Juli 2009 - Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts

  • Einer der Höhepunkte des Ganzen, ja - Vigoleis als Fremdenführer ...
    [hr]
    Lohnt sich der Wigalois denn? Ich habe - lang, lang ist's her - im Studium mal hineingeschnuppert, er kam mir aber recht langfädig vor. Mag aber sein, ich würde heute anders darüber denken ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Das Wochenende stand ganz im Zeichen der Insel, weshalb ich mich nun bis Seite 600 voran gelesen habe. Zum Teil etwas schneller als es der Text wohl verdient. Die Vielseitigkeit Thelens finde ich sehr beeindruckend. Das Buch ist ein Unikat, was ja alleine schon ein großes Qualitätsurteil ist.


    Werde wohl doch keine Lesepause einlegen.


    Zu Wigalois: Kann mich kaum mehr daran erinnern, was für eine Zweitlektüre spricht.


  • Stecke in 4/XIII.


    Gemeint war natürlich 4/XXIII! Ansonsten: Ho finito. Ich habe fertig!



    Ich finde es ja immer interessant, ob/wie in einem Buch ein Autor versucht, seine "Ästhetik" zu erklären.


    Ich auch! Deiner Zitatenliste möchte ich eins hinzufügen, das - wie ich finde - einen wichtigen Aspekt seiner Ästhetik beleuchtet:

    Zitat

    ...ich ...hielt mich an das Unwandelbare, das gereimt oder ungereimt Gedichtete. Geschichtsschreibung kann auch für mich faszinierend sein, wenn das Geschehene einseitig betrachtet wird, gewissermaßen mit dem Auge des Huhns, das auf den Boden blicken muss, um den Himmel zu sehen.

    (S.378)
    Ein herrliches Bild für die Art, wie Vigoleis mit seiner Geschichte verfährt. Er erzählt und beschreibt ja mit Vorliebe, Minutiosität und Ausdauer das Kleine, Geringe, Hässliche, Elkelhafte: Die fliegenverkrusteten Fleischbänke, die herumturnenden Ratten im Hurenturm, die Faszination, die der Rattenkönig auslöst, die an Bosch gemahnende im Golf von Palma schwimmende Katze, die einer Ratte zum Floß und als Nahrung dient... Nur kurz erwähnt wird der Brief des sorgenvollen Vaters, während eingehend und liebevoll über das Verrottungsstadium der im Brief angekündigten Mastgans und ihr Ende in der Bucht von Palma berichtet wird... Man denkt an andere Ästhetiker des Hässlichen, Geringen wie Villon (Ballade vom Mäuslein z.B.), Benn (Schöne Jugend u.a. ) oder Grass (der von Aalen wimmelnde Pferdekopf in der Blechtrommel etwa), um nur einige zu nennen.
    Wie wirkt diese Vorliebe fürs Hässliche, Niedrige auf Euch? Ist es ein notwendiger Umweg zu etwas anderem, ist es notwendig, um den Himmel zu sehen?

  • Zum Teil etwas schneller als es der Text wohl verdient.


    Ja, der Vigoleis entwickelt einen gewissen Sog :zwinker: . Der Text verdiente wohl eine Zweitlektüre. Mindestens. Egal, ob Unikum oder Unikat. :breitgrins:


    Wie wirkt diese Vorliebe fürs Hässliche, Niedrige auf Euch? Ist es ein notwendiger Umweg zu etwas anderem, ist es notwendig, um den Himmel zu sehen?


    Ich verstehe, glaube ich, die Frage nicht ... Ich habe, egal ob bei Villon, Grass oder Thelen, das eigentlich immer als Beschreibung, als Utensil, der condition humana verstanden. Ganz ohne Himmel.
    [hr]

    Zu Wigalois: Kann mich kaum mehr daran erinnern, was für eine Zweitlektüre spricht.


    Die Frage für mich ist: Spricht das für eine komplette Erstlektüre?


    (Nebenbei: Ich habe, nachdem ich schon länger ein Auge darauf geworfen hatte, bei Zweitausendeins von Beatricens grossem Verwandten, dem Burckhardt mit ck-dt, die zweibändige Ausgabe seiner geschichtlichen Werke bestellt.)

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  • Habe eben den Abschnitt über die erste Touristenführung gelesen. Gehört sicher zu den besten satirischen Texten, die ich kenne. Ist auch die erste Passage, den ich als Satire im engeren Sinn bezeichnen würde, also weg vom Pikaresken.


    Ja, die Stelle habe ich auch gestern hinter mich gebracht. Wobei mir sein Bericht über die Kommunion und seine Reflexionen über Religion fast noch besser gefallen haben. Aber das ist eben ein Thema, das mir näher liegt.


    Der Kaktusstil und die kleine Schrift in meiner Ausgabe hindern mich, schneller in der Lektüre vorzudringen. Ich muß immer mal wieder unterbrechen und was anderes machen, da Augen und Hirn nicht mehr weitermachen wollen. :sauer:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Wobei mir sein Bericht über die Kommunion und seine Reflexionen über Religion fast noch besser gefallen haben. Aber das ist eben ein Thema, das mir näher liegt.


    Hm ... Nach meiner Erfahrung sind die schlimmsten Nichtraucher die ehemaligen Kettenraucher. Und die bissigsten Religionskritiker sind die ehemaligen Katholiken. Was zumindest beim Vigoleis stimmen würde :zwinker: . (Irgendwo in dieser Leserunde hat ein Teilnehmer erzählt, dass Beatrice im Altersheim regelmässig von einem Seelsorger besucht wurde. Aber die Basler sind halt Protestanten ... :breitgrins: )


    Der Kaktusstil und die kleine Schrift in meiner Ausgabe hindern mich, schneller in der Lektüre vorzudringen. Ich muß immer mal wieder unterbrechen und was anderes machen, da Augen und Hirn nicht mehr weitermachen wollen. :sauer:


    Nun, Kaktusstil mag ich. Besonders, wenn er so eloquent durchgeführt ist, wie bei Thelen. Aber es lohnt sich offenbar, bei der Insel nicht zu sparen und die Hardcover-Ausgabe zu kaufen. (Gut, meine war ein Mängelexemplar bei Zweitausendeins ...)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Nun, Kaktusstil mag ich. Besonders, wenn er so eloquent durchgeführt ist, wie bei Thelen. Aber es lohnt sich offenbar, bei der Insel nicht zu sparen und die Hardcover-Ausgabe zu kaufen. (Gut, meine war ein Mängelexemplar bei Zweitausendeins ...)


    Ich hab die reguläre Hardcover-Ausgabe. Ist auch ziemlich klein gedruckt. Knapp 910 Seiten insgesamt.


    CK

  • Ich hab die reguläre Hardcover-Ausgabe. Ist auch ziemlich klein gedruckt.


    Gut - es ist keine Grossdruck-Edition. Aber meine Ausgabe (ich habe wohl dieselbe) empfinde ich als völlig normal. Jedenfalls mit Lesebrille. Vielleicht mal den Augenarzt Deines Vertrauens aufsuchen? :zwinker:

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  • Gut - es ist keine Grossdruck-Edition. Aber meine Ausgabe (ich habe wohl dieselbe) empfinde ich als völlig normal. Jedenfalls mit Lesebrille. Vielleicht mal den Augenarzt Deines Vertrauens aufsuchen? :zwinker:


    Kann damit auch noch leben, ist halt sehr geizig gesetzt. Und ich HABE einen guten Augenarzt. Der pendelt zwischen London und Wien :breitgrins:


    CK


  • Ich verstehe, glaube ich, die Frage nicht ... Ich habe, egal ob bei Villon, Grass oder Thelen, das eigentlich immer als Beschreibung, als Utensil, der condition humana verstanden.


    Warum hast du Benn weggelassen?


    Dafür, dass Du die Frage nicht verstanden hast, beantwortest Du sie sehr gut. Ich sehe das auch so. Nur, warum das Primat der Darstellung des Abstoßenden bei der conditio humana thelensis?


    (Irgendwo in dieser Leserunde hat ein Teilnehmer erzählt, dass Beatrice im Altersheim regelmässig von einem Seelsorger besucht wurde. Aber die Basler sind halt Protestanten ... :breitgrins: )


    So entstehen Legenden. Dieser protestantische Seelsorger hat Beatrice nur einmal im Altersheim besucht, wahrscheinlich hocherfreut über eine Protestantin am tiefschwarzen Niederrhein. Ich habe ihn neulich nochmal danach gefragt. Leider kann er sich an Details nicht mehr erinnern, so auch nicht an ihren Basler Akzent (rollendes R oder nicht). Die Frage bleibt ungeklärt. :breitgrins:


  • Warum hast du Benn weggelassen?


    Weil es mir bei Benn oft allzu forciert daher kommt. Was nicht heisst, dass ich seine Morgue-Gedichte nicht sehr mag.


    warum das Primat der Darstellung des Abstoßenden bei der conditio humana thelensis?


    Warum nicht?


    So entstehen Legenden. Dieser protestantische Seelsorger hat Beatrice nur einmal im Altersheim besucht, wahrscheinlich hocherfreut über eine Protestantin am tiefschwarzen Niederrhein. Ich habe ihn neulich nochmal danach gefragt. Leider kann er sich an Details nicht mehr erinnern, so auch nicht an ihren Basler Akzent (rollendes R oder nicht). Die Frage bleibt ungeklärt. :breitgrins:


    Schade. In allen Punkten. Wenn der gute Mann weniger ehrlich wäre, könnte er sich noch einen kleinen Platz in der 500. Reihe des literarischen Theaters sichern ... :breitgrins:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • So, nun dackle ich wohl als Letzter der Lesemeute hinterher. Ich brauche wohl auch noch eine Weile.


    Ich bin jetzt im 6. Kapitel des 4. Buches. Mittlerweile bestätigt sich mein Eindruck, das es zwischen den ersten drei und dem 4. Buch einen stilistischen Bruch gibt. Die ersten drei Bücher beschreiben doch überwiegend Vigoleis Leben und Streben auf Mallorca. Im vierten Buch wird dies zu einer Rahmenhandlung degradiert, in die mehr und mehr andere Geschichten und Geschichtchen integriert werden. Das erinnert mich ein wenig an Potocky.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Mittlerweile bestätigt sich mein Eindruck, das es zwischen den ersten drei und dem 4. Buch einen stilistischen Bruch gibt.


    Hm ... den Eindruck hatte ich eigentlich nicht. Nur, dass der Nationalsozialismus sich immer mehr in den Vordergrund drängt. Aber das entspricht wohl der damaligen Realität.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Nein. Obwohl es ganz interessant sein könnte, Thelen persönlich zuzuhören. Er muss ein begnadeter Erzähler gewesen sein; ob er als Vorleser eigener Werke ebenso genial ist?

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  • Kennt eigentlich jemand von Euch das Hörbuch, das die Fragmente der Fortsetzung der Insel enthält?


    Warum fragst du nach dem Dessert, wenn du noch beim Hauptgericht bist? :teufel:


    Nein, das Hörbuch kenne ich nicht. Der Titel klingt interessant! Vor vielen Jahren sah ich ein Grafitto an einer Genueser Hauswand: Dio è ateo ( Gott ist Atheist). Den Gedanken fand ich schon sehr witzig und einleuchtend und hab ihn bis heute nicht vergessen. Nach dem, was Thelen in der Insel an Religionskritischem und - philosophischem äußert, kann ich mir gut vorstellen, dass er über die "Gottlosigkeit Gottes" Vorzügliches zu sagen weiß!
    Schade, dass so viele von Thelens Manuskripten verschwunden sind bzw. vernichtet wurden. Ich gäb was drum, z.B. in seinen satirischen Roman Hünengräber ohne Hünen, von dem er in der Insel berichtet und an dem er wohl monate- wenn nicht jahrelang geschrieben hat, einen Blick werfen zu können!