will. Da die Zeit die Erinnerung verändert und sie in sich selbst auch nicht mehr das authentische Kind, von dem sie berichten will, finden kann, entschließt sie sich, dieses in der dritten Person unter dem Namen Nelly zu führen und auch – um Abstand von sich selbst als Autorin und Erinnerungsinhaberin zu gewinnen – sich in der Du-Perspektive zu führen, eine sehr außergewöhnliche Erzählperspektive, die ich zum ersten Mal in einem Roman gelesen habe, jedenfalls darauf bezogen, dass hier nicht Leser*in gemeint ist, sondern Autorin/Erzählerin, die die Perspektive als Mittel der Distanz zu sich selbst benutzt.

    Wolf verschränkt in diesem Roman drei Erzählebenen:

    - die von Nelly, die sich von Beginn der dreißiger Jahre in dem Städtchen Landsberg/Warthe bis 1946 in einem Sanatorium in Mecklenburg, wo sie von einer Tuberkulose-Erkrankung gesundet, erstreckt,

    - die der Erzählerin, die 1971 mit ihrem Mann, ihrer Tochter und ihrem Bruder eine Kurzreise in jenes Landsberg unternimmt, das nun zu Polen gehört und Gorzów Wiekopolski heißt,

    - die der Erzählerin während des Erzählprozesses, die von diesem berichtet, aber auch von Alltagsereignissen, einer USA-Reise und weltpolitischen Ereignissen in der Zeit zwischen 1971 und 1975. Diese Ebene ist fast immer reflexiv und setzt sich mit Themen wie Wahrheit, Verzerrung durch Perspektivität und erlebte Zeit sowie Schuld und Verantwortung auseinander.

    Nelly wird 1929 geboren, ihre Eltern sind Lebensmittelhändler in Landsberg. Ihr bewusstes Leben als Kind steht unter der Indoktrination des Nationalsozialismus, der durch BDM und Schule, aber auch die recht kritiklose Akzeptanz der Familie und Bekanntschaft bestimmt wird. Man nimmt eben hin, was man nicht ändern kann. Auch Nelly führt stolz ihr Fähnlein im BDM und verehrt eine Lehrerin, die die Ideale der NS-Zeit vertritt. Von der eigentlichen Bedeutung der KZs bekommt die Familie nicht viel mit, sieht aber in Übereinstimmung mit der herrschenden Ideologie die Menschen im Osten – Polen und Russen – vorwiegend als nicht ebenbürtig oder sogar bedrohlich an.

    Mit der Flucht beginnt dann das schmerzliche Umlernen. Die Familie flieht so ziemlich im letzten Moment und schließt sich einem Flüchtlingstreck an, der sie durch Brandenburg bis nach West-Mecklenburg führt. In einem kleinen Dorf und der Kleinstadt in der Nähe bleiben sie dann anderthalb Jahre, Nelly zunächst als Schreibhilfe des Dorfbürgermeisters mit immer mehr Verantwortung und dann als Oberschülerin, nachdem der Schulbetrieb wieder aufgenommen wurde.

    Wieder ist es eine Lehrerin, die Nelly bewusst macht, wie sehr sie ideologisiert worden ist. Mithilfe von Literatur, die sie - auch durch ihre Lungenerkrankung zu körperlicher Ruhe gezwungen - massenhaft liest, eignet sie sich nun die grundlegenden Werte der humanistischen Tradition an.

    Der Roman endet offen: Eigentlich war der Plan, dass die Autorin/Erzählerin vom Du zum Ich zurückkehren kann, aber das gelingt nur zaghaft. Nelly lassen wir im Sanatorium mit Blick auf eine offene Zukunft zurück.


    Meine Meinung

    Die Lektüre dieses Romans war für mich herausfordernd, aber auch sehr lohnend. Aus unterschiedlichen Gründen:

    Die erzählte Zeit betrifft auch meine Familie. Meine Eltern haben den Krieg noch als junge Erwachsene miterlebt, mein Vater kam aus Ostpreußen, war als Soldat an der Ostfront und jahrelang in Minsk in Gefangenschaft. Meine Mutter hat diese Zeit relativ privilegiert als Bauerntochter auf einem westfälischen Hof überstanden, so dass sie keine wirkliche Not auszuhalten hatte. Die Schuldfrage war auch in unserer Familie ein Thema, weniger Flucht und Vertreibung, da mein Vater ja als Soldat daran nicht teilgenommen hatte. Seine Heimat hat er dennoch vermisst, aber ohne Ressentiments gegenüber den Siegermächten. So konnte ich mich in die Problematik, die diesem Roman zugrundeliegt, recht gut einfühlen und spürte auch oft Betroffenheit bei der Schilderung.

    Zusätzlich zu diesem Erlebnis einer Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus kommt hier noch die völlig andere Perspektive, die durch das Leben in einem anderen Staat mit anderer Ideologie bedingt war. Wolf war lange Zeit eine überzeugte Sozialistin, die dennoch nie die Schwächen des bestehenden Systems übersehen hat. So zeigt sie eine ganz andere Wahrnehmung zeitgeschichtlicher Ereignisse, als sie uns im Westen übermittelt wurde, z.B. bezüglich des Vietnamkriegs, des Militärputsches in Chile. Vieles an dieser Darstellungsweise hat eine mindestens genauso gute Berechtigung wie das, was uns durch die Sichtweise der USA übermittelt wurde, wobei es ja auch im Westen genug kritische Stimmen und Proteste gab.

    Weiterhin hat die Auseinandersetzung zwischen der Erzählerin und ihrem Alter Ego Nelly auch dazu geführt, dass ich selbst mich auch gefragt habe, ob man sich als Kind wirklich als Teil seiner selbst begreift oder ob sich dieses Kind oder auch die anderen Lebensphasen so von dem heutigen Selbst entfernen, dass man den Erinnerungen dieser Entwicklungsphasen nicht unbedingt trauen kann.

    Es ist dann insgesamt das Problem der Wahrheit und Perspektivität, das auch das eigene Denken anregt.


    Ein faszinierendes Buch und eine sehr tief denkende Autorin, die ganz zu Unrecht ein bisschen in Vergessenheit geraten ist.