Juni 2008 - Karl Gutzkow: Die Ritter vom Geiste

  • Hallo zusammen,


    es ist vollbracht! Heute Morgen habe ich beim Frühstück die letzten sieben Seiten gelesen.
    Das Ende war für mich nochmal eine richtige Durststrecke, da sich Gutzkow in den letzten Kapiteln auf "Gartenlaube"- Stilniveau herabbegibt. Das passiert ihm zwar zwischendrin immer mal wieder , aber nicht in so intensiver Duftnote wie im Schlussspurt. Brrrrr ...
    Eine Kostprobe:
    [quote="Gutzkow, Ritter IX, letztes Kapitel, S. 3608"]Von Rodewald nahm nur Louis Armand Abschied, den die Versicherung beglückte, dass er in Franziska Heunisch ein bewährtes, treues, sinniges, deutsches Weib sich gewonnen.[/quote]
    Ein Partizipialattribut und drei Adjektive, au weia!


    Ansonsten muss ich es sacken lassen, dann schreibe ich noch ein bisschen über das Gesamtkunstwerk.
    Nur soviel vorweg: Trotz zahlreicher Ärgernisse bereue ich es nicht, diese 3600 Seiten durchgehalten zu haben. Es hat sich für mich schon gelohnt, denn von der eigentlichen Lebensatmosphäre der 1840er erfährt man in diesem Roman mehr als in manch literarisch höher stehendem Werk.


    Haltet durch!


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Wenn ich so durchlese, was Ihr schreibt ...


    Vielleicht war Gutzkow doch nicht schlecht beraten, als er beschloss, sein Werk für die 5. Auflage um ein weniges zu kürzen ... :smile:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen,


    mehr als der Stil nervt imho die Ideologie.


    Recht hast du! In Bezug auf Gleichberechtigung war es bei Gutzkow wohl ungefähr so wie bei den Athenern mit ihrer Demokratie. Aber denken wir nur daran, wann erst das Kanton Appenzell seinen Bürgerinnen das Wahlrecht zusprach :zwinker:.
    Wenn man streng nach dem Gleichberechtigungsgrundsatz seine Lektüre auswählt, kann man mindestens 90 % der männlichen Autoren bis ca. 1970 in die Tonne kloppen.


    Ich möchte noch etwas über den parallelen Aufbau der Romanfiguren Egon und Hackert schreiben: Lassen wir es bei ein paar Beobachtungen. Gutzkow selber weist irgendwo im IX. Buch seine unmündigen Leser :grmpf: auf eine gewisse Verwandschaft hin:


    Folgendes lässt sich auch ohne des Autors aufdringliche Hinweise feststellen.


    - Beider Herkunft ist illegitim mit jeweils einem adeligen, einem bürgerlichen Elternteil.
    - Pauline von Harder ist für sie beide Ursache der Leiden und des falschen Verhaltens.
    - Sie lieben beide dieselbe Frau, von der sie beide nicht wiedergeliebt werden. Melanie wird trotzdem beider Opfer: Durch den Verlust
    ihrer Jungfernschaft einerseits und durch das langweilige Dahinvegetieren an der Seite des völlig wesensfremden Gatten.
    - Sie gehen an der Unvereinbarkeit ihrer Selbstvorstellung mit der sie umgebenden Realität fast zugrunde.
    - Die echten Väter Wildungen und Zeck machen beide eine Wandlung zum Guten durch; Ihre Söhne sind jeweils "Produkte" auf dem
    Höhepunkt ihrer "Abwege".
    - Der Freundeskreis um die Wildungen fühlt sich von ihnen angezogen und abgestoßen.
    - Hackerts Schlafwandelei entspricht Egons starkem körperlichen Verfall nach Antritt der Regierungsverantwortung.
    - So wie Egon seine Ideale auf einer hohen Stufe des Staatsdienstes verrät, macht sich Hackert als Polizeispitzel gemein.
    - Beide behalten dennoch ihr Leiden an dem Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit und entscheiden sich am Ende für die "Ritter".


    Es gäbe sicherlich noch mehr Parallelen, wenn man weiter suchen würde.


    Schönes Wochenende


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • - Hackerts Schlafwandelei entspricht Egons starkem körperlichen Verfall nach Antritt der Regierungsverantwortung.


    Auch Spiegelverkerkehrtes: Hackert stirbt und reisst bei seinem Tod auch die materielle Grundlage der "Ritter" mit sich <-> Egon zerstört erst die ideelle Grundlage der "Ritter", bevor er selber zu Grunde geht ... :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo,


    Auch Spiegelverkerkehrtes: Hackert stirbt und reisst bei seinem Tod auch die materielle Grundlage der "Ritter" mit sich <-> Egon zerstört erst die ideelle Grundlage der "Ritter", bevor er selber zu Grunde geht ... :winken:


    Genau, und so bleibt am Ende von der Ritterbundidee genau nur die heiße Luft übrig, die das Ganze von Anfang an war!


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Wieso? An und für sich ist ja die Lektüre, wie eine Idee sich als heisse Luft entpuppt und verpufft nicht uninteressant. Und wenn es dann noch so ist, dass dem Autor diese heisse Luft eigentlich gegen seinen Willen und seine persönliche Ideologie entweicht, dann ist das vielleicht literarisch nicht unbedingt gelungen - es kann aber ein gewisses völkerpsychopathologisches Interesse wecken ... :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Wieso? An und für sich ist ja die Lektüre, wie eine Idee sich als heisse Luft entpuppt und verpufft nicht uninteressant. Und wenn es dann noch so ist, dass dem Autor diese heisse Luft eigentlich gegen seinen Willen und seine persönliche Ideologie entweicht, dann ist das vielleicht literarisch nicht unbedingt gelungen - es kann aber ein gewisses völkerpsychopathologisches Interesse wecken ... :winken:



    :smile: :klatschen:


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Bin jetzt bei VIII.1 angekommen. Am Ende vom siebten Buch brennt Gutzkow ja noch mal ein richtiges Aktion-Feuerwerk ab. Es ist aber jedesmal so. Er langweilt einen gepflegt durch das ganze Buch hindurch, am Ende wird es spannend, man freut sich, das es so weitergehen könnte, aber leider muß man bis zum Ende des Buches warten. Das schließt sich der Zirkel.
    Naja, noch zwei, dann habe auch ich es geschafft. :schnarch:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)


  • Och, Ihr könnt einem glatt die Lust nehmen weiterzulesen. :zwinker:


    Dem kann ich mich beinahe anschliessen: Die Enthüllungen der diversen Bastardisierungen einfach so vorwegzumehmen! ("Beinahe" deswegen, weil ich ja schneller hätte lesen können :-)


    Ich bin jetzt in Kapitel IV.4 und somit erst am ca. 8. oder 9. erzählten Tag. Wenn das so in dem Tempo weiter geht, umspannt der Roman gerade mal einen Monat. Egon ist seit mehreren hundert Seiten nervenfiebernd ans Bett gefesselt. Wie kann es da sein, dass Egon sogar noch irgendwelche Regierungsgeschäfte übernimmt und sich vor Überanstrengung davon krank meldet. Da muss das Romantempo ja rasant zunehmen.


    Ich bin derweil ein zweites Mal entsetzt über das Spitzelwesen, dass mich ja schon auf dem Dorf Plessen gewundert hat. Aber in der berliner Brandgasse ist es ja noch schlimmer als auf dem Land. In jedem Hinterhof dieser Wohnsilos, die später nach Zille noch idyllisiert werden werden, gibt es mindestens einen Vizewirth, der gegen Informationen über das Privatleben und den Umgang der Bewohner mietfrei wohnen darf, nachts um 12 auf Tanzbälle geschickt wird um herumzuspionieren und dergleichen mehr. Was für eine Gesellschaft - in der guten alten Zeit!


  • Dem kann ich mich beinahe anschliessen: Die Enthüllungen der diversen Bastardisierungen einfach so vorwegzumehmen! ("Beinahe" deswegen, weil ich ja schneller hätte lesen können :-)


    Nun ja - im Klassikerforum gehen wir davon aus, dass wichtiger als das "Was" der Geschichte das "Wie" ist :zwinker: ... Die Bastarde sind übrigens m.M.n. schon relativ früh klar - ein Nachteil der sauberen, konsequenten Konstruktion, die Arno Schmidt so lobt. Wirklich überraschen kann der Autor den Leser nur dann mit der Lösung eines Kriminalfalls, wenn er sich nicht an eine Logik hält und dem Leser eben nicht alles erzählt, was der wissen müsste. Gutzkow erzählt viel. Viel zu viel ... :rollen:


    Wie kann es da sein, dass Egon sogar noch irgendwelche Regierungsgeschäfte übernimmt und sich vor Überanstrengung davon krank meldet. Da muss das Romantempo ja rasant zunehmen.


    "Rasant" ist übertrieben, aber ja, doch: Es wird noch ein paar Zeitsprünge geben.


    Ich bin derweil ein zweites Mal entsetzt über das Spitzelwesen, dass mich ja schon auf dem Dorf Plessen gewundert hat. Aber in der berliner Brandgasse ist es ja noch schlimmer als auf dem Land. In jedem Hinterhof dieser Wohnsilos, die später nach Zille noch idyllisiert werden werden, gibt es mindestens einen Vizewirth, der gegen Informationen über das Privatleben und den Umgang der Bewohner mietfrei wohnen darf, nachts um 12 auf Tanzbälle geschickt wird um herumzuspionieren und dergleichen mehr. Was für eine Gesellschaft - in der guten alten Zeit!


    Ich fürchte, das Klima der Restauration ist da nicht schlecht getroffen ...

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  • So, ich komme langsam vorwärts. Ich bin nun in VIII.11. Im vorhergehenden Kapitel hat Otto von Dystra den Brief von Olga "kommentiert". Der Mann hat einen sehr sympatischen schwarzen Humor. Es ist Schade, das Gutzkow so eine interessante Figur erst so spät einführt.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Gestern ist mir mal wieder Gutzkows Kapitelbenennung negativ aufgefallen. "Zwei Todte" - am Ende des Kapitels war ich erstmal ratlos, wer der zweite Tote sein sollte. Bis ich nochmal den letzten Satz las. Da fiel mir auf, wie weit der Titel hergeholt ist. Oder bei "Des Sohnes Locke". Der Titel wird erst im darauffolgenden Kapitel wirklich klar.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Hallo,



    Gestern ist mir mal wieder Gutzkows Kapitelbenennung negativ aufgefallen. "Zwei Todte" - am Ende des Kapitels war ich erstmal ratlos, wer der zweite Tote sein sollte. Bis ich nochmal den letzten Satz las. Da fiel mir auf, wie weit der Titel hergeholt ist. Oder bei "Des Sohnes Locke". Der Titel wird erst im darauffolgenden Kapitel wirklich klar.


    Diese Merkwürdigketi ist mir auch - besonders in den letzten Büchern - aufgefallen. Ich kann auch nicht nachvollziehen, warum Gutzkow hier entweder so schlampig war oder was er mit dieser vorausdeutenden Kapitelbenennung beabsichtigte ... . :rollen:


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)


  • Diese Merkwürdigketi ist mir auch - besonders in den letzten Büchern - aufgefallen. Ich kann auch nicht nachvollziehen, warum Gutzkow hier entweder so schlampig war oder was er mit dieser vorausdeutenden Kapitelbenennung beabsichtigte ... . :rollen:


    Komisch. Ich habe das nun eher als eines der wenigen Momente gesehen, wo bei Gutzkow wirkliches literarisches Können durchbricht. Wo er mit dem Text als Text spielen kann ... :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • HaLLO SANDHOFER;



    Komisch. Ich habe das nun eher als eines der wenigen Momente gesehen, wo bei Gutzkow wirkliches literarisches Können durchbricht. Wo er mit dem Text als Text spielen kann ... :winken:


    ??


    Kannst du das mal näher erklären?!


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Na ja: Gutzkow spielt mit der Tradition, dass Titel eines Kapitels etwas mit dem Kapitel zu tun haben müssen. Und liefert Titel, die zwar mit dem Kapitel durchaus zu tun haben - gleichzeitig aber schon mit dem nächstfolgenden Kapitel. Er verwirrt seine Leser, indem er eine Tradition und damit Erwartungen der Leser mit einem textimmanenten Spielchen unterläuft. Das könnten ihm zwar die Romantiker vorgemacht haben, ist aber dennoch recht hübsch. :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus