August 2007 - Uwe Johnson: Jahrestage

  • Hallo zusammen!


    Ich bin fast wieder "zeitgleich", d.h. Ende Oktober. Zeit zu finden zum Lesen ist die letzten Wochen fast unmöglich. Dennoch versuche ich dranzubleiben, selbst wenn ihr mich schon längst abgehängt habt. Heute Abend gehts früh ins Bett, die Jahrestage warten auf dem Nachtschrank...


    Ein sehr lehrreiches Geschichtsbuch diese Jahrestage. Vieles frische ich gedanklich auf und einiges war mir sogar unbekannt. Aber nicht nur deshalb lese ich sie. Mir gefällt einfach Johnsons Stil und mir gefällt auch die Behandlung seiner Themen...


    Bis später, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10


  • Hall


    Ein sehr lehrreiches Geschichtsbuch diese Jahrestage. Vieles frische ich gedanklich auf und einiges war mir sogar unbekannt. Aber nicht nur deshalb lese ich sie. Mir gefällt einfach Johnsons Stil und mir gefällt auch die Behandlung seiner Themen...


    Das Buch liest sich in der Tat flüssig, bei einem 1700 Seiten Werk aus meiner Sicht kein Nachteil ;-)


    Johnsons Stil in den ersten beiden Bänden hat mich stellenweise an Günter Grass erinnert. Zu Beginn des dritten Band empfinde ich eine Veränderung. Johnson wird poetischer und melancholischer. Die Erzählung aus Mecklenburg bekommt eine Form, die mich an Bilder flacher, weiter Landschaften erinnert, und die Menschen werden einsamer. Das kann natürlich auch an der geschilderten Zeit liegen, aber auch an dem Autor selbst.

  • Hallo zusammen,
    ich bin mittlerweile beim 11. Februar, und die Lektüre plätschert so vor sich hin. Wenn ich mal dran bin liest es sich flüssig, aber es packt mich nicht. Kein Werk, das ich ein zweites Mal lesen möchte! Im Unterschied etwa zu Stifters Nachsommer: Der hat ja auch "keine Handlung", und trotzdem las ich ihn gerne wieder. Worin liegt der Unterschied?
    Vielleicht ist es so, dass Nicht-Deutschen diese Thematik weniger am Herzen liegt?
    Johnson gibt sich alle Mühe, eine Identifikation mit den Figuren zu vermeiden, doch vielleicht bräuchte es diese ein Stück weit, damit man ein Werk als spannend empfindet.
    Herzliche Grüsse, Maja


  • Was mich in der letzten Zeit überrascht hat: Mir geht der erste Band doch mehr nach als ich das erwartet hätte. Ich würde fast so weit gehen, zu behaupten, ich freue mich auf den zweiten Teil :smile:


    Den werde ich in absehbarer Zeit anfangen.


    Ich hab heut angefangen, und werde mich, so wie beim ersten, gemütlich da durchlesen, immer so 20-30 Seiten am Stück.



    Also, bei den meisten Personen so kreuz und quer durch die Weltliteratur kam es bei mir nicht oder fast nicht zur Identifikation.
    Oder nur indirekt, will heißen, Siebenkäs und Leibgeber zB geben mir durchaus was, aber vielleicht eher durch eine Sublimation? :wink:


    Und es lag beim Nachsommer auch nicht daran, dass ich mich mit den Figuren nicht identifizieren konnte, dass ich mit dem Roman irgendwie nichts anfangen konnte. :wink:


    Die Thematik der Jahrestage scheint mir ein wenig zu vielfältig, als dass sich ein Gefallen oder Nicht-Gefallen an der Nationalität festmachen ließe.
    Wir hatten als einen wesentlichen Topos bspw. die Erinnerung ausgemacht.


    Und das Werk behandelt ja sowohl deutsche, als auch amerikanische Themen.


    Nein, identifizieren tu ich mich mit dem Personarium auch nicht. Mitfühlen allerdings jenachdem sehr wohl.


    Übrigens:
    Erinnerung baut an: sagen die, die noch einmal zurückgegangen sind. Dahin zurück darf ich nicht. Das ist weit von hier.
    (Seite 490/91)


    Ja, so ist das. Das sind Sätze, die bleiben einfach hängen.
    Manchmal darf man nicht versuchen, zurückzugehen.
    Außer - in der Erinnerung.


    Gruß
    Leibgeber

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Hallo zusammen, hallo Leibgeber


    Zitat von "Leibgeber"

    Wir hatten als einen wesentlichen Topos bspw. die Erinnerung ausgemacht.


    Ja, das stimmt. Dieses Thema blitzt immer wieder auf, gleich wie das Thema Schuld und Erzählen. Da könnte es sich lohnen, Stellen dazu zu sammeln. An der Oberfläche ist dagegen das Thema Vorkriegszeit schon sehr präsent.


    Zur Identifikation: es ist ja nicht so gemeint, dass man sich immer ganz identifizieren können muss, um ein Werk spannend zu finden. Doch es ist offenbar ein erklärtes Ziel von Johnsons Erzählweise, Identifikationsmöglichkeiten zu verhindern, und ich frage mich, ob das nicht allzu gründlich geschieht.


    Zitat von "Leibgeber"

    Manchmal darf man nicht versuchen, zurückzugehen.

    Siehe Max Frisch.


    Herzliche Grüsse,
    Maja


  • Zur Identifikation: es ist ja nicht so gemeint, dass man sich immer ganz identifizieren können muss, um ein Werk spannend zu finden. Doch es ist offenbar ein erklärtes Ziel von Johnsons Erzählweise, Identifikationsmöglichkeiten zu verhindern, und ich frage mich, ob das nicht allzu gründlich geschieht.


    Woran machst du das fest? An der sehr sachlichen, präzisen Schreibe?
    Identifikation ist mE eher ein Fall für -
    Heftliteratur ?? :breitgrins:


    Siehe Max Frisch.


    ??? Magst du das ein wenig genauer ausführen? ??? :wink:

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Identifikation ist mE eher ein Fall für -
    Heftliteratur ?? :breitgrins:


    Mit Bartleby dem Schreiber und Hans Castorp aus dem Zauberberg kann ich mich in weiten Teilen sehr gut identifizieren. Da soll es mir auch Recht sein, wenn das Groschenromane sind :smile:



    Im Übrigen bin ich nun am Beginn des 4. Bandes angekommen und Ende Juni1967. DIe Fahne des Prager Frühlings weht noch über dem Text, Betrachtungen von Zeitgeschichte die mir gut tut, meine Erinnerung an Einzelheiten ist mittlerweile eher blass.


    Beachtlich wie distanziert Johnson schreibt, was die politischen Abläufe betrifft, stellenweise ist aber deutlicher Sarkasmus und Satiere in seinen Schilderungen, besonders wenn er über die Nachkriegszeit berichtet und beschreibt, wie sich seine Romanfiguren neu orientieren.
    Hätte ich den Roman bei seinem ersten Erscheinen gelesen, wäre ich wohl sehr sauer auf Johnson gewesen, weil er sich so viel Zeit mit dem 4. Band gelassen hat. Jetzt bin ich gespannt, wie er die Geschichten zu Ende führt.

    Einmal editiert, zuletzt von Bloom ()

  • Aus meinem ursprünglichen Vorhaben den Roman annähernd parallel zu lesen sind nun weniger als 3 Monate geworden. Mein längster Roman bisher. Ich mag lange Romane, Jahrestage hat mich aber heftig gefordert. Ich bin froh durch zu sein. Gegenwärtig habe ich Hemmungen noch mal so was langes anzufangen, denn mit einem parallel lesen von mehreren Büchern habe ich so meine Probleme.
    Der vierte Band fällt ab, im Vergleich zu den vorherigen Bänden. Mein Eindruck ist, hier musste jemand fertig werden und hat seinen großen Zettelkasten ausgeräumt. Die Figuren verlieren ihre Seele und hetzen nur noch durch die Handlung. Johnsons Erinnerungen an seine eigene Zeit in N.Y. sind vielleicht verblasst in den langen Jahren, die für den letzten Band brauchte. Marie erscheint eher als alte erfahrene Frau denn als Kind. Während Gesine und Marie in New York kaum mehr neue Menschen kennen lernen, tauchen in der Nachkriegszeit ganze Heerscharen von Nebenfiguren auf. Kann es sein, dass Uwe Johnson hier seine ganzen Kontakte noch mal aufarbeitet?
    Die Schilderung der ersten ostdeutschen Jahre hat mir einige neue Perspektiven vermittelt. Besonders über die perfide Art, wie die SED die liberalen Ansätze Stück für Stück ihre humorlose und inhumane Diktatur verwandelt. Der Text bleibt aber phasenweise auf dem Niveau dieser unsäglich schlechten Historiensendungen des ZDF hängen. Was mir historisch noch auffällt ist das völlige ignorieren der dramatischen Vorgänge nach dem „Siebentagekrieg“ im Nahen Osten.
    Wie Johnson den Schluss meistert ist für mich allerdings bemerkenswert. Gesine und Marie sind auf einen großen Sprung eingestellt. Beide haben einen großen Verlust erlitten, der sie letztlich in gewisser Weise auch befreit, aber nur Gesine weiß davon. Wir wissen, ihr Sprung geht ins Leere; sie werden es am nächsten Tag erst wissen, der Roman liegt dann hinter ihnen und möglicherweise ein völlig unerwartetes Leben vor ihnen. Ein schöner Schluss, einer der die Geschichte abschließt und trotzdem viele Wege offen lässt.


    Und das war es dann wohl !

  • Hallo zusammen,



    ??? Magst du das ein wenig genauer ausführen? ??? :wink:


    Johnson hat sich sehr mit Frisch als Autor auseinandergesetzt. Und deine Bemerkung erinnerte mich an "Biographie - ein Spiel".
    Obwohl es bei Johnson wohl nicht um das gleiche geht wie in Biografie (ob man andere Entscheidungen treffen und ein anderes Leben führen könnte). Eher darum, dass Erinnerung ungenau ist und dazu neigt, Sachen zu beschönigen. Oder dass nachträgliches Wissen die Erinnerung, zum Beispiel an die heile Kindheitswelt, trübt.


    Ich bin fast am Ende des zweiten Bandes, sehr eindrücklich fand ich die Erzählungen um Lisbeths Tod und Beerdigung. Dass es in Jerichow durchaus Widerstand gab, der aber weitgehend machtlos war, wird hier an verschiedenen Figuren sichtbar.
    Ganz schwach fand ich aber die Einbettung des Ganzen in Gesines Grippe, dass sie das Unsägliche nicht erzählen, sondern nur in Fieberträumen "herausarbeiten" können soll.


    Herzliche Grüsse,
    Maja


  • Hallo zusammen,


    Der Satz berührt. Danke Leibgeber.
    Die letzten Wochen konnte ich mich auf die "Jahrestage" nicht konzentrieren, nun habe ich sie wieder aufgenommen. Ich bin allerdings immer noch im 1. Teil.


    Besonders eine Symbolik der Erneuerung, des Loslassens und des Bewahrens stellt sich für mich heraus. Kleine Geschichten in der Geschichte, die sich aber um diese Thematik drehen. Ein kleines Beispiel wäre die Erneuerung des New Yorker U-Bahn-Netzes. Ich fand es bedeutend wie Marie die alte Karte des U-Bahn-Netzes von der Wand nahm und sie Gesine zur Erinnerung gab und die neue Karte aufhängte.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen,


    ich habe den 1. Teil beendet und beginne mit dem 2. Teil.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen,


    Der 2. Teil beginnt wieder mit einem Wassermotiv, was mir gut gefällt. Wir hatten das Thema ja mal kurz zu Beginn der Leserunde gestreift.


    Das Wasser ist tief unter der Straße versteckt, wo sie über einen Felsbuckel muß, chlorgrünes, laues, pralles Wasser in einem Fliesenkasten unter dem Hotel Marseille an der West End Avenue, Manhattan, Obere Westseite, New York, New York.


    Weiß einer von euch warum gerade am 20.12.1967 der 2. Teil beginnt?


    Edit:
    hab nachgerechnet: vom 20. August 1967 bis 19. Dezember 1967 (Ende des 1. Bandes) sind es 122 Tage. Wenn ich den Tag ohne Datum nicht dazu zähle, sind es beginnend am 21. August 1967, 121 Tage. Bedeutet das etwas?


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Hallo Maria,


    schön, dass du noch nicht - so, wie die anderen - das Buch "durch hast" oder "zur Seite gelegt hast".


    Ich hänge hinterher, wenn ich auch mittlerweile wieder fast "zeitgleich" aufgeschlossen habe. Mit der Vorraussicht einiger Urlaubstage were ich wohl zumindest mit dir gleichziehen können. Für mich ist weder das Buch noch die Leserunde erledigt.


    Ich wollte noch einmal zum 3. November 1967 zurückkehren, da mich der Beitrag sehr beeindruckt hat, wegen dem, was Johnson hier so treffend ausgedrückt hat. Es geht um Schuld, genauer um Kollektivschuld und Erbschuld. Erstaunlich finde ich, dass Johnson sich als Unschuldiger und Nachgeborener (immer) zu den deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs bekennt und sich seinem Verhältnis als Angehöriger der Täternation (immer) sehr genau bewusst ist, wobei er immer darauf achtet, die Schuldfrage nicht umzukehren oder zu verwässern oder von sich zu weisen. Obwohl er Demokrat ist und aufrichtiger Schriftsteller, der alle Formen von Nazismus anklagt, Unschuldiger im Sinne der Verbrechen des Zweiten Weltkrieges ist, so scheitert er dennoch dabei, eine Lesung vor Juden in New York zuende zu bringen. Er ist nicht angetreten als Verteidiger Deutschlands, er ist dieser Aufgabe auch nicht gewachsen und willig. Er sieht in New York viel deutlicher den Fausschlag ins Gesicht der Opfer, den die Karrieren von Nazis in der Bundesrepublik Deutschland verursachten. Er sieht es, er weiß es, aber er kann es nicht vermitteln, da die Kollektivschuld ihn erdrückt. Was könnten auch seine Argumente anderes sein, als versuchte Rechtfertigungen eines Unschuldigen vor andern Unschuldigen, die aber die größeren Opfer brachten und die gewichtigeren Argumente haben? Jedenfalls kam die Einsicht auf die Unmöglichkeit des Unterfangens nicht mit einer Kapitulation gleich. Denn, wenn auch nicht öffentlich in Lesungen, hat er in seinem Werk dennoch klar und weiterhin Stellung bezogen. Diese Kollektiv- und Erbschuld haftet uns Deutschen immer noch an, vielen zumindest und sie ist nicht immer leicht zu tragen, besonders im Ausland. Das hat Uwe Johnson sehr schön ausgedrückt!


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

    Einmal editiert, zuletzt von Friedrich-Arthur ()

  • Hallo Friedrich-Arthur


    Zitat von "Friedrich-Arthur"

    Ich wollte noch einmal zum 3. November 1967 zurückkehren, da mich der Beitrag sehr beeindruckt hat, wegen dem, was Johnson hier so treffend ausgedrückt hat. Es geht um Schuld, genauer um Kollektivschuld und Erbschuld. Erstaunlich finde ich, dass Johnson sich als Unschuldiger und Nachgeborener (immer) zu den deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs bekennt und sich seinem Verhältnis als Angehöriger der Täternation (immer) sehr genau bewusst ist, wobei er immer darauf achtet, die Schuldfrage nicht umzukehren oder zu verwässern oder von sich zu weisen. Obwohl er Demokrat ist und aufrichtiger Schriftsteller, der alle Formen von Nazismus anklagt, Unschuldiger im Sinne der Verbrechen des Zweiten Weltkrieges ist, so scheitert er dennoch dabei, eine Lesung vor Juden in New York zuende zu bringen. Er ist nicht angetreten als Verteidiger Deutschlands, er ist dieser Aufgabe auch nicht gewachsen und willig. Er sieht in New York viel deutlicher den Fausschlag ins Gesicht der Opfer, den die Karrieren von Nazis in der Bundesrepublik Deutschland verursachten. Er sieht es, er weiß es, aber er kann es nicht vermitteln, da die Kollektivschuld ihn erdrückt. Was könnten auch seine Argumente anderes sein, als versuchte Rechtfertigungen eines Unschuldigen vor andern Unschuldigen, die aber die größeren Opfer brachten und die gewichtigeren Argumente haben? Jedenfalls kam die Einsicht auf die Unmöglichkeit des Unterfangens nicht mit einer Kapitulation gleich. Denn, wenn auch nicht öffentlich in Lesungen, hat er in seinem Werk dennoch klar und weiterhin Stellung bezogen. Diese Kollektiv- und Erbschuld haftet uns Deutschen immer noch an, vielen zumindest und sie ist nicht immer leicht zu tragen, besonders im Ausland. Das hat Uwe Johnson sehr schön ausgedrückt!


    Der 03. November 1967 ist mir auch noch in Erinnerung. Ich habe mich daran erinnert, was in seiner Biographie (von Bernd Neumann) steht. Es wird darin Helen Wolff zitiert (S. 45):


    Auszugsweise:
    One episode to stand for many: Johnson used to take an occasional meal at a Jewish caferteria on Broadway, sitting in a corner, as he thought unobtrusively, but all the same conscious of his Teutonic appearance, enhanced by the inevitable leather jacket. A jewish family took a table close to him, then began eying him suspiciously or so he thought. He immediately got up and retreated, but in a way that no one could misinterret: He walked slowly backward toward the door, all the time turned toward the family and ceaselessly bowing in a gesture of regret nd respect.


    Eine Lederjacke! Ein solches Einfühlungsvermögen ist keine Selbstverständlichkeit!


    Bernd Neumann schreibt dazu (S. 45):


    Zitat:
    Mit einer Mischung aus Faszination und Schuld reagierte Uwe Johnson auf die Anwesenheit der Opfer des Holocaust in New York. Diese Konfrontation wird dazu führen, daß er seine eigenen Wurzeln in der deutschen Geschichte genauer wird ergründen wollen. ..... Die schockartige Entdeckung, daß man, obwohl an den Verbrechen der Nazis unschuldig, den Juden dennoch als blonder Deutscher und Mitverantwortlicher für den Genozid erscheinen mußte, wird dann den Erzählpakt zwischen Gesine und Johnson begründen. Zitat_Ende.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Danke Maria!


    Diese Episode ist ziemlich wichtig, wenn man Johnsons Bücher verstehen will. Das ist mir auch so aus "Mutmassungen über Jacob", "Das dritte Buch über Achim" und seine Erinnerungsbücher im Gedächtnis. Immer kämpfte Johnson mit der Schuld, die nicht seine war, aber die er erbte. Er machte es sich nicht leicht damit und hat wunderbar darüber geschrieben. Dabei wagt er aber auch eigene Zweifel, wo sie ihn legitim erscheinen, entgeht dabei dem reinen Gut-und-Böse-Denken und -Schreiben und wehrt sich gegen Instrumentalisierung von Schuld. Das ist gerade auch in heutiger Zeit interessant in der Politik zu verfolgen. Wichtig ist, nicht zu vergessen, dass Uwe Johnson noch viel näher an der Zeit zwischen 1933 und 1945 lebte, als wir. Ein Grund für seine Aufenthalte in New York und Shearness-on-Sea sind wohl auch darin mitbegründet. Johnson machte nie ein Hehl aus seiner Bewunderung von Hitler-Gegnern. Die Opfer bekamen in seinem Werk eine gewichtige Stimme (und Geste). In den Jahrestagen hält er sich aber zurück und lässt die Fakten sprechen in Form kleiner Zitate aus der Tante Times mit gigantischen Zahlenwerken der Vernichtung, aber in diesem Beitrag konnte er nicht umhin, persönlich Stellung zu nehmen...


    Vielleicht lag das Missverständnis in der Lesung auch daran, dass man das schriftstellerische Werk Uwe Johnsons in New York nicht oder noch nicht genug kannte?


    Hallo xenophanes,


    wenn du den zweiten Band planst, sind Maria und ich ja ungefähr in deiner Lesenähe und besteht Hoffnung auf weitere schöne Diskussionen. Ich versuche die nächsten Tage aufzuholen bis zum zweiten Band. Nicht, dass ich ein Langsamleser bin, nein der Zeitmangel ist es. Ich hatte die Diskussion mit Bloom wohl missverstanden. Jedenfalls gönne ich dir eine Lesepause :smile:


    Grüße, FA

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  • Hallo zusammen,


    ich möchte ein paar Tage aus dem November 1967 nochmals hervorholen, über die ich mir Gedanken machte:


    08.11.1967
    Cresspahl inspiziert das Anwesen, das seine Tochter Gesine vom Großvater überschrieben bekommen hat. Auf dem Grundstück steht ein schwarzer Baum voller Amseln. Das klingt für mich nach keinem guten Start in Jerichow. Außerdem hat Papenbrock die Todesanzeige Grete Cresspahl in die Zeitung gesetzt. Doch Cresspahls Mutter heißt doch Bertha! Es geht bereits jetzt eine Menge schief im Leben der jungen Eheleute Cresspahl.


    12.11.1967
    Jetzt halten wir die jährliche Rede auf deinen Tod. Es kommt auf den Tag nicht an....


    mit dem gesamten in Kursiv gesetzten Text vom 12.11.67 konnte ich nichts anfangen und habe deswegen im Online-Kommentar nachgeschaut. Es ist vom Todestag Lisbeth Cresspahl die Rede. Es kommt auf den Tag nicht an.. ein Widerspruch zu den "Jahrestagen"-Prinzip. Gesine hat ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Mutter. Ich vermute, dass Cresspahl auch nichts dagegen tat in ihrer Kindheit, sondern Gesine auf seine Seite zog "schaut her, das Kind ist wie ich". Auch war Lisbeth Cresspahl Todestag am 10.11. Hier kommt meines Erachtens die Geringschätzung zu der Mutter zu Tage (es kommt auf den Tag nicht an)


    Wir träumen das Flugzeug, wir träumen den Flug, wir reisen in der Nacht, wir hängen in der Luft, wir steigen um an einem Ort, wir müssen weiter durch die Zeit, umso undurchdringlicher als vergangener. Jetzt sind wir wo du warst. Da wo du tot bist, sehen wir dich nicht.


    Online-Kommentar dazu:
    ---------------------------
    Anspielung auf Paul Celans »Todesfuge«, in der es heißt:
    Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
    wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
    wir trinken und trinken
    wir schaufeln ein Grab in den Lüften
    da liegt man nicht eng.
    -----------------------------


    schaurig, trostlos.



    17.11.1967
    Das Erbe wird auf Gesine überschrieben in den Räumen von Avenarius Kollmorgen. Für die Thomas Mann Leser unter uns mag die Info interessant sein:


    -------------------------------------------
    Online-Kommentar:
    Avenarius Kollmorgen war ... den Keller, Avenarius - Aufbau, Figurenkonstellation und Inszenierung der Unterredung sind ein szenisches Pastiche des 8. Kapitels des Vierten Teils von Thomas Manns »Buddenbrooks«, in dem Kesselmeyer teilnehmender Beobachter der Auseinandersetzung zwischen Johann Buddenbrook und dessen Schwiegersohn Grünlich ist; vgl. Pokay (1983), S. 83.
    ----------------------------


    wäre mir jetzt nicht aufgefallen, obwohl ich die Buddenbrooks gelesen habe.


    mit der Karsch-Entführung-Mafia-Affäre und Maries Führungsrolle in dem Fall konnte ich nichts anfangen. War mir irgendwie nicht begreiflich, was die Episode soll. Vielleicht kann das einer von euch erklären?


    Am 21. November 1967 kommt ein Anselm Kristlein vor. Der Name kommt mir so bekannt vor. Wann kamen eigentlich die Romane von Martin Walser (seine Anselm Kristlein Trilogie) heraus? Zufall?


    27.11.1967
    bevor Cresspahl entgültig England den Rücken kehrt, macht er im Norden Londons einen Besuch. Er möchte eine Mrs. Trowbridge besuchen und erfährt von der Vermieterin, dass sie mit dem Kind ausgezogen ist. Aus dem Verhältnis das Cresspahl mit Elizabeth Trowbridge hatte, ging also ein Kind hervor und Cresspahl wußte nichts davon. Später wollte er es Lisbeth sagen, doch wie bereits zu erwarten, kommt es nicht zu einem vernünftigen Gespräch zwischen den Eheleuten.


    Dezember 1967
    Es kommt immer mehr zu Tage, dass Lisbeth sich in die Religion stürzt und von Cresspahl erwartet, dass er die Rolle des Patriarchen übernimmt. Wenn er ausdrücklich darauf bestanden hätte, dass sie in England zu leben hätten, dass wäre Lisbeth sicher einverstanden gewesen. Doch er sieht sich modern und tolerant und will sich in diesem Rollenspiel nicht sehen. Somit gehen die Wege bereits zu anfangs der Ehe auseinander. Auf der anderen Seite (das kommt im Dezember 1967 zutage) besteht er auf die "ausgemachten" drei Kinder. Ob Lisbeth bei der Fehlgeburt des zweiten Kindes nachgeholfen hat, bleibt sehr ungenau beschrieben.


    Es sieht so aus als ob Lisbeth die alte Mecklenburgischen Tradition symbolisiert, Cresspahl den modernen Menschen, der aufgeschlossene und tolerante Mensch, der über dem Kanal (übers Wasser) in England lebte und sich wohl fühlte. Später Gesine über dem "Großen Teich" in New York.


    Trotzdem, beide waren jung genug um Kompromisse einzugehen um gegenseitiges Verständnis aufbauen zu können. Lisbeth und Cresspahl sind zu wortkarg in ihrer Beziehung.


    Wir hatten auch in unserer Diskussion hier mal den Ansatz, dass Marie zu altklug ist und zu erwachsen handelt. Im Dezember zeigt sich, dass sie doch noch sehr kindlich denkt. (21.12.1967 Ein Präsident kann nicht lügen: sagt Marie.) auch trägt sie die Plakete (wir kennen die Plakete aus dem 1. Teil) "Geht raus aus Viet Nam" nur so lange, wie die Mode in ihrer Klasse sich hielt. Das erzählt nun allerdings Gesine.


    Daraus kann man (vielleicht) schlußfolgern, dass nicht nur Gesine und Johnson als Erzähler auftreten, sondern rückblickend auch Marie und sie manches erwachsener erzählt als es tatsächlich war(?). Steffi hat mich auf diesen Gedanken gebracht, als wir uns zu unserem regelmässigen gemeinsamen Frühstück trafen.


    Ich komme zum 28. Dezember 1967.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • Am 21. November 1967 kommt ein Anselm Kristlein vor. Der Name kommt mir so bekannt vor. Wann kamen eigentlich die Romane von Martin Walser (seine Anselm Kristlein Trilogie) heraus? Zufall?


    Nein, das wird in der Biographie von Neumann erwähnt, und auch im Kommentar.


    331, 29 Anselm Kristlein - Figur aus mehreren Romanen Martin Walsers, »Halbzeit«, 1960, »Das Einhorn«, 1966, »Der Sturz«, 1973;


    und


    118, 23 Karsch - Hauptfigur aus DBA, KP; vgl. Johnson, Eine Reise wegwohin. In Martin Walsers »Das Einhorn« tritt unter dem Namen Karsch eine Figur auf, für die Johnson das Vorbild war.


    also, da haben wir einen gegenseitigen Bezug, Fachbegriff dafür hab ich wie üblich nicht parat :wink:
    Karsch taucht auf in "Das Dritte Buch über Achim" (1962), dem erweist Walser eine Reverenz im "Einhorn", und Johnson wiederum bringt Walsers Kristlein in die "Jahrestage".


    Zu der Figur ist mir nichts weiter bekannt, hab nie einen Walser gelesen.
    ( Was soll uns der Name sagen? )



    mit der Karsch-Entführung-Mafia-Affäre und Maries Führungsrolle in dem Fall konnte ich nichts anfangen. War mir irgendwie nicht begreiflich, was die Episode soll. Vielleicht kann das einer von euch erklären?


    Mir blieb die auch rätselhaft. Ich hab Band 1 gerad nicht hier, spielt das eventuell wiederum auf Walsers "Einhorn" an?


    Kristlein taucht noch einige Male auf, u.a. 16. März 1968, wo ich gerade bin, dort auf einer Gesellschaft der Gräfin Seydlitz, hinter der sich (eher ungewollt, wenn ich Neumann richtig kapiert hab) Hannah Arendt verbirgt.


    874, 29f. Herr Kristlein, dies ... Norman, meet Anselm - s.K. 331, 29. Martin Walser läßt einen etwas unbeholfenen »Karsch« (s.K. 118, 23) in seinem Roman »Das Einhorn« (1966) auf einer Party auftreten.


    Gruß
    Leibgeber

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)