Juli 2009 - Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts

  • Bin jetzt in Kapitel 4/XXI. Die Story um Silberstern war ungeheuer nervig. Das ist bis jetzt die schwächste Stelle im ganzen Buch. Den Verlust seiner Handbibliothek fand ich ja noch interessant (ich habe da wohl auch einen persönlichen Bezug, da ich eine ähnliche Sammlung besitze), aber die "Wanderschaft" von einer Dame zur nächsten, und das über Dutzende von Seiten, hätte ich mir gerne erspart.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Die Story um Silberstern war ungeheuer nervig.


    Ja. Es ist aber auch einer der Orte, wo sich eine Konstruktion im Rahmen dieses Œuvres kundgibt, indem der Jude noch dazu dienen muss, einen bestimmten Charakterzug Vigoleis' zu demonstrieren. Die Konstruktion ist allerdings vielleicht auch dann nicht so ganz gelungen, wenn man im Nachhinein den Sinn Silbersterns einsieht.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Den Verlust seiner Handbibliothek fand ich ja noch interessant (ich habe da wohl auch einen persönlichen Bezug, da ich eine ähnliche Sammlung besitze.


    Kein Scherz? Du hast wirklich so eine Handbücherei wie Silberstern?


    Zitat

    Die Kisten mit der angefochtenen Literatur seien (...) im Grunde genommen nur die Handbücherei (...) Bei der beschlagnahmten Fracht handele es sich um eine kleine Sammlung erotischer - Silberstern hob einen Wurstfinger - und rein wissenschaftlicher Literatur! Zu Studienzwecken!


    Es ist - der Leser ahnt es schon - schlicht Pornographie. Köstlich Vigoleis' Auseinandersetzung als "Rechtsberater" mit den Zollbeamten, die aber letztlich nur dazu führt, dass der Zolldirektor nun ohne Zweifel (...) über die beste erotische Bildersammlung auf den Balearen (S.701) verfügt.

  • Tatsächlich? Interessant! Der erotische Handapparat des Pornokraten Silberstern scheint aber doch wohl , so lässt Vigoleis durchblicken, eine etwas andere Ausrichtung gehabt zu haben.


    Kommt darauf an. Was in den 30er Jahren als Pornographie galt, ist aus der heutigen Sicht doch wohl eher harmlos. Es gab Werke, die nicht einmal offen in den Handel kamen, sondern nur an Ärzte, Psychiater, Kriminalbeamte etc. verkauft wurden, aus Angst vor der Wirkung auf die allgemeine Bevölkerung (so z.B. das Bilderlexikon der Erotik aus dem Wiener Verlag für Kulturforschung).

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)


  • Es gab Werke, die nicht einmal offen in den Handel kamen, sondern nur an Ärzte, Psychiater, Kriminalbeamte etc. verkauft wurden, aus Angst vor der Wirkung auf die allgemeine Bevölkerung


    Wohl wahr. Unter Silbersterns Büchern ist ja sogar ein Handbuch der Gynäkologie, das dann auch mit verbrannt wird.



    Was in den 30er Jahren als Pornographie galt, ist aus der heutigen Sicht doch wohl eher harmlos.


    Das ist richtig. Aber auf "soft" oder "hard" kommt es hier gar nicht an. Silbersterns Interesse an seinen Erotika ist nicht bibliophil, historisch, kulturell oder was auch immer. Der bittere Witz dieser Passage liegt darin, dass Vigoleis für die W...svorlagen des Silberstein die Wissenschaft, das Gute, Wahre und Schöne bis hin zu Gott (vgl.S.698) bemüht und das Ganze in einem Auto-de-castidad, einer Karikatur der Bücherverbrennung endet.

  • Silbersterns Interesse an seinen Erotika ist nicht bibliophil, historisch, kulturell oder was auch immer.


    Man helfe meinem Erinnerungsvermögen nach (mein Buch ist zu Hause; ich nicht): Ist das so? Vigoleis-Thelen gibt das ziemlich unverblümt zu verstehen, ja. Aber: erfahren wir etwas über die wirklichen Beweg- oder Hintergründe von Silbersterns Sammelinteresse? Beim Zolldirektor und seinen Untergebenen ist es relativ klar, da sie die Bücher auseinandernehmen und wirklich nur die pikanten Bilder zu behalten scheinen. Silberstern aber ist eine Karikatur, die wir nur durch die widerwilligen Augen Vigoleis' kennen lernen.


    Der bittere Witz dieser Passage liegt darin, dass Vigoleis für die W...svorlagen des Silberstein die Wissenschaft, das Gute, Wahre und Schöne bis hin zu Gott (vgl.S.698) bemüht und das Ganze in einem Auto-de-castidad, einer Karikatur der Bücherverbrennung endet.


    Und darin, dass hier der Pikaro, der Eulenspiegel, scheitert. Diesmal wird ihm nicht geglaubt. Was für mich ein Hinweis darauf ist, dass er u.U. für einmal nicht geflunkert sondern die Wahrheit erzählt hätte ...

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  • Lieber Sandhofer,


    Du beantwortest Dir Deine Fragen selber:


    Deine Frage:

    Man helfe meinem Erinnerungsvermögen nach (mein Buch ist zu Hause; ich nicht): Ist das so?


    Deine Antwort:


    Vigoleis-Thelen gibt das ziemlich unverblümt zu verstehen, ja.


    Deine Frage:


    Aber: erfahren wir etwas über die wirklichen Beweg- oder Hintergründe von Silbersterns Sammelinteresse?


    Deine Antwort:


    Silberstern aber ist eine Karikatur, die wir nur durch die widerwilligen Augen Vigoleis' kennen lernen.


    Eben! Nur. Alles, was wir über Silberstern erfahren, erfahren wir durch Vigoleis. Jede Spekulation über einen wirklichen Silberstern erübrigt sich. Obwohl..., auch ich hatte mal kurz an Wilhelm Reich und seine Sexpol gedacht, zumal ja Thelen mit Freud und Marx nicht viel scheint anfangen zu können . Aber der Text gibt solches nicht her.


    Zitat

    Wie kommt aber ein lüsterner, weinreisender, durch und durch eingegeilter Adelfried an politisch gefährliche Literatur?...


    Außerdem sagst du selbst über die Episode:


    dass er u.U. für einmal nicht geflunkert sondern die Wahrheit erzählt hätte ...

  • Außerdem sagst du selbst über die Episode:


    Ich bin jetzt nicht sicher, ob wir uns richtig verstehen ... Ich meinte hier Vigoleis' Argumentation,


    dass Vigoleis für die W...svorlagen des Silberstein die Wissenschaft, das Gute, Wahre und Schöne bis hin zu Gott (vgl.S.698) bemüht


    Vielleicht waren's eben keine Wichsvorlagen, sondern Silbersteins Beteuerungen entsprachen der Wahrheit?

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  • [Was meinst Du mit "funktionslos"? Ich habe mich prächtig amüsiert dabei ... :?:


    Ich mich auch. Ich sprach ja auch im Irrealis ...wäre ...verpufft - nicht ...ist:
    Wenn Silbersterns Beteuerungen(wissenschaftl. Zwecke etc.) der Wahrheit entsprochen hätten, hätten Vigoleis Scherze und Anzüglichkeiten über Lustersatz, Lustbarkeiten und noch anderes Subtileres keine Funktion gehabt, wären sinnlos verpufft, ein blindes, den Leser in die Irre führendes Motiv.

  • Ich mich auch. Ich sprach ja auch im Irrationalis ...wäre ...verpufft - nicht ...ist:
    Wenn Silbersterns Beteuerungen(wissenschaftl. Zwecke etc.) der Wahrheit entsprochen hätten, hätten Vigoleis Scherze und Anzüglichkeiten über Lustersatz, Lustbarkeiten und noch anderes Subtileres keine Funktion gehabt, wären sinnlos verpufft, ein blindes, den Leser in die Irre führendes Motiv.


    Das ist eine erste Ebene. Ich vermute aber dahinter eine zweite; eine, in der Silbersterns Beteuerungen eben wahr waren, von Vigoleis-Eulenspiegel aber nicht als solche wahrgenommen [!] wurden, und seine Flunkereien über das Schöne, Gute und Wahre "eigentlich" keine gewesen sind. Vielleicht hat Vigoleis-Eulenspiegel aber sogar gewusst, dass er die Wahrheit vorbringt. Und ist deshalb gescheitert, da der Pikaro nur durchkommt, wenn er lügt.

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  • Das ist eine erste Ebene. Ich vermute aber dahinter eine zweite; eine, in der Silbersterns Beteuerungen eben wahr waren, von Vigoleis-Eulenspiegel aber nicht als solche wahrgenommen [!] wurden.


    Vom Autor Thelen aber schon? Thelen hätte dann also intendiert, den Erzähler Vigoleis als jemanden darzustellen, der seinem Klienten "niedere Motive" nur unterstellt, diese wissentlich oder unwissentlich als etwas der Wahrheit Entsprechendes hinstellt, mit den" richtigen Argumenten" verteidigt und damit scheitert? Habe ich Dich richtig verstanden?
    Wenn ja, ein interessanter Gedanke, würde mich mit einigem, was allzu platt daherkommt, versöhnen.

  • Vom Autor Thelen aber schon?


    Ja.


    Thelen hätte dann also intendiert, den Erzähler Vigoleis als jemanden darzustellen, der seinem Klienten "niedere Motive" nur unterstellt, diese wissentlich oder unwissentlich als etwas der Wahrheit Entsprechendes hinstellt, mit den" richtigen Argumenten" verteidigt und damit scheitert?


    Ja.


    Habe ich Dich richtig verstanden?


    Ja.


    Im Nachhinein (bei der ersten Lektüre hat es mich auch ungeheuer genervt) halte ich den Silberstern-Teil für einen der am besten durchkomponierten des Buchs. Thelen führt im Grunde genommen gleich zwei Textsorten ad absurdum: die Autobiografie und den pikaresken Roman.

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  • Habe gerade eine interessante Entdeckung gemacht. Thelen wird nicht ein einziges mal in Kesslers Tagebüchern erwähnt. Bei so einer engen Zusammenarbeit, wie Vigoleis sie beschreibt, hätte ich schon erwartet, das er mal erwähnt wird.


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    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

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    Diese Ausgabe ist, glaube ich, gekürzt. Ich meine mich aber zu erinnern, dass - entweder im Nachwort oder dann von Thelen selber in der Insel - dies bestätigt wird. Genauso hat offenbar Graves seinen Sekretär nie einer Erwähnung würdig gehalten ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Diese Ausgabe ist, glaube ich, gekürzt. Ich meine mich aber zu erinnern, dass - entweder im Nachwort oder dann von Thelen selber in der Insel - dies bestätigt wird. Genauso hat offenbar Graves seinen Sekretär nie einer Erwähnung würdig gehalten ...


    Gekürzt - ja. Aber wenn man z.B. den Eintrag vom 1. Januar 1935 nimmt: "In den letzten Tagen Manuskript meines ersten Buches abgeschlossen und an S. Fischer geschickt." Vom Schreibsklaven keine Rede.
    Und es findet sich z.B. für Ende Januar die Geschichte mit Keyserling und dessen Schule der Weisheit. Nur ist auch hier Vigoleis nicht erwähnt und sie liest sich bei Kessler ganz anders als bei Vigoleis. :zwinker:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)