Hallo Freund Hermann,
die Schwarzweißzeichnung der Gesellschaftsschichten hat sicherlich viel mit der Empörung des alten Tolstoj über die gesellschaftlichen Verhältnisse im spätzaristischen Russland zu tun, und die müssen auch laut historischen Quellen wirklich übel gewesen sein.
Seine Ideologie, dass alle Menschen eigentlich gut seien und man ihnen nur nahelegen sollte, nach den Geboten der Bergpredigt zu leben, ist eine gutgemeinte, aber leider ziemlich weltfremde Utopie. Auf den letzten Seiten aber macht Tolstoj durchaus deutlich, dass diese Grundauffassung des Menschen für alle Stände gilt. Er arbeitet auch vorher schon immer wieder heraus, dass auch die Angehörigen der höheren Stände über gute Anlagen verfügen, aber durch eben diese Standeszugehörigkeit korrumpiert werden.
Letzten Endes ist das eine Aussage, die auch noch für heute gilt, denn auch wir Bewohner der Wohlstandsländer mache über weite Strecken die Augen zu gegenüber dem Elend in den Entwicklungsländern und genießen den Lebensstandard, der letztendlich zu einem großen Teil auch auf der Ausbeutung der Rohstoffe und Arbeitskräfte in diesen benachteiligten Ländern beruht.
Dennoch finde ich - wie bereits unten angedeutet - das Ende des Romans misslungen: Dieses Alleinlassen Nechljudows mit den Erkenntnissen aus der Bergpredigt und dem Abreißen aller Handlungsfäden wirkt nicht gewollt, sondern hilflos, so als hätte die narrative Kraft den alten Autoren zugunsten dieser Räsonniererei verlassen.
Das aber lässt mich nicht die weiten guten Strecken des Romans vergessen.
finsbury