Lew N. Tolstoi

  • Hallo Freund Hermann,


    die Schwarzweißzeichnung der Gesellschaftsschichten hat sicherlich viel mit der Empörung des alten Tolstoj über die gesellschaftlichen Verhältnisse im spätzaristischen Russland zu tun, und die müssen auch laut historischen Quellen wirklich übel gewesen sein.


    Seine Ideologie, dass alle Menschen eigentlich gut seien und man ihnen nur nahelegen sollte, nach den Geboten der Bergpredigt zu leben, ist eine gutgemeinte, aber leider ziemlich weltfremde Utopie. Auf den letzten Seiten aber macht Tolstoj durchaus deutlich, dass diese Grundauffassung des Menschen für alle Stände gilt. Er arbeitet auch vorher schon immer wieder heraus, dass auch die Angehörigen der höheren Stände über gute Anlagen verfügen, aber durch eben diese Standeszugehörigkeit korrumpiert werden.


    Letzten Endes ist das eine Aussage, die auch noch für heute gilt, denn auch wir Bewohner der Wohlstandsländer mache über weite Strecken die Augen zu gegenüber dem Elend in den Entwicklungsländern und genießen den Lebensstandard, der letztendlich zu einem großen Teil auch auf der Ausbeutung der Rohstoffe und Arbeitskräfte in diesen benachteiligten Ländern beruht.


    Dennoch finde ich - wie bereits unten angedeutet - das Ende des Romans misslungen: Dieses Alleinlassen Nechljudows mit den Erkenntnissen aus der Bergpredigt und dem Abreißen aller Handlungsfäden wirkt nicht gewollt, sondern hilflos, so als hätte die narrative Kraft den alten Autoren zugunsten dieser Räsonniererei verlassen.


    Das aber lässt mich nicht die weiten guten Strecken des Romans vergessen.


    finsbury

  • Zitat

    Das aber lässt mich nicht die weiten guten Strecken des Romans vergessen.


    Warum auch? Ich persönlich empfand lediglich andere Werke des Autors, wie beispielsweise Anna Karenina, insgesamt als gelungener. Eventuell sollte ich mir bei Gelegenheit auch einmal "Krieg und Frieden" vornehmen, um mir einen Gesamteindruck seines Werkes zu verschaffen.


    freundliche Grüße


    F. Hermann

    Einmal editiert, zuletzt von Freund Hermann ()


  • Hallo Busfahrer,


    mir hat "Anna Karenina" sehr gut gefallen. Obwohl ich den Roman erst einmal gelesen habe, gehört er auf jeden Fall zu meinen Lieblingsbüchern. Ich fand an dem Buch besonders interessant, dass man spürt wie Tolstoi während des Schreibens den geplanten Handlungsablauf änderte.


    hallo,


    ich habe nur eben einmal Zola zitieren wollen, weil mir gerade Dostojewskis Brüder Karamasow durch den Kopf geisterten, bei deren Lektüre ich ein ähnliches Empfinden hatte, so dass ich über diesem Gedanken einzuschlafen vergaß.


    freundliche Grüße


    F. Hermann

  • Zitat

    Ich fand an dem Buch besonders interessant, dass man spürt wie Tolstoi während des Schreibens den geplanten Handlungsablauf änderte.


    Gewagte These - spüren ist das eine, aber Belege? Nabokov in seinem brillianten Essay über Anna Karenina sagt nichts über einen Sinneswandel. Bitte um nähere Erläuterungen.


    Für mich ist Anna Karenina übrigens einer der Romane für die berühmte einsame Insel... Dazu ein Band mit Tchechow-Erzählungen, Shakespeares Tragödien, die "Blumen des Bösen" und "Die Welt als Wille und Vorstellung" - und man könnte es schon eine Zeitlang aushalten...


    Herzlich


    L.

    "Man träumt viel vom Paradies, oder vielmehr von verschiedenen, wechselnden Paradiesen, die doch alle verloren sind, bevor man stirbt, und in denen man sich selbst verloren fühlen würde." ("A la recherche du temps perdu")

  • Hallo zusammen,


    ich lese gerade "Auferstehung" und bin über eine Bezeichnung gestolpert, die ich so, noch nicht gelesen oder gehört habe. Anfang Kapitel 6 (Übersetzung von Ilse Frapan):


    ....um vor sechs Uhr bei der rothaarigen Klara Wasiljewna sein zu können, mit der er im vorigen Sommer auf dem Lande einen Roman gehabt hatte.


    im Gutenberg steht es ähnlich:
    ,...... mit der er im vorigen Sommer einen Roman angesponnen...



    eine bezaubernde Umschreibung eines Liebesverhältnisses, das wollte ich mal kurz anmerken :smile:


    (Grimms Wörterbuch, Auszug:
    roman, m. erdichtete oder dichterisch ausgeschmückte erzählung gröszeren umfanges in prosa, deren kern gewöhnlich ein liebesvorgang ist.... )



    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Derzeit lese ich "Krieg und Frieden" natürlich von Tolstoi. Es ist meine Erstlektüre, das Buch ist großartig ganz bestimmt, doch mir fehlen diese Gedankengänge, diese philosophischen Ausflüge wie zum Beispiel in "Anna Karenina" von Ljewin. Im Grunde könnte man diesen Roman als historisch einstufen, denn das Augenmerk ist einfach der Krieg. Ich denke, dass ich dieses Werk einmal im Leben lese, wobei ich die Anna (und andere Werke) immer wieder gerne lesen würde.

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"


  • ... das Buch ist großartig ganz bestimmt, doch mir fehlen diese Gedankengänge, diese philosophischen Ausflüge ...


    Hallo Anita,


    die wirst Du auch in "Krieg und Frieden" finden, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht.


    Ja, das Buch ist großartig, gehört immer noch zu meinen persönlichen Top 10. Mit Deiner Einschätzung, dass man so etwas vermutlich nur einmal im Leben liest, wirst Du wohl recht haben. Wenn ich Tolstoi noch einmal angehe, dann sicherlich mit der Wiederholungslektüre von "Anna Karenina" oder einem mir nicht bekannten Werk.


    Weiter viel Spaß mit Andrej, Pierre und Natascha!


    Tom


  • die wirst Du auch in "Krieg und Frieden" finden, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht.


    Sicherlich, Pierres und Andrejs Gedankengänge sind vorhanden, mir aber zu wenig :breitgrins:


    Danke, meinen Spaß habe ich :winken:


    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Ich glaube, bei der "Kreutzersonate" war ich von Anfang bis Ende verwirrt, mit nur wenigen klaren Momenten ...


    Es kommt wohl darauf an, ob wir auf die Frage "Was will uns der Autor sagen?" eine Antwort erwarten. Der Protagonist der Erzählung ist offenbar ziemlich verwirrt, was die eigene Einstellung zu den Frauen betrifft, so war es wohl auch Tolstoi selber. Als Studie eines Menschen in extremis aber finde ich die "Kreuztersonate" recht gelungen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Es kommt wohl darauf an, ob wir auf die Frage "Was will uns der Autor sagen?" eine Antwort erwarten. Der Protagonist der Erzählung ist offenbar ziemlich verwirrt, was die eigene Einstellung zu den Frauen betrifft, so war es wohl auch Tolstoi selber. Als Studie eines Menschen in extremis aber finde ich die "Kreuztersonate" recht gelungen.


    Hm, meine Lektüre liegt ca. 10 Jahre zurück, ich weiß daher nicht mehr, was ich damals erwartet habe. Ich erinnere mich, dass ich anfangs zwar verwirrt, aber guten Mutes und neugierig war. Aber ich habe keinen Zugang zu der Erzählung gefunden und mich irgendwann nur noch durchgekämpft. Nein, ich konnte der Kreutzersonate nichts abgewinnen.


    Gruß, Gina

  • Gerade um die Kreutzersonate kann man das Verwirrspiel ja immer weiter treiben, sozusagen ad infinitum.


    Die Erzählung von Tolstoj spielt mit der Sonate von Beethoven. Auf die Erzählung von Tolstoj aber hat dann Leos Janacek wiederum ein Streichquartett geschrieben. Und das Streichquartett wiederum wurde dann von Margriet de Moor in ihrem Buch 'Kreutzersonate' aufgenommen. Wenn das dann noch jemand vertonte. Eine Oper vielleicht diesmal?? :zwinker:

  • Ich mag Tolstoi. Und ich mag Anna Karenina. Es ist ein wundervolles Buch. Und vielleicht sollte man nicht meckern, wenn dies in der Presse auch gesagt wird. Aber ob Meister Tolstoi einen solchen Kritiker wie Moritz von Uslar verdient hat?


    http://www.zeit.de/2014/20/anna-karenina-erstleser


    Der Autor des Textes sagt, er sei 43 Jahre alt. Sein Artikel liest sich eher wie das aufgeregte Geschnatter einer 16-Jährigen, die gerade entdeckt, dass es Spaß macht, ein gutes Buch zu lesen. Ja, Tolstoi ist großartig. Aber hat Moritz von Uslar noch nie ein anderes Buch gelesen? Noch nie ein anderes gutes Buch? :zwinker:


  • Der Autor des Textes sagt, er sei 43 Jahre alt. Sein Artikel liest sich eher wie das aufgeregte Geschnatter einer 16-Jährigen, die gerade entdeckt, dass es Spaß macht, ein gutes Buch zu lesen. Ja, Tolstoi ist großartig. Aber hat Moritz von Uslar noch nie ein anderes Buch gelesen? Noch nie ein anderes gutes Buch? :zwinker:


    Ja, zu diesem Schluss könnte man wirklich kommen. :zwinker:
    Und dann diese Sprache - entsetzlich! "Geschnatter einer 16-Jährigen" trifft es wirklich gut.


    Gruß, Gina

  • Wobei ich dem Autor hier in einem Punkt widersprechen will:
    Das Ende von Anna Karenina nicht zu kennen ist etwa so gut möglich, wie noch nie vom Empire State Building gehört zu haben.


    Ich kannte das Ende nicht, bis ich das Buch gelesen habe. Da gab es aber auch noch keinen Hype, den der Film mit Keira Knightley und Jude Law ausgelöst hat.


  • Es gab einen Film?


    Keira Knightey, Keira Knightley ... ist das die Bajoranerin auf Deep Space 9?


    :breitgrins: ich wusste dass das kommt.


    ich hab den Film nicht gesehen. Den hype aber mitbekommen. Keira Knightley kennt man wahrscheinlich als Elisabeth Swan von Fluch der Karibik.


    Katrin