Juli 2009 - Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts

  • Nur ist auch hier Vigoleis nicht erwähnt und sie liest sich bei Kessler ganz anders als bei Vigoleis. :zwinker:


    Womit wir beim Grundproblem jeder Autobiografie sind: Was ist Dichtung, was Wahrheit? Thelen sagt ja zu Beginn, dass seine Figuren zwar gelebt hätten, aber erfunden sind. Oder so ähnlich ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Graf Kesslers Aufzeichnungen sind nicht zwangsläufig glaubwürdiger, oder? Allerdings sind es Tagebücher ... Was schreibt er denn so über Keyserling, BigBen? Mich würd mal interessieren, wie weit die Versionen von einander abweichen. :winken:

  • Sind Tagebücher automatisch glaubwürdiger? Insbesondere wenn ein mehr oder weniger der Autobiografie zuzurechnender Text schon mit einem Veröffentlichungsgedanken im Hinter- oder Vorderkopf abgefasst wurde, sind Verfälschungen oder Auslassungen nie auszuschliessen*). Und Selbststilisierung kann ja sogar im stillen Kämmerchen stattfinden, auch ganz unbewusst.


    Dadurch, dass sich Vigoleis-Thelen von Anfang an vom Wahrheitsanspruch der Autobiografie lossagt, ist er unter Umständen wahrheitsgetreuer als jene, die mit der Genrebezeichnung "Tagebuch" Authentizitätsansprüche erheben. - - - Wir werden es wohl nie erfahren ...
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    *) Typisch: Arno Schmidts Briefe an Hans Wollschläger. Von Seiten Schmidts ganz sicher immer mit dem Gedanken an eine spätere Veröffentlichung geschrieben, also voller Selbststilisierung ...

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  • Ich habe die Insel nun auch (als Letzter?) geschafft. Ich bin wirklich froh, daß ich durch das Forum auf dieses Buch aufmerksam gemacht wurde. Die Lektüre hat sich wirklich gelohnt (auch wenn sie doppelt so lange gedauert hat, wie ich veranschlagt hatte.)


    Graf Kesslers Aufzeichnungen sind nicht zwangsläufig glaubwürdiger, oder? Allerdings sind es Tagebücher ... Was schreibt er denn so über Keyserling, BigBen? Mich würd mal interessieren, wie weit die Versionen von einander abweichen. :winken:


    Kessler saß mit auf dem Podium, wurde von Keyserling sogar explizit dem Publikum vorgestellt. Das Thema war wohl ähnlich dem was Vigoleis behauptet hat. Nur hat Kessler offenbar nicht Keyserlings Argumentation "zerlegt", obwohl er sie unzureichend fand.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)


  • Dadurch, dass sich Vigoleis-Thelen von Anfang an vom Wahrheitsanspruch der Autobiografie lossagt, ist er unter Umständen wahrheitsgetreuer


    Du hast ja wieder mit allem so recht!



    Insbesondere wenn ein mehr oder weniger der Autobiografie zuzurechnender Text schon mit einem Veröffentlichungsgedanken im Hinter- oder Vorderkopf abgefasst wurde, sind Verfälschungen oder Auslassungen nie auszuschliessen.


    Ja, genau! Und das könnte auch der Grund sein, warum von seinem politisch unbotmäßigen Schreibsklaven in seinen Aufzeichnungen nicht die Rede ist! Kesslers Texte erschienen ja bei S.Fischer, mitten im Reich (S.844), wie Thelen-Vigoleis bemerkt. Der Tatsache, dass die Zusammenarbeit mit seinem wust -, thäl - und thelenmännischen Sekretär so gut klappte, habe ich es zu danken, dass er sich keinen politisch unbescholtenen Abschreiber gesucht hat. Manchmal wurde ihm ja ganz angst und bange über meine Unberechenbarkeit. ( S.857). Man muss das ja nicht an die große Glocke (der Tagebücher) hängen.


    Danke, BigBen für die interessante Information!

  • Bei mir sind heute die Briefe Thelens an Teixera de Pascoaes eingetroffen, aber vor morgen oder übermorgen werde ich keine Zeit finden, einen Blick hineinzuwerfen.

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  • Ich habe gestern Abend noch mit der Lektüre der Briefe angefangen. Das Büchlein beginnt ja mit einer Schilderung der ersten phsischen Begegnung von Vigoleis und Beatrice mit dem Portugiesen und seiner Mutter - gehalten ganz im Stil der Insel. (Ist ja auch der Fortsetzung der Insel entnommen.) Dann folgen die Briefe - in ganz anderm Ton. Ist das nun, weil Thelen gegen aussen nicht so schrieb, wie gegen "innen", weil er im Spanischen schlicht und ergreifend zu wenig versiert war für seine kleinen Spielereien, oder weil der Übersetzer diese nicht reproduzieren konnte? Ich tippe ja auf eine Mischung aus den beiden ersten. Jedenfalls ist mein Zwischenfazit, dass die Insel sicher interessanter zu lesen war, die Briefe allenfalls als biografische Zusatzdokumente aber nicht uninteressant sind.

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  • Sind die Briefe nicht in Portugiesisch verfasst worden? Thelen hat ja immerhin allein wegen den Werken von Teixeira de Pascoaes Portugiesisch gelernt und einige (vier) seiner Werke ins Deutsche übersetzt. Bei mir sind die Briefe mittlerweile auch eingetroffen, habe aber bisher noch nicht damit beginnen können. Ich glaube aber durchaus, das der Stil anders gehalten ist, als derjenige der Insel, die ja zweifellos sehr ästhetisiert ist. Andererseits bin ich bzgl. Thelen auch schon auf den Terminus "Erzählbriefe" gestossen. D.h. Thelen muss anscheinend ein passionierter Briefeschreiber gewesen sein und den Brief nicht einzig als Gebrauchsform, sondern durchaus auch als literarisches Betätigungsfeld angesehen haben und in diese sogenannten Erzählbriefe Geschichten eingeflochten haben. Schon deshalb darf man wohl auf die vierbändige Dumont-Briefausgabe gespannt sein (zumal auf Thelens Querelen mit seinen Verlegern!).


    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen


  • Schon deshalb darf man wohl auf die vierbändige Dumont-Briefausgabe gespannt sein


    Ich habe schon mal nach einer Brief-Edition gesucht, aber leider nichts gefunden. Wann soll denn die von Dir genannte Edition erscheinen? Auf der Website von Dumont gibt es dazu keine Informationen.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Die späteren ja. Die ersten waren noch auf Spanisch. Thelen hat ja erst für Pescaoes Portugiesisch gelernt. :zwinker:


    Gut, das ist nachvollziehbar :zwinker: Thelen hätte sich natürlich auch erst bei Pascoaes melden können, wenn er bereits sattelfest Portugiesisch beherrscht hätte... Thelen ist vermutlich einer von wenigen Exilautoren, dem die sprachliche (und die der Mentalität) Anpassung an das Exilland gelungen ist. Zu Beginn der Insel schreibt er zwar von Schwierigkeiten, die er mit der spanischen Zunge bekundet habe, doch letztlich lernt er Spanisch und obendrein Portugiesisch...


    BigBen: Der erste Band der Briefausgabe soll im Herbst 2010 erscheinen. Siehe http://www.vigoleis.de

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  • Thelen hätte sich natürlich auch erst bei Pascoaes melden können, wenn er bereits sattelfest Portugiesisch beherrscht hätte...


    Das wirklich Beängstigende finde ich ja, dass er sich fürs Übersetzen anbietet, ohne viel Kenntnisse des Portugiesischen zu haben. Ich kenne beide Sprachen, habe Portugiesisch vor Spanisch gelernt, finde Portugiesisch bedeutend schwieriger, hätte mich aber dennoch nie getraut, mich als Übersetzer z.B. der Teresa von Avila, bei der Autorin persönlich anzubieten ... :smile:

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  • Thelen schlägt Pescaoes vor, den "Zürcher Professor" Jean Gebser ins Portugiesische zu übertragen. So trifft man alte Bekannte wieder. Ob was aus dem Projekt geworden ist? Bis jetzt (und ich bin mittlerweile nach dem Zweiten Weltkrieg, Thelen lebt in den Niederlanden, seine Briefe sind unterdessen auf Portugiesisch) finde ich keine weitere Erwähnung dessen.


    (Wie doch die Autoren, ob sie nun Friedrich Schiller oder Albert Vigoleis Thelen heissen, sich in Projektemacherei so schnell versteigen können ...)

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    Einmal editiert, zuletzt von sandhofer ()

  • Hab leider die Sendung Tod im Inselgarten im Deutschlandradio Kultur verpasst, auf die Imrahil freundlicherweise hingewiesen hat.
    Hast du sie gehört, Imrahil? Hat man was verpasst? Weißt du, ob und wenn ja wo man die Sendung im Internet nachträglich anhören kann? :winken:

  • Nun wird auch Erich Kästner, zumindest indirekt, als ein an Pescaoes interessierter Zeitschriftenherausgeber erwähnt. Ich denke, ich werde mir seinen Napoleon in Thelens Übersetzung doch mal zulegen ... :breitgrins:
    [hr]
    PS. Meinen Tippfehler vom 28. August ("Pescoaes" statt "Pescaoes") schlägt mir unterdessen schon Google als Alternative vor, wenn ich nach "Pescaoes" suche ... :rollen: :breitgrins:

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  • Thelen schlägt Pescaoes vor, den "Zürcher Professor" Jean Gebser ins Portugiesische zu übertragen.


    Nach dem was man so über Gebser liest, scheint es ja erstaunliche Parallelen zu Thelen zu geben: Gleichaltrig, 1931 - 36 spanisches Exil, Übersetzer, Mittler zwischen den Kulturen, selber zwischen den Nationen/Stühlen, skurriler Denker, verkannt, Geheimtipp... Kein Wunder, dass Thelen sich für ihn stark macht.


    Erfährt man eigentlich in den Briefen etwas über seine Vorliebe für Mystik? Die Hinwendung des unter seiner katholischen Erziehung leidenden, religionskritischen, atheistischen(?) Thelen zur(christlichen?) Mystik finde ich erstaunlich und irgendwie spannend.
    Geben die Briefe da Aufschluss?



    Danke für den Hinweis. Die Sendung scheint nicht als Audio-Beitrag verfügbar zu sein. Schade.

  • Erfährt man eigentlich in den Briefen etwas über seine Vorliebe für Mystik? Die Hinwendung des unter seiner katholischen Erziehung leidenden, religionskritischen, atheistischen(?) Thelen zur(christlichen?) Mystik finde ich erstaunlich und irgendwie spannend.
    Geben die Briefe da Aufschluss?


    Nein. Irgendwo habe ich zu Pescoaes das Schlagwort "atheistischer Mystiker" gelesen. Was Thelen immer wieder mal erwähnt, sind äusserst negative Reaktionen orthodoxer Geistlicher von katholischer wie protestantischer Seite auf Pescoaes' Paulus.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Und gerade, weil ich Thelens Begeisterung für einen angeblichen Mystiker auch recht merkwürdig finde, habe ich mir gestern Pescaoes Napoleon in Thelens Übersetzung bestellt. Ma kucken; ich befürchte, Thelen hat - ähnlich wie Arno Schmidt - einen recht merkwürdigen Geschmack in puncto "guter" Literatur. Aber, je nun, ich habe mir Fouqués Zauberring und Gutzkows Ritter vom Geiste angetan, werde mir noch Sues Mystères de Paris antun - da kommt's auf den Pescaoes auch nicht mehr an ... :breitgrins:

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