Mai 2005 - Jean Paul: Die Flegeljahre (unvollendet)

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "sandhofer"

    Hältst Du uns auf dem Laufenden?


    Würde gern, aber es ist doch ein rechter Brocken, und mir scheint, dass Du über Fichte besser Bescheid weisst als ich!
    Aber mit grösstem Vergnügen las ich die Interpretation des "Reiterstücks" (Walts Ritt von zuhause in die Stadt) als Parodie auf Fichte und seine Anhänger: Walt als der personifizierte Fichtist und der Schimmel als von ihm gedachtes Objekt, was sich unter anderem daran zeigt, dass Walt am Vorabend mental das Aufsteigen übt. Das Pferd erweist sich dann aber als sehr real und verhält sich überhaupt nicht so, wie sich der Reiter das vorstellt.


    Zitat von "sandhofer"


    Nein, ich glaube nicht, dass Jean Paul Pantheist ist. Sicher, er ist ein Natur-Schwärm-Dichter und das geht oft einher mit Pantheismus. Muss aber nicht ...


    Heute morgen habe ich ein Kapitel über Novalis' Einstellung zu Fichte zu lesen begonnen, und in Nebenbemerkungen wurde erwähnt, dass JP mit diesem im Glauben übereinstimmt, dass es
    - eine andere Welt jenseits der Welt gebe und
    - dass das Bindeglied, der Weg dahin, die Liebe sei.
    Auch der "göttliche Geist", den Novalis bei Fichte vermisst, soll bei JP durch seine Werke spürbar werden. Diesem nähert sich Novalis durch den "Traum vom Traum", was JP allerdings wieder parodiert, doch zu diesem Kapitel komme ich erst...


    Bis später,
    Maja

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Friedrich-Arthur"

    Was haltet ihr eigentlich von Jean Pauls Einstellung zum Geld, dem Symbol des Materialistischen schlechthin? Jean Paul schreibt oft über das Geld, das Geldverdienen und auch Geldverlieren, philosophiert über das Geld und deren Besitz. Ich neige zur Annahme und meine herausgelesen zu haben, dass Jean Paul auf der Glücksskala das Geld deutlich hinter die Liebe stellt. Ich meine, dies sogar bei vielen Schriftsteller(innen) der deutschen Klassik/Romantik ausgemacht zu haben, [...] Sowohl Walt, als auch Vult sitzt das Geld ziemlich locker in den Händen. [...] Geld war aber bei den Romantikern und auch bei Jean Paul wohl eher ein Grundübel.


    Wobei Vult - gerade die Nro. 54 beweist es - zumindest "realistischer" mit Geld umgeht. Jean Paul stellt sicher das Geld hinter die Liebe. Mir fällt aber auf, dass er die Armut durchaus realistisch schildert, so z.B., wenn sich der Vater unserer Zwillinge selbst verstümmelt, um der militärischen Zwangsrekrutierung zu entkommen. Keine Glorifizierung der Armut also - eher die Einstellung, die Jahre später Bobby McGee hatte: Freedom's just another word for nothing left to loose ...


    Zitat von "Friedrich-Arthur"

    Vor kurzen las ich eine Befragung der Deutschen zum Thema Glück und die meisten nannten dabei das Geld als am Wichtigsten. Sind wir heute somit stärker materialistisch eingestellt, als die Zeitgenossen Jean Pauls? Oder hat sich der Ausdruck nur geändert, die Betrachtungsweise?


    Ich glaube, wenn Du zur Goethe-Zeit die Umfage gemacht hättest, wären die Resultate die gleichen. Es ist immer und zu jeder Zeit eine - in gewissem Sinne - Elite, die sich über das Geld erheben kann. Der Normalbürger sieht auch nur zu klar, dass ohne Geld kein Essen auf dem Mittagstisch steht. (Vom 6erBMW in der Garage ganz zu schweigen ... :breitgrins: )


    Zitat von "Maja"


    Würde gern, aber es ist doch ein rechter Brocken, und mir scheint, dass Du über Fichte besser Bescheid weisst als ich!


    Tust Du's trotzdem? Meine Fichte-Lektüre ist Jahre her. (Und ich habe gerade festgestellt, dass meine Ausgaben der verschiedenen Wissenschaftslehren mit einer Ausnahme verschollen sind ... )


    Zitat von "Maja"

    Aber mit grösstem Vergnügen las ich die Interpretation des "Reiterstücks" (Walts Ritt von zuhause in die Stadt) als Parodie auf Fichte und seine Anhänger: Walt als der personifizierte Fichtist und der Schimmel als von ihm gedachtes Objekt, was sich unter anderem daran zeigt, dass Walt am Vorabend mental das Aufsteigen übt. Das Pferd erweist sich dann aber als sehr real und verhält sich überhaupt nicht so, wie sich der Reiter das vorstellt.


    Ja, eine beliebte Kritik an Fichte!


    Zitat von "Maja"

    Heute morgen habe ich ein Kapitel über Novalis' Einstellung zu Fichte zu lesen begonnen, und in Nebenbemerkungen wurde erwähnt, dass JP mit diesem im Glauben übereinstimmt, [...]


    Stimmt auch mit meinem Gefühl überein.


    Ich bin unterdessen bis Nro. 54 vorgedrungen. Walt lässt sich breitschlagen, für Flitte zu bürgen. Er verkracht sich wieder mit Vult, der - halt eben doch realistischer in Geldangelegenheiten - Walts Aktion nun gar nicht zustimmen kann. Die Geschichte des Brüderpaar scheint mir auch eine Geschichte der Emanzipation - nämlich Walts von Vult und auch von seinem Vater. Ein Entwicklungsroman also?


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo Flegelianer,


    es geht sehr zäh voran: Walt schwärmt sich gerade durch seine Wanderreise, zum einen sehr schön, zum anderen - trotz gelegentlicher ironischer Seitenhiebe (z.B. der Wirt, der den Töchtern das von Walt geschenkte Geld gleich wieder durch Verkäufe abknöpft) - ein wenig zu idyllisch und handlungsarm.
    Lustig fand ich ich übrigens das starke Präteritum von bellen. Ein Hund boll in Nr. 42.


    Zu eurer Fichte-Auseinandersetzung kann ich nichts beitragen. Ich habe nur ein wenig im Weischedel gelesen und habe nun so eine grobe Vorstellung von der Fichteschen Philosophie. Nach Weischedel hat Fichte am Ende ja auch von dem absoluten Ich wieder Abstand genommen, weil es sich damit selbst auslöscht.
    Wenn ihr auch theoretische Werke von JP lest, könnt ihr sicher besser beurteilen, welche religiöse Ausprägung sein Leben bestimmte, falls eine solche es wirklich bestimmte.
    Im Roman ist die Naturschwärmerei (aber nur, wenn Walt im Mittelpunkt steht) wirklich stark ausgeprägt, wogegen ich bisher nicht viel Christliches gefunden habe.


    HG
    finsbury

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "finsbury"

    Lustig fand ich ich übrigens das starke Präteritum von bellen. Ein Hund boll in Nr. 42.


    Ich hatte schon ein paarmal den Eindruck, Jean Paul würde typisch süddeutsch-alemannische Sprache verwenden. Obwohl er meines Wissens mit dieser Gegend keinen Zusammenhang hatte ...


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo Flegeljaner,


    Zitat von "sandhofer"


    Ich hatte schon ein paarmal den Eindruck, Jean Paul würde typisch süddeutsch-alemannische Sprache verwenden. Obwohl er meines Wissens mit dieser Gegend keinen Zusammenhang hatte ...


    Zumindest liegt das Fichtelgebirge jenseits (vom Ruhrgebiet aus gesehen) der Appel /Apfel -Linie :breitgrins: .


    Aber im Ernst: Der Schwerpunkt der deutschen Literaturgrößen jener Zeit lag doch eindeutig eher in Süd- und Mitteldeutschland als in Norddeutschland und da die "Hoch"sprache noch nicht so gefestigt war, dagegen die Dialekte auch wegen der Keinstaaterei eine noch größere Rolle als heute spielten, kannst du dieser Hypothese durchaus vertrauen. Allerdings würde ich eher das Fränkische als das Alemannische vermuten.


    Bin ein bisschen weitergekommen. Walt schwärmt sich weiter durch die Landschaft, aber nun wird's interessanter durch Vults Eingriffe.
    Bei diesem die Zukunft beschreibenden Brief musste ich zuerst an JPs Konjekturalbiografie denken, die noch ungelesen auf meinem SUB dahinmodert, von der ich aber gelesen habe, dass in ihr JP vorwiegend sein zukünftiges Leben minutiös beschreibt, genau das, was man sich bei einem Schriftsteller seines Kalibers wohl denken muss, statt einer schnöden normalen Autobiografie.
    Nun ist aber wohl doch Vult es, der seinen Bruder mehr oder weniger inkognito begleitet (Maske, Flötensignale) und für die Erfüllung all der
    Voraussagen sorgt.
    Als Nächstes steht mir Rosenhof bevor, mit Wina und General.


    Euch einen schönen Sonntag, ganz Harry-Potter-frei?! :zwinker:


    HG
    finsbury

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "finsbury"

    Allerdings würde ich eher das Fränkische als das Alemannische vermuten.


    Ja? Danke! Mich haben die Dialekte ehrlich gesagt immer zu wenig interessiert, als dass ich da allzu genau Bescheid wüsste. Jedenfalls kein Nordlicht ...


    Ich bin jetzt in Nro. 56, nachdem Walts mangelnde Französischkenntnisse ausnahmsweise mal nicht abgestraft wurden. Die Brüder haben sich wieder versöhnt und sind zusammengezogen. Beide sind in Wina verliebt, auch wenn Vult meint, Walt sei in Raphaela verschossen.


    Zitat von "finsbury"

    Nun ist aber wohl doch Vult es, der seinen Bruder mehr oder weniger inkognito begleitet (Maske, Flötensignale) und für die Erfüllung all der Voraussagen sorgt.


    Hier hatte ich immer den Eindruck, dass Jean Paul noch etwas im Hinterkopf hatte, das dann aber irdendwie im Sande verlaufen ist.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen!


    Während ich mich langsam dem Ende des Textes nähere, überkommt mich mehr und mehr der Verdacht, dass Jean Paul tatsächlich schon gegen Ende des 4. Bändchens nicht mehr so recht wusste, was er mit seiner Geschichte anstellen sollte. Er beginnt einen Auszug aus Vults Tagebuch, den er schon in einem Nachtrag zur selben Nummer (56) wieder abbricht - angeblich, weil die Auftraggeber sich beschwerten, dass sich der Autor das Leben auf diese Weise allzu leicht mache ... Das könnte zwar auch als Pointe in der Pointe oder so ähnlich gedacht sein, aber mir scheint hier eher die Verzweiflung des J.P.F. Richter an seinem Text aufzuscheinen. Vielleicht ist es aber auch nur, weil ich natürlich weiss, dass Die Flegeljahre nie vollendet wurden?


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo Flegelianer,


    jaja,


    mühsam ernährt sich das Eichhörnchen... .


    Wenn ich mal dran bin, macht es mir sehr viel Spaß, JP zu lesen, aber ich brauche Ruhe dazu, schon die falsche Hintergrundmusik oder irgendwelche familiären Zwischenbemerkungen bringen mich raus.
    Abgesehen davon sind Ferien gar nicht so ruhig, wie ich immer wieder davor denke :zwinker: .


    Nun denn!


    Walt und Wina haben zumindest auf der metakommunikativen Ebene zusammengefunden (47, 48), Vult hat sich als Reisebegleiter geoutet (51).


    Was mich aber, neben den wie immer einfach nur genialen Wortspielen und anderen semantischen Einfällen am meisten erstaunt hat, ist das Schlusskapitel des dritten Bändchens, in dem JP mal eben wieder eine seiner geliebten Vor-, Zwischen- und Nachreden unterbringt.


    Eine sehr schöne Stelle, die auch deine, sandhofer, Leseerfahrung bestätigt:
    Die meisten jetzigen Biografen, (worunter auch die Romanciers gehören) haben den Spinnen wohl das Spinnen, aber nicht das Weben abgesehen -


    Nun, das gilt auch wohl für unseren JP selbst: Es kommt ihm weniger auf eine gut und schlüssig durchgeführte Handlung mit vernünftig verwobenen Anschlüssen an (man denke nur an Walts nächtliches Zusammentreffen mit Jakobine), als eher auf geniale Einzelbeobachtungen: er ist wohl auch im Großen eher ein Meister der kleinen Form ... .


    Ich wüsste gerne, auf welche vier anderen Autoren JP in diesem Schlusskapitel des dritten Bändchens noch anspielt, Goethe ist ja durch die Erwähnung des Wilhelm Meisters ziemlich klar, aber wer noch ?


    In der de Bruyn Biografie habe ich gelesen, dass JP mit Goethe, vor allem aber mit Schiller aufgrund deren bekannter Arroganz gegenüber begabten Nachwuchsautoren nicht gut gut konnte, dagegen wohl sehr mit Herder. Der könnt also auch dazu gehören, aber sonst? :rollen:


    Bis hoffentlich bälder


    HG
    finsbury

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "finsbury"

    Die meisten jetzigen Biografen, (worunter auch die Romanciers gehören) haben den Spinnen wohl das Spinnen, aber nicht das Weben abgesehen -


    Nun, das gilt auch wohl für unseren JP selbst: Es kommt ihm weniger auf eine gut und schlüssig durchgeführte Handlung mit vernünftig verwobenen Anschlüssen an (man denke nur an Walts nächtliches Zusammentreffen mit Jakobine), als eher auf geniale Einzelbeobachtungen: er ist wohl auch im Großen eher ein Meister der kleinen Form ... .


    Mir scheint Jean Paul v.a. in den Flegeljahren darunter zu leiden. Seine andern Romane habe ich irgendwie "geschlossener" in Erinnerung. Ausserdem ist m.W. der "Roman" als literarische Form ja eine Erfindung der Goethe-Zeit. Vorher gab's wohl das Epos, aber das war in vielen, ja den meisten Fällen auch nichts anderes als eine Aneinanderreihung von "aventiuren". Und welche von den Zeitgenossen hatten schon handlungstechnisch vernünftige Romane vorzuweisen? Von Goethes Wilhelm Meister sind die Lehrjahre noch akzeptabel, wenn auch nicht genial, die Wanderjahre kompositorisch die reinste Katastrophe. Novalis' Heinrich von Ofterdingen glänzt kompositorisch auch nicht gerade und ist ebenso Fragment wie Tiecks Sternbald. (Und natürlich unser Leserundenwerk!) Auch die Engländer Swift, Smollet, Sterne weisen nicht wirklich durchkomponierte Werke auf. Erst rund 100 Jahre später sollte dieser Satz genialer Romanciers Europa und Nordamerika überfluten, denen wir unser Bild vom "Roman" verdanken.


    Zitat von "finsbury"

    Ich wüsste gerne, auf welche vier anderen Autoren JP in diesem Schlusskapitel des dritten Bändchens noch anspielt, Goethe ist ja durch die Erwähnung des Wilhelm Meisters ziemlich klar, aber wer noch ?


    Habe ich mich auch gefragt ...


    Zitat von "finsbury"

    In der de Bruyn Biografie habe ich gelesen, dass JP mit Goethe, vor allem aber mit Schiller aufgrund deren bekannter Arroganz gegenüber begabten Nachwuchsautoren nicht gut gut konnte, dagegen wohl sehr mit Herder.


    Der sich ja nun mit seinem ehemaligen Kumpel Goethe auch nicht mehr sehr gut stand. Vor allem wohl: Jean Paul hatte Erfolge beim Publikum und - horribile dictu! -: Er trank Bier und nicht Wein!


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo ihr unermüglichen Flegeljahrianer!


    Mir gefällt Nro. 50 Halber Blasenstein eines Dachshunds - J.P.F.Rs. Brief an den Haßlauer Stadtrat sehr gut. Eine der schönesten Stellen im Buch (aber dies ist meine subjektive Ansicht). Die Punkte, die er am Anfang des Briefes auflistet lesen sich wie "8 Grundsätze zum Verfassen guter Biographien". Aber sie gefallen mir, besonders, weil sie so schön verfasst wurden und durchaus wahr sind. Es ist ein literarischer Exkurs, der mir garnicht so recht zur Biographie passen will und deswegen wohl auch als Brief eingeschoben wurde. Aber Jean Paul musste ihn sich wohl vom Leib schreiben, das merkt man dem Text an. Sind die aufgelisteten Literaten/Philosophen weiter unten im Brief Vorbilder Jean Pauls? Eine reichlich lange Aufzählung, die längste, die ich bisher bei Jean Paul las.


    Noch viel Vergnügen bei der Lektüre und einen weiterhin schönen Samstag wünscht euch FA!

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo Flegelianer,


    bin bis einschließlich 54. Kapitel vorgedrungen. Ich muss sagen, dass es mir schwer fällt, die ganzen Intrigen Flittes und Konsorten nachzuvollziehen und richtig mitbekommen habe ich auch nicht, wieso Walt jetzt die 70 Bäume verloren hat.


    Sehr hat mir das 53. Kapitel bezüglich Flittes Umgang mit seinen Gläubigern gefallen, wunderbare Vergleiche und Metaphern!


    Dass dir, Sandhofer, der Simpel Walt auf den Geist geht, kann ich gut verstehen. Ich würde ihn manchmal auch gerne an den Ohren von Fallen wegziehen.


    Zitat von "sandhofer"


    Mir scheint Jean Paul v.a. in den Flegeljahren darunter zu leiden. Seine andern Romane habe ich irgendwie "geschlossener" in Erinnerung.


    Nun, ich habe gelesen, dass der Hesperus ein Paradebeispiel für gesponnene, aber nicht wieder aufgenommene Handlungsfäden ist, Ähnliches, meine ich, gelte auch für den Titan.
    Ich gaube, wir qualifizieren JP damit nicht ab, schließlich meckert auch keiner an Sternes Genialität herum.
    Durchgeführte Handlungsfäden haben aber doch eine Reihe nicht nur guter Romane von JPs Zeitgenossen und auch früher.
    Selbst beim Simplizissimus und der Courasche erinnere ich mich nicht an derart viele Handlungssackgassen.


    Der Roman war zu JPs Zeiten aber doch wohl schon seit mindestens Jahrzehnten eine etablierte Gattung, man denke an die oben genannten Grimmelshausenwerke, "Die Insel Felsenburg" von Schnabel, auch Triviales, wie den"Sebaldus Nothanker" von Nicolai und die "Geschichte des Fräulein von Sternheim" von Sophie von La Roche, außerdem Gellert und andere Aufklärer.
    Im Ausland gabs berühmte Romanautoren ja noch viel länger, wie Rabelais und Cervantes z.B..
    Ich denke, es gibt eben bestimmte Schriftsteller, die zwar die Romanform zu unserer großen Lesefreude benutzen, weil sie so viele Dinge zu sagen und zu schildern haben und diese leserfreundlich an einem Protagonisten aufhängen, aber die Story ist eben nicht ihr Ding und das tut uns ja auch nicht weh.


    Leider muss ich die nächsten Tage Lese- und Schreibpause machen, wir renovieren nämlich. Wenn ich dann abends mein müdes Haupt bette, ist es nicht mehr unbedingt JP-kompatibel.
    Ich bemühe mich aber, dann schnell ans Ende zu kommen.
    Bilde ich es mir nur ein, oder werden ab ca. dem 50. die Kapitel länger?


    Eine schöne Woche wünscht
    finsbury


    PS
    @ FA: JP hat wohl eine unglaubliche Vorliebe für Vor- und Zwischenreden, da kann er wieder so schöne satirische Seitenhiebe auf seine Zeitgenossen abgeben!

  • Hallo zusammen!


    So langsam nähere ich mich dem Ende. Wunderschön in Nro. 62 die nächtliche Schlittschuhparty.


    Hier zeigt sich Jean Paul in alter Stärke. Bei seinen Disgressionen werde ich einfach das Gefühl nicht los, hier sind sie nicht Zeichen seines schriftstellerischen Genius sondern seiner schriftstellerischen Schwäche. Aber vielleicht interpretiere ich wirklich aus dem Wissen heraus, dass die Flegeljahre unvollendet geblieben sind.


    Im übrigen frage ich mich immer noch, wer die 4 Autoren sein könnten, die da zusammen mit J.P.F. Richter den jungen Sehuster durchfüttern. Goethe wird m.M. eindeutig identifiziert, aber wer sind die andern 3? Schiller? Fichte? (Er galt mal als Protégé Goethes, war aber iirc zu jener Zeit schon nicht mehr in Jena.) Herder scheint mir unwahrscheinlich, weil die ganze Richtung, die Sehuster zu nehmen beginnt, nicht zu ihm passt. Die Geschichte mit dem Wettbewerb liess mich an die Malwettbewerbe denken, welche die Klassiker ausschrieben. Somit könnte auch der "Kunscht-Meyer" mit von der Partie sein ... Hat jemand eine kommentierte Ausgabe?


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo Flegelianer,


    es ist vollbracht! Nachdem ich mir gestern und heute über 50 Seiten zu Gemüte geführt habe, ist die Lektüre mehr oder weniger bewältigt.



    Zitat von "sandhofer"

    Wunderschön in Nro. 62 die nächtliche Schlittschuhparty.


    Hier zeigt sich Jean Paul in alter Stärke.


    Ganz deiner Meinung. Daneben gefiel mir auch besonders gut das Kapitel
    Nr. 58 "Giftkuttel", weil hier JP meisterhaft in der Art der Erinnerung und ihrer sprachlichen Darstellung die beiden Brüder kontrastiert. Walts schwärmerische Idyllenverkitschung spiegelt sich in den langen ruhigen, adjektiv- und adverbienreichen, vorwiegend parataktischen Satzperioden, während Vult sich immer genau an die Schikanen und Lächerlichkeiten erinnert und seine Bissigkeiten in abgehackten, vorwiegend hypotaktisch verschachtelten Sätzen kundtut, mit denen er genau auf die wunden Punkte verweist, die Walts prunkvolle Prosa verdeckt.


    Zitat von "sandhofer"

    Bei seinen Disgressionen werde ich einfach das Gefühl nicht los, hier sind sie nicht Zeichen seines schriftstellerischen Genius sondern seiner schriftstellerischen Schwäche. Aber vielleicht interpretiere ich wirklich aus dem Wissen heraus, dass die Flegeljahre unvollendet geblieben sind.


    Nach Walts Schlussapotheose, seinem umfassenden Traum, der mich an den schon erwähnten toten Christus-Traum erinnert (Leiche der Venus z.B.) und Vults Flucht hat sich JP mE kaum eine Möglichkeit gelassen, mit dem Roman fortzufahren. Das Gegensatzpaar Walt / Vult ist exzessiv ausgedeutet worden, die Liebe ist von beiden erklärt und angenommen /abgelehnt worden, was will er jetzt noch Interessantes bringen? Wie Walt jetzt allein weiterhin an den ausaufernden Bedingungsparagrafen des Testaments scheitert? Ob er Wina trotz des Standes- und finanziellen Gefälles kriegt oder nicht? Das sind jetzt alles nur mehr Handlungsfäden, die zu Ende geführt werden müssten, aber keine neuen Gedankenträger mehr.


    Übrigens habe ich leider auch keine kommentierte Ausgabe.


    Nun, ich melde mich gerne nochmal, wenn ihr noch einzelne Kapitel diskutiert. Ansonsten danke ich euch für die schöne Leserunde und würde gerne mit euch und anderen vielleicht im nächsten Jahr (im Moment brauche ich eine JP-Pause) den "Titan" oder eine seiner Erzählungen
    lesen ( Wutz, Dr. Katzenberger oder Luftschiffer Gianozzo z. B.).


    Bis bald pchallo


    finsbury

  • Hallo zusammen,


    nach einer Woche in den Bergen habe ich nun einen Lesemarathon gestartet und das dritte Bändchen abgeschlossen.


    Zitat von "finsbury"

    Lustig fand ich ich übrigens das starke Präteritum von bellen. Ein Hund boll in Nr. 42.


    ...und später billt er dann noch!


    Witzig fand ich die damalige, auch Neudeutsche Variante des Take away:...zog mit einer Portativ-Mahlzeit davon.


    In Nr. 47 geht das Verwirrspiel mit Autoren, Erzählern und anderen Schreibern weiter: ein J.P.F.R. hat sich 1793 an der Wand im Gasthauszimmer verewigt.


    Ein passendes Zitat: Geschichten wollen Länge, Meinungen Kürze...


    Je länger je mehr habe ich den Eindruck, dass man von diesem Werk bei der Erstlektüre nicht einen Bruchteil dessen mitbekommt, was drinsteckt! Wie wenn man ein symphonisches Werk zum ersten Mal hört. Deshalb lese ich mal zügig weiter und hoffe (einmal mehr), bald eine Zweitlektüre zu schaffen.


    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "finsbury"

    es ist vollbracht! Nachdem ich mir gestern und heute über 50 Seiten zu Gemüte geführt habe, ist die Lektüre mehr oder weniger bewältigt.


    Siehst Du, jetzt bist Du noch vor mir fertig! Ich bin in letzter Zeit nicht mehr zur Jean-Paul-Lektüre gekommen.


    Im übrigen scheint mir aber, dass Du mit Deiner Analyse, warum Jean Paul nicht weiterschreiben konnte, schon recht hast. Ich möchte aber darauf noch im Detail zurückkommen.


    Eine Pause von Jean Paul? Hm. Ich überlege mir gerade, den Titan wiederzulesen. Weil, Maja, es halt schon so ist, dass sich bei Jean Paul bei erneuter Lektüre stets Neues entdecken lässt.


    In der Hoffnung, bald Konkreteres noch beitragen zu können:


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "finsbury"

    Es kommt ihm weniger auf eine gut und schlüssig durchgeführte Handlung mit vernünftig verwobenen Anschlüssen an...


    Dazu ein Zitat aus der Biografie von de Bruyn (die ich sehr empfehlen kann): JP schreibt in einem Brief an Oerthel:Ich hasse doch alles Erzählen so sehr, sobald nicht durch die Einmischung von 10'000 Reflexionen und Einfällen die alte Geschichte für den Erzähler selbst eine neue wird. Also wohl eher das, was man heute als "Kreatives Schreiben" bezeichnen würde, als detaillierte Vorausplanung.


    Zitat von "Sandhofer"

    ...überkommt mich mehr und mehr der Verdacht, dass Jean Paul tatsächlich schon gegen Ende des 4. Bändchens nicht mehr so recht wusste, was er mit seiner Geschichte anstellen sollte.


    Ob da hineinspielt, dass Cotta den 4. Band kaum moch drucken wollte, da er die 4000 Exemplare der ersten drei Bände nicht absetzen konnte? Da vergeht einem ja die Motivation zum weiterschreiben...


    Gruss,
    Maja

  • Zitat von "Maja"


    Dazu ein Zitat aus der Biografie von de Bruyn (die ich sehr empfehlen kann)


    Hallo Maja,


    ich lese diese Biografie schon die ganze Zeit nebenher, nachdem ich sie mir im Studium schon mal zu Gemüte geführt hatte. Ganz deiner Meinung: Sehr aufschlussreich und von einer angenehmen Position aus geschrieben: z.T. literatursoziologisch ohne in Ideologismen zu verfallen.
    Hast du eine neuere Auflage (meine ist von 1978) oder hat de Bruyn seit DDR-Zeiten nichts daran geändert? Das würde mich interessieren.
    Ich finde, er hat damals schon mutig einige Seitenhiebe verteilt, z.B. als um die Zensur geht oder um die Ernst-Moritz-Arndt-Medaille sozialistischer Staaten.


    HG
    finsbury

  • Hallo zusammen!


    Seit gestern abend nun bin ich auch zu Ende mit den Flegeljahren. Ein wunderschöner Schluss!


    (Allein schon deswegen konnte eigentlich ja nichts mehr folgen. Wie hätte Jean Paul nach diesem Bild - Walt erzählt seinen Traum, Vult spaziert flötend aus der Stube und aus Walts Leben -, wie hätte er danach noch weiterfahren sollen? Walt und Wina kriegen sich, aller religiösen und ständischen Widerstände zum Trotz? Dazu war Jean Paul (politisch) wohl zu sehr Realist. Andererseits entsprach ein tragisches Ende auch nicht seinem Naturell. Und Vult? Ein ähnliches Ende wie Schoppe / Leibgeber? Aber dafür war ja der Titan da. Und ein anderes Ende wäre Vult wohl nicht angemessen.)


    Walts Traum war etwas vom Schönsten, das ich je gelesen habe. Ich konnte mich von meiner Erstlektüre (ist allerdings Jahre her; damals habe ich anders gelesen ... ) gar nicht mehr daran erinnern. Diese Passage erreicht Goethes Märchen problemlos, wenn sie es nicht sogar übertrifft. Und wie bei Goethe habe ich mich immer gefragt, ob dieses oder jenes Bild eine tiefere Bedeutung haben könnte; und wie bei Goethe habe ich es sein lassen, danach zu suchen. Vielleicht, dass Jean Pauls Pläne für eine Fortsetzung darin versteckt sind.


    Maja: Dass die Absatzschwierigkeiten und Cottas Verhalten Jean Paul nicht unbedingt motiviert haben, glaube ich auch. Ein weiteres Puzzle-Teilchen.


    Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich erstaunt war darüber, wie kritisch (auch in politicis) Jean Paul geschrieben hat. Kein Wunder, war er nicht überall beliebt ... Ganz klar, dass gerade Gutzkow sehr vieles von ihm gelernt hat. Ja, ich muss unbedingt den Titan noch dieses Jahr lesen ...


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen,


    gerade habe ich meine Zweitlektüre von de Bruyns Jean Paul - Biografie beendet und dabei gelesen, dass JP sich noch kurz vor seinem Tod darüber grämte, dass er gerade die Flegeljahre nicht volllendet hat.


    Obwohl ich immer noch, wie auch du, sandhofer, sagst, der Meinung bin, dass dieses Werk doch vollendet ist und weitere Kapitel eventuell wie ein angeklebter Appendix gewirkt hätten, zeigt JPs Gram doch, wie hoch er dieses Werk schätzte. An anderer Stelle erwähnt de Bruyn übrigens auch, dass JP es für seinen besten Roman hielt.


    Trotz der nicht einfachen Lektüre ist dieses Werk auch für mich ein Höhepunkt der deutschen Literatur, in Bezug auf die sprachliche Virtuosität und Intensität der Schilderung sogar ein fast nicht zu erreichender einsamer Gipfel. Ich fürchte nur, der "Titan" wird dagegen fast ein wenig abfallen, weil er wohl auch weniger satirisch ist.


    HG


    finsbury

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "finsbury"

    Hast du eine neuere Auflage (meine ist von 1978) oder hat de Bruyn seit DDR-Zeiten nichts daran geändert? Das würde mich interessieren.


    Fischer Taschenbuch von 1991, aber es steht nichts darin, dass es eine veränderte Neuauflage sei.


    Zitat von "finsbury"

    Ich muss sagen, dass es mir schwer fällt, die ganzen Intrigen Flittes und Konsorten nachzuvollziehen und richtig mitbekommen habe ich auch nicht, wieso Walt jetzt die 70 Bäume verloren hat.


    Suchst nun Du zu weit oder ich zu wenig weit? :confused: Pro Fehler in seinen Notariats-Schriftstücken 7 Bäume. Wo sind die Intrigen?


    In Nr. 57 habe ich mich gefragt, ob die Ausführungen übers Dreschen in einem Zusammenhang mit dem Titel stehen. Vult über die ersten Drescher(bzw. die Flegel) zu Winterbeginn:"...nur störet ihr Takt meiner Flöte ihren"
    Dann die Drescherzunft, in der man für jeden Zank in der Scheune einen Flegel abgeben muss: das erinnert doch an das Testament, wo Walt für jeden Fehler etwas von Erbgut verliert.


    Zitat von "finsbury"

    Daneben gefiel mir auch besonders gut das Kapitel
    Nr. 58 "Giftkuttel",


    Schliesse mich an!


    Zitat von "Sandhofer"

    Eine Pause von Jean Paul? Hm. Ich überlege mir gerade, den Titan wiederzulesen.

    Habe letzte Woche den Siebenkäs ausgeliehen...


    Herzliche Grüsse,
    Maja