August 2007 - Uwe Johnson: Jahrestage

  • Hallo zusammen,


    hallo Leibgeber, hallo CK



    Zitat von "xenophanes"

    "Intertextualität" sagt unsereiner gerne dazu


    CK


    danke euch Beiden. Im "Neumann" bin ich noch nicht darauf gestoßen. Den lese ich nebenher, komme aber nur schleppend voran.
    Ich habe die Kristlein-Trilogie von Walser noch nicht gelesen; ob es einen Bezug gibt, kann ich auch nicht sagen.


    24. Dezember 1967
    An dem Tag serviert uns der Autor einen Jerichow-Rückblick.
    Fand ich hilfreich.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Maria,


    auch bei mir kommt die Lektüre nur schwer voran, wegen hoher beruflicher und familiärer Anforderungen. Dennoch schaffe ich jeden Abend einige Seiten. Hoffentlich gelingt mir über die Feiertage wenigstens der tägliche Anschluss.


    Aber darum geht es mir hier nicht. Ich wollte mich als ehemaliger Walser-Anhänger aber kurz über die Anselm-Kristlein-Trilogie äußern. Ich kenne davon leider nur
    [kaufen='978-3518391570'][/kaufen],
    einen eher epischen Roman, den ich aber mehrfach gelesen habe. Es ist eines der besten Wirtschaftswunderjahre-Buch, das ich kenne und es nimmt die Konsumgesellschaft dieser Jahre aufs Korn, ist aber in großen Teilen auch heute immer noch sehr aktuell. Es gibt einige wirklich umwerfend gut geschriebene Passagen in dem Buch, die ich einfach nur deshalb ausschnittsweise erneut gelesen habe. Ich hatte mal vor, die anderen beiden Teile auch zu lesen, habe es aber bisher noch nicht geschafft. Bei Walser bin ich mir nie sicher über die Qualität der Bücher. Manche sind einfach toll, andere von eher schwacher Qualität. "Halbzeit", "Ein springender Brunnen", "Ehen in Philippsburg", "Ein fliehendes Pferd" und seine theoretischen Schriften gehören aber meiner Ansicht zu den stärksten Büchern Walsers (wobei ich hier eingestehen muss, nur etwa 15 Bücher seines umfangreichen Werkes gelesen zu haben). Schade finde ich nur, dass "Halbzeit" recht unbekannt und auch nicht leicht zu kaufen und in Buchhandlungen zu finden ist.


    Das Johnson über Anselm Kristlein unterrichtet war, ist allein schon wegen der Zugehörigkeit beider zur Gruppe 47 anzunehmen, in der ja die Werke der Autor(Inn)en besprochen wurden. Da Walser (wenn ich mich recht erinnere) Johnson ein anderes Ende der Jahrestage ans Herz legte (was aber nicht geschah), ist auch Kritik und Anregung Johnsons über die Anselm-Kristlein-Trilogie anzunehmen. Inwieweit die Wertschätzung unter schriftstellernden Kollegen dabei ging, kann ich ber nur mutmassen.


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo Johnsonfreundinnen und –freunde,


    Ich wünsche euch ein Gesundes Neues Jahr!


    Wenn auch einen Monat hinterher lese ich noch in den Jahrestagen.


    Einige der Schilderungen New Yorks und der politischen Begebenheiten der 60er Jahre finde ich sehr gut und anschaulich. Ich finde die Abwechslung zwischen den Handlungen der Gegenwart und die Erinnerungen der Vergangenheit eigenlich sehr gut. Anfangs war das sehr gewöhnungsbedürftig und eher nachteilig von mir gesehen, aber mit weiterer Lektüre und Vertrautheit der Charaktere ändert sich meine Empfindung.


    Waren viele Deutsche wirklich so blind gegenüber der Einrichtung der perfekten Diktatur um 1933, obwohl sich die Zeichen für Diktatur und Kriegsvorereitung mehrten, wie es Uwe Johnson exemplarisch am Beispiel Cresspahls, der ja noch in Richmond weilte, beschrieb, oder war es sowieso schon längst zu spät, um noch die sich vorbereitende Katastrophe zu verhindern?


    Sehr bedenklich geglückt ist Uwe Johnson die Darstellung der Zynik der Nazis mit „Ossi Menschenfreund“. Wenn Menschen, die ins Zuchthaus gehören, diese selbst einrichten dürfen und verwalten und darin tun und lassen dürfen, was sie wollen, dann ist keine Steigerung der Verrohung/Vertierung und der Niederlage des Menschenvernunft mehr möglich. Doch, die Steigerung der Verrohung/Vertierung wurde und war möglich, durch die Schaffung der Konzentrationslager, die alle bisher dagewesenen Formen des Mordens übertrafen und auf ein industrielles Niveau brachten...


    Solche Textstellen müssen einfach durch das gegenwärtige Leben Maries und Gesines unterbrochen werden, anders wird mir die Lektüre zu schwer und unerträglich.


    Was mir besonders mit dem Beitrag vom 28. November 1967 auffiel: Johnson kannte die DDR besonders gut, auch wenn er gerade noch den Absprung nach Westberlin schaffte. Der Brief, den Gesine Cresspahl vom Rat des Kreises Gneez, Gemeinde Rande erhielt, enthält soviele treffende Carakteristika und pyschologische Details des offiziellen Denkens in der DDR, dass es mich glattweg erstaunte. Dieser Beitrag ist wirklich treffend und auch entlarvend, zeigt, dass auch die DDR sich im Zynismus verstand und in der Ideologie und letztendlich auch in politischer Doppelmoral. Wie sich der Kreis der Geschichte und des Wechsels der Systeme verrät, lässt Uwe Johnson einzig durch Unterschriften von Schettlich, Klug, Susemihl, Kraczinski und Methfessel durchblicken.


    Was Uwe Johnson auch immer wieder als Thema anbringt, ist das Versagen und die Ohnmächtigkeit der Linken zur Zeit der Machtergreifung Hitlers und seines Regimes, was besonders über Cresspahl als Sozialdemokraten und seiner alten politischen Bekannten dargestellt wird. Johnson ließ verschiedene der sie repräsentierenden Menschen mit Cresspahl zusammentreffen und beschrieb ausführlich deren Schicksal, deren Verlust alter Ideale, deren Blindheit und letztendlich Resignation, Anbiederung und/oder Vernichtung. Die Frage von Alfred Andersch, warum man nicht zurückgeschossen habe, bleibt dabei unbeantwortet... und auch, warum nicht alle Gegner der Nazis sich zusammenrauften und –hielten und sich nacheinander schachmatt setzen und auslöschen ließen.


    Ich bleibe dran, da mich der Text immer noch fesselt, aber die Zeitnot wird auch dieses Jahr keine Schnelllektüre zulassen...


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo Friedrich-Arthur,



    Zitat von "Friedrich-Arthur"


    Waren viele Deutsche wirklich so blind gegenüber der Einrichtung der perfekten Diktatur um 1933, obwohl sich die Zeichen für Diktatur und Kriegsvorereitung mehrten, wie es Uwe Johnson exemplarisch am Beispiel Cresspahls, der ja noch in Richmond weilte, beschrieb, oder war es sowieso schon längst zu spät, um noch die sich vorbereitende Katastrophe zu verhindern?


    Was Uwe Johnson auch immer wieder als Thema anbringt, ist das Versagen und die Ohnmächtigkeit der Linken zur Zeit der Machtergreifung Hitlers und seines Regimes, was besonders über Cresspahl als Sozialdemokraten und seiner alten politischen Bekannten dargestellt wird. Johnson ließ verschiedene der sie repräsentierenden Menschen mit Cresspahl zusammentreffen und beschrieb ausführlich deren Schicksal, deren Verlust alter Ideale, deren Blindheit und letztendlich Resignation, Anbiederung und/oder Vernichtung. Die Frage von Alfred Andersch, warum man nicht zurückgeschossen habe, bleibt dabei unbeantwortet... und auch, warum nicht alle Gegner der Nazis sich zusammenrauften und –hielten und sich nacheinander schachmatt setzen und auslöschen ließen.


    Ich bleibe dran, da mich der Text immer noch fesselt, aber die Zeitnot wird auch dieses Jahr keine Schnelllektüre zulassen...


    Dieses Thema wird zwischen dem 07.01. und 19.01.1969 von innen und außen thematisiert. Damit meine ich: außen = politische Situation / innen = die Cressphalsche Situation.


    Gesine fragt Marie wie sie ihre Verwandten sieht, nachdem sie nun einiges darüber gehört hat. Marie ist einer Antwort nicht verlegen. Wir kennen das Mädel ja bereits. Sie hat durchaus eine rigorose Art ihre Meinung zu sagen. Besonders ihren Großvater Cressphal nimmt sie hart in Gericht. Aber alles hat doch seine zwei Seiten.


    dann gehts mit einer Anklage im Kreis Jerichow weiter. Lisbeth hört etwas im Zug, sagt es ihrem Bruder Horst, der sagt es .... usw. Plötzlich soll Lisbeth vor Gericht aussagen. Sehr dramatische Verwicklungen ...


    ich bin schwer beeindruckt über diese Januartage. Freu mich schon wenn du soweit bist FA.


    Ich werde nun die Jahrestage etwas unterbrechen und die Proust-Leserunde mitmachen. Gib bitte Bescheid, wenn du zum 19.01.1968 kommst.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Danke Maria, dass du mich ein wenig heranlesen lässt an den gegenwärtigen Stand der Leserunde!


    Ich habe einige Leseabende zu diesem Buch eingelegt, aber zeitliche Wunder waren nicht zu vollbringen...


    Was du andeutetest mit deinem Beitrag wird auch in Uwe Johnsons Eintrag vom 13. Dezember 1967 gut dargestellt: das Zurechtfinden Heinrich Cresspahls im Hitlerdeutschland zwischen der blutigen Machtergreifung des Östereichers und seiner „nationalsozialistischen Revolution“ und dem sich vorbereitenden Krieg dieser Diktatur. Es ist eine Zeit der trügerischen Ruhe und Verblendung. Johnson stilisierte (und übertrieb vielleicht absichtlich) mit diesem Beitrag als eine Zeit, in der sich noch „leben und auskommen ließ“, in der der Jude Semig freundschaftlich mit Cresspahl umgehen konnte, nicht behelligt wird bei deren gemeinsamen Fahrten im Auto, sogar bei den Tannebaums eingekauft wird (wenn auch spärlich), der Hitlerjugend Streiche gespielt werden konnten, die wirtschaftliche Lage sich erholte, der SPD ein Schnippchen geschlagen wurde... Kein Wort vom gären des Untergrundes...


    Der Beitrag schließt am Ende mit den Worten:


    Zitat

    …Cresspahl hatte sich anfangs nur in guter Haltung in ein Leben in Deutschland schicken wollen. Nun hatte sich herausgestellt, daß es so schlimm nicht war. Mit solchen Kollegen war doch gut umgehen, Bier trinken, über Maschinen und Material und Arbeiter reden, den Nazis Schabernack spielen, leben eben. War das doch...


    Cresspahl befindet sich sozusagen mit seiner Familie im Auge des Orkans und das drohende Unheil wird mit dieser Verharmlosung so vorbereitet, dass die böse Überraschung und die Entladung des Donners um so heftiger folgen wird. Dennoch hat der ganze Beitrag des Tages 13.12.1967 etwas zutiefst beklemmendes.


    Was ich auch bewundere ist die Lebendigkeit, die Johnson Gesine und Marie einschrieb und wie er die Figuren in der pulsierenden Metropole New York und die geschichtlichen Zeitläufe einwebte, als ob alles wirklich so war (oder hätte sein können) und auch heute noch zo überzeugend und frisch wirkt. Wie der Marie zwischen Kind und Erwachsenwerden pendeln läßt ist sehr schön beschrieben und unterstreicht die Lebendigkeit gerade von Marie. Langsam kann ich mich auch an den Figurenkosmos des Werkes gewöhnen.


    Es bleibt ein faszinierendes Buch!


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

    Einmal editiert, zuletzt von Friedrich-Arthur ()




  • Cresspahl befindet sich sozusagen mit seiner Familie im Auge des Orkans und das drohende Unheil wird mit dieser Verharmlosung so vorbereitet, dass die böse Überraschung und die Entladung des Donners um so heftiger folgen wird. Dennoch hat der ganze Beitrag des Tages 13.12.1967 etwas zutiefst beklemmendes.


    Hallo Friedrich-Arthur,
    das obige Beispiel ist schon sehr bezeichnend dafür wie gern der Mensch eingelullt sein will!
    Ich werde mir den 13.12.1967 nochmals zu Gemüte führen.


    Ich weiß jetzt nicht, in welchem Landesteil du lebst, bei uns im Süden wird derzeit im Radio (SWR) an das Jahr 1968 erinnert als "Das Jahr der Veränderung" unter dem Motto "Die Welt vor 40 Jahren".


    Mit den "Jahrestagen" sind wir also ganz aktuell dabei :winken:


    Herzliche Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Johnsonfreunde und –freundinnen,
    hallo Maria und xenophanes,


    Ich liege hoffnungslos mit der Lektüre zurück, bin angekommen Heiligabend 1967. Zum Glück ist die Lesegeschwindigkeit der Leserunde nicht so hoch zur Zeit, was aber dem 2. Band entspricht…


    Einige kleine Bemerkungen:


    Ich habe bei Lesen des 16. Dezember 1967 einmal mehr feststellen können, wie selbstverständlich und nebenbei Johnson wichtige Personen und Handlungen aus seinen anderen Romanen einflocht. An diesem Tag wurde ganz beiläufig auf Handlungen aus


    [kaufen='978-3518396285'][/kaufen]


    geschrieben. Es tauchen Hauptmann Rohlfs und Dr. Blach aus der Erinnerung Gesines auf, die ja auch in diesem Roman, gemeinsam mit ihrem Vater Hauptperson war. Auch die Handlungen gehen von den Mutmassungen über die Jahrestage weiter. Vielleicht sind die Jahrestage als ein Abschluss eines Lebenswerkes und Erzählkosmos zu sehen, der alles noch einmal zusammenfasst…


    Der 18. Dezember 1967 ist ein Beweis, wie gründlich Johnson über die deutsche Geschichte recherchiert hat, welch ein Detailwissen er darüber besaß und wie klar seine Stellung und Einsicht war. Ich lerne so vieles Neue von diesem Buch und vertraue den Angaben Johnsons. Dieser Tag lehrt mich die Unwahrheit des Sprichwortes “Eine Krähe kratzt der anderen kein Auge aus.” oder besser noch, das die hitlerschen Krähen ohne Vergleich in der Geschichte sind…


    Am 20. Dezember beginnt für Heinrich Cresspahl ein neuer Lebensabschnitt, er beteiligt sich an den Kriegsvorberietungen der Nazis und an dem Krieg, den er nicht wollte, am Komplex Jerichow Nord…


    Später mehr…


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo!


    Ich habe nun bald die Häfte des zweiten Bandes gelesen und bin chronologisch Mitte Februar 1968 angelegt.


    Seltsamerweise gefällt mir dieser Band deutlich besser als der erste Teil und habe nicht wirklich eine plausible Erklärung dafür. Jedenfalls lese ich im Moment mit deutlich weniger Vorbehalten als früher. Was mir am Anfang dieses Bandes aufgefallen ist: Johnson gibt sich vergleichsweise leserfreundlich und wiederholt eine Reihe an wichtigen Kontextinformationen, die eigentlich aus dem ersten Teil schon bekannt sind.


    Mir kommen die Tageseinträge auch qualitativ deutlich einheitlicher vor (im Sinne einer hohen Qualität).


    CK

  • Hallo!


    Ich konnte mein angekündigtes langsames Lesetempo leider :breitgrins: nicht durchhalten, und habe nun die zweite Hälfte des zweiten Bandes sehr zügig beendet. Ich werde mich in absehbarer Zeit noch ausführlicher darüber verbreiten, jetzt nur so viel: Ich fand diesmal alle Handlungsebenen und deren Verschränkung auszeichnet gelungen. Werde das Werk nun sicher komplett lesen.


    Bevor ich allerdings den nächsten Band angehe, will ich noch eine andere Tetralogie abschließen und den vierten Teil der Joseph-Romane lesen.


    CK

  • Hallo xenophanes,


    ich bin leider von der Arbeit und anderen Verpflichtungen von der Lektüre (nicht nur der Jahrestage) abgehalten worden. Ich werde aber versuchen, mich wieder zu disziplinieren und anzuschließen. Deine lobenden Worte machen mich neugierig und auf jeden Fall ist es ein Buch, dass trotz seines Umfanges die Lesezeit entlohnt und ausgelesen werden muss und will.


    Ich bin schon neugierig auf deine Beiträge.


    Ich bin dann mal weg zu meinen "Jahrestagen", sie liegen ja auf dem Nachtschränkchen.


    Gute Reise!


    FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo!


    Mein kurzes Fazit zum dritten Band:


    "Langsam las ich den dritten Teil von Johnsons Tetralogie. Der ersten Band ließ mich skeptisch zurück, vom zweiten war ich sehr angetan. Dieser setzte nun das positive Leseerlebnis fort. Auf der Jerichow-Handlungsebene wird die unmittelbare Nachkriegszeit beschrieben, speziell der Beginn der russischen Besatzung und damit der neuen Diktatur. Cresspahl verliert die Gunst der neuen Macht, wird als Bürgermeister von Jerichow abgesetzt, und landet dann längerer Zeit im Gefängnis und in einem Gefangenlanger. Die Zustände im Lager beschreibt Johnson schmerzend realistisch, inklusive der sadistischen Spiele der (immer noch) deutschen Aufseher.
    Die fiktiven Tagebuchaufzeichnungen umfassen den Zeitraum von April 1968 bis Juni 1968 und sind damit ausführlicher und deutlich länger als früher. Wie bisher wird der Leser via New York Times mit den politischen Ereignissen konfrontiert, wo erneut der Krieg in Vietnam und die Turbulenzen in der CSSR eine herausragende Rolle spielen. Letzteres Thema wird noch dadurch verstärkt, dass Gesine in Ihrer Bank mit einem Kreditprojekt für die CSSR beschäftigt ist."

  • Hallo xenophanes,


    bis zum dritten Band habe ich es nicht geschafft bisher, aber seit drei Tagen durch Krankeit ans Bett gefesselt, machte es mir möglich, mich durch fast drei Monate vorwärtszulesen durch dieses monumental-epische Werk. Es ist für mich einfach von Vorteil, dabei größere Blöcke zu lesen, denn erst so erkenne ich die Leistung und die Kraftanstrengung, mit der Johnson dieses Werk geschaffen hat. Sicher gibt es sehr oft wechselnde Perspektiven und sprunghafte Übergänge, aber dennoch haken die Haupterzählstränge nicht und kommt es zu keinen Wiederholungen und wird meine Ansicht immer weiter gefestigt, dass es ein sehr ausgewogenes und sehr gut recherchiertes Werk ist. Mir waren einige Charakterstudien und Beschreibungen dabei besonders gelungen erschienen, wie die Beschreibung Pfarrer Niemöllers und seines Schicksals (26.01.1968), Bürgermeisters Friedrich Jansen und seiner politischen Denkweisen (31.01.1968), der Vorfall vor dem Geschäft der Tannebaums (15. und 21.02.1968), der Tod von Lisbeth Cresspahl (18. und 19.02.1968), Pastor Brüshavers und die Stellung der Kirche im Dritten Reich (22.02. und 1.03.1968), die Nazivergangenheit und die Nicht-Aufarbeitung davon in der Bundesrepublik (28.02. und 3.03.1968), die Europaverbundenheit von Ms. Ferwalter (28.02.1968), Hans Magnus Enzensbergers und der politisch-gesellschaftlichen Moral in der Bundesrepublik der 1968er, die von Bobziens und Wollschläger (1.03.1968), die Verwicklungen Cresspahls mit England (2.03.1968), die Paepkes (8.03 und 18.03.1968), ein Slum in New York (9.03.1968) und immer wieder über den Versuch der Demokratisierung des tschechoslovakischen Sozialismus, die 1968er Jahre und den Zustand des Sozialismus in dieser Zeit. Darüber hinaus wird ein sehr nachvollziehbares Bild des Viet-Nam-Krieges gezeichnet... Die getrennten Erzählstränge wurden dabei immer konsequent weiterverfolgt, es gibt mehrere unterschiedlich dicke rote Fäden durch das Werk, die sich regelmäßig verknoten und dann wieder einzeln weiterlaufen...


    Die Ironie, die Johnson gebraucht, bekommt bei den von ihm beschriebenen Geschichtsmassen einen eigenartig bitteren Beigeschmack. Die Geschichtsmassen machen einen sehr gründlich recherchierten Eindruck und sind sehr ausgewogen in dem Werk dargestellt/zusammengestellt...


    Es ist einfach erstaunlich, in wievieler Hinsicht und Art die Auswirkungen des Nazistaates auf die Menschen war und in wie unterschiedlicher Art sie ihn selbst wiederum stützten. In diesem Nazistaat schien es kaum privates Leben zu geben. Das Schicksal des Einzelnen und auch vieler war diesem Staat völlig gleichgültig. Wie Johnson immer wieder bemerkte, Nazi-Deutschland wurde von Verbrechern regiert...


    Pastor Brüshaver sprach einiges bei seiner Predigt für Lisbeth Cresspahl aus, aber die Beschreibungen Johnsons von Jansen, Paepkes und vielen anderen geben ein viel breiteres und variierteres Bild. Johnson erinnert aber auch an die Wiederstände, die es auch in Nazi-Deutschland gegen das Nazi-Regime gab. Auch dies bedachte Johnson mit einem sehr breit gefächerten Gesamtbild...


    Soweit ein Eindruck von den letzten fast drei von mir durchlesenen Monaten der Jahrestage...


    Ich werde morgen weiterlesen...


    Grüße an dich und die Mitlesenden dieser Leserunde,


    FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

    Einmal editiert, zuletzt von Friedrich-Arthur ()

  • Hallo!


    Die gut ersten hundert Seiten des vierten Bands sind gelesen und mir drängt sich die Feststellung auf: Johnson wird von Band zu Band besser. Nachdem die Lektüre der einzelnen Bände nun einige Zeit auseinander liegt, will ich das nur mal als Hypothese in den Raum stellen. Was ist Eure Meinung dazu?


    Ich finde, er meistert die unterschiedlichen Handlungsstränge immer souveräner und wird auch stilistisch vielfältiger. Vergleichbares zum fulminanten ironischen Porträt der Mrs. Carpenter etwa gab es früher nicht, zumindest nicht in dieser Schärfe. Überhaupt scheint mir Johnson ironischer und sarkastischer zu werden.


    Die problematische Tagebuchform für seinen ästhetischen Zweck thematisiert er (soweit ich mich erinnere zum ersten Mal) explizit:


    Zitat

    Wie dies keins ist [nämlich ein Tagebuch; CK], aus anderen Gründen: hier macht ein Schreiber in ihrem Auftrag für jeden Tag eine Eintragung an ihrer Statt, mit ihrer Erlaubnis, nicht jedoch für den täglichen Tag.


    [2. Juli 1968]


    CK