Mai 2005 - Jean Paul: Die Flegeljahre (unvollendet)

  • Hallo zusammen!


    Materialien zu Jean Paul sind zu finden:


    [list]- bei der parallel laufenden Leserunde zum Siebenkäs eine Biografie
    - hier ein tabellarischer Lebenslauf,


    wie überhaupt unter jean-paul-richter.de einiges an Informationen aufgelistet ist. Die Seite verfügt seit Anfang 2004 sogar über ein - allerdings nicht sehr besuchtes - Forum.
    Weiteres findet man bei der Jean-Paul-Gesellschaft.


    Eine einfühlende Einführung in Jean Pauls Welt bietet imho Harry Timmermann in seinem Radio-Essay.


    Last but not least ist der Text der Flegeljahre auch beim [Blockierte Grafik: http://gutenberg.spiegel.de/jeanpaul/flegel/flegel.jpg] Projekt Gutenberg abrufbar.[/list:u]


    Der Text blieb unvollendet (wobei gerade sein offener Schluss paradigmatisch für die moderne Literatur wurde). Es ist die Geschichte zweier Brüder, einer Liebe ... und eine Auseinandersetzung mit den damals aktuellen geistesgeschichtlichen Strömungen, wie sie nur dieser Pan-Gelehrte und gescheiterte Theologe schaffen konnte.


    Grüsse


    Sandhofer


    Ergänzungen erwünscht und willkommen!

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo sandhofer,


    dass sich hier gleich zwei Leserunden über Jean Paul (Flegeljahre und Siebenkäs) gebildet haben, rechne ich eurem Forum hoch an und es gilt für mich als ein Qualitätsbeweis. Wichtig wäre für mich (da bin ich vielleicht schon zu frech/anmaßend, weil ich nicht einmal der Leserunde angehöre) noch anzumerken, dass "Die Flegeljahre" eine humoristische Totalität vertreten, die mir bisher noch in keinem Buch untergekommen ist und dass diesem Buch eine Humanität und Menschenliebe eigen ist, die einfach aus dem Buch übersprudelt, und mich beim Lesen immer anrührt. Das Buch ist Medizin für mich und reißt mich beim Lesen völlig aus dem hektischen Strom des Geschehens und lässt mich das Schlechte der Welt vergessen oder puffert es ab. Es hält mir aber auch den Spiegel vor und zeigt mir, wie weit ich noch von der Jean Paulschen Menschenliebe und Humanität entfernt bin. Er ist aber - ich verwende jetzt mal eine Phrase - ein leuchtendes Beispiel für mich. Hermann Hesses Zitatausschnitt

    Zitat

    Ein Buch von Jean Paul gut zu kennen, ist hohe Bereicherung, man lernt es nie aus. Obenan die "Flegeljahre"...


    Jean Paul war nichts Menschliches fremd und dass macht auch heute seine Bücher noch so lesenswert!


    Ansonsten stimme ich deiner schönen Einleitung zu!


    Gastbeiträge sind doch hoffentlich erwünscht?


    Los geht es also mit einer der schönsten humoristischen Stellen der mir bekannten Literatur: Nro 1: BLEIGLANZ _ Testament - das Weinhaus


    Ich freue mich schon auf eure Beiträge!


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo zusammen!
    Hallo Friedrich-Arthur!


    Zitat von "Friedrich-Arthur"

    Ansonsten stimme ich deiner schönen Einleitung zu!


    Danke!


    Zitat von "Friedrich-Arthur"

    Gastbeiträge sind doch hoffentlich erwünscht?


    Jederzeit!


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen!


    Dann eröffne ich mal den Thread zur Leserunde "Flegeljahre". Den Materialienthread findet Ihr hier.


    Zu meinem Lesetempo: Ich werde versuchen, pro Tag 1-2 Nummern (i.e. Kapitel) zu lesen und 2-3mal pro Woche zu posten.


    Zu meiner Ausgabe: Ein älterer Tempel-Klassiker (zweibändig; im zweiten Band: Titan, Flegeljahre, Selbsterlebensbeschreibung) ohne Jahr, aber in den 70ern neu gekauft.


    Ich freue mich auf interessante Diskussionen!


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo,


    auch noch nicht richtig angefangen, aber die erste Bemerkung zu meiner peinlichen :redface: Ausgabe: noch in Studententagen gekauft: Jean Paul: Werke in vier Bänden, bearbeitet :entsetzt: von Prof. Alfred Brandstetter, Band 4, Flegeljahre.


    Der gute Mann hat sich nicht entblödet, Jean Pauls Beigaben wegzulassen, also etwaige Jus de tablette oder Musteile ... .


    Ich hoffe, ich darf trotzdem mitlesen... . Eine andere Ausgabe kaufe ich mir gewiss nicht.



    Den Anfang finde ich furios:


    Solange Haslau eine Residenz ist, wußte man sich nicht zu erinnern, daß man darin mit solcher Neugier auf etwas gewartet hätte - die Geburt des Erbprinzen ausgenommen - als auf die Eröffnung des van der Kabelschen Testaments.


    Na, da ist man doch gleich mit neugierig ...


    Bis bald


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen!


    Die ersten beiden Stücke habe ich nun gelesen. Wie schon finsbury angedeutet hat, ein Anfang, der einen so richtig in die Story zieht. In aller Breite und sehr witzig geschildert. Auch fehlt ein Touch an Aggressivität oder gar Sadismus nicht, so z.B., wenn Jean Paul davon spricht, dass man eine Lerche mit einem eingeölten Stecknadelkopf klistiere. (Das mag allerdings zu jener Zeit, wo Wildvögel gefangen, verkauft und in Käfigen im Zimmer und vor den Fenstern gehalten wurden, tatsächlich so gemacht worden sein.)


    Als "typisch Jean Paul" empfinde ich auch das Verwirrspiel mit Namen und damit auch Identitäten, das er schon in den ersten beiden Stücken startet. Was da alles "Richter" heisst, geheissen hat, heissen wird ... !


    Grüsse


    Sandhorer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Sandhofer"

    Zu meinem Lesetempo: Ich werde versuchen, pro Tag 1-2 Nummern (i.e. Kapitel) zu lesen und 2-3mal pro Woche zu posten.


    Das nenne ich klare Vorgaben :smile: Etwa ähnlich schwebt es mir auch vor, und ich werde versuchen, mich daran zu halten.
    Ich lese Insel, habe vor ein paar Wochen schon mal begonnen, und war auch vom Anfang begeistert. Die Testamenteröffnung erinnerte mich an Gotthelf.
    Im Moment bin ich gerade im Stress, muss noch einkaufen gehen, aber beginne heute abend mit der Lektüre, und hoffe, mich lesetechnisch noch zu verbessern, was Notizen und Selberdenken betrifft. Sekundärliteratur ist vorderhand keine geplant!


    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Hallo, ihr beiden,


    habe bisher Bleiglanz, Katzensilber, Terra miraculosa saxoniae gelesen und stecke nun im Mammutsknochen aus Astrakan: Bisher finde ich - neben der witzigen Idee - dass einige Titel durchaus Bezug zu den Kapiteln haben, wenn auch mein Kindler das für viele Titel abstreitet: Bleiglanz klar: das Testament; Katzensilber: der listige Autor; terra miraculosa: das wundersame Leben in Schweden, das ja auch mit S beginnt und Wikingertraditionen hat... . Vielleicht ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, aber man kann sich jedenfalls was denken.


    Bin bisher sehr angetan, der Kopf ist bei dieser Lektüre sicher nicht unterbeschäftigt.
    Freue mich nun auf die Hauptperson.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen!


    Ich bin noch nicht weitergekommen; vielleicht lese ich nachher noch ein Stück oder zwei ...


    Zitat von "Maja"

    Die Testamenteröffnung erinnerte mich an Gotthelf.


    Inwiefern? Ich versuche das gerade nachzuvollziehen, aber ausser vielleicht in seiner Weitschweifigkeit sehe ich jetzt keine Parallelen zu Gotthelf ...


    Zitat von "finsbury"

    Bisher finde ich - neben der witzigen Idee - dass einige Titel durchaus Bezug zu den Kapiteln haben


    Ich bin zu wenig firm in Gesteinskunde, um das nachvollziehen zu können. Im Moment freue ich mich einfach an den skurrilen Titeln ...


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen,

    Zitat von "Sandhofer"

    Inwiefern?


    Knisternde Spannung im Raum, Überraschungen und lange Gesichter, Zwietracht unter den Hinterbliebenen und dass man sich geradezu vorstellen kann, wie sich der Testamentschreiber im Himmel oben amüsiert.


    Gruss, Maja

  • Hallo zusammen!
    Hallo Maja!


    Ok, ich sehe, was Du meinst. Für mich ist Gotthelf halt zu ernsthaft, als dass er mir bei Jean Paul in den Sinn gekommen wäre. Eher dann (auch wenn ich solche Vergleiche generell hasse!) Swift. Auch dessen Tristram Shandy ist so einer, der scheinbar nie zu Potte kommt. 14 Kapitel von den ersten Wehen bis der (angebliche) Held der Geschichte auch nur zur Welt gekommen ist!


    Ich bin jetzt bei Jean Paul im 4. Stück - und Gottwalt haben wir immer noch nicht persönlich kennengelernt. Statt dessen ein Exkurs über das Pfarrer-Sein in Schweden! (Wo Jean Paul m.W. auch nie war. So wenig wie im Italien seines Titan.) Immerhin nähern wir uns dem Erben offenbar. Und schon kommt ein weiteres Jean-Paul-typisches Element hinzu: der Doppelgänger (und hier sogar leibliche Bruder!), natürlich nach bürgerlichem Standpunkt missraten und von zu Hause entlaufen. Und wie zufällig steht ein Fast-Namensvetter des Erben auch schon da: ein Flötenspieler ... (Und der Bruder Gottwalts ist ja - welch ein Zufall! - mit einem ebensolchen durchgebrannt ... ) Manchmal konstruiert Jean Paul so plump, dass es schon wieder genial wird ...


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen,


    Ich habe mich auch beim zweiten Lesen von Nr. 1 bestens unterhalten und mich über die witzigen Details amüsiert.


    Zitat von "finsbury"

    Bisher finde ich - neben der witzigen Idee - dass einige Titel durchaus Bezug zu den Kapiteln haben, wenn auch mein Kindler das für viele Titel abstreitet: Bleiglanz klar:das Testament; ...


    Bin gespannt auf mögliche Bezüge! Bei Bleiglanz habe ich an die Lettern des Buchdruckers gedacht.


    Am Anfang von Nr. 2 wurde mir das who is who schon fast zu kompliziert: "Der Verfasser dieser Geschichte...." - "Das Katzensilber aus Thüringen habe ganz erhalten;" wer schreibt jetzt was :confused:


    sandhofer: ich habe schon mitgekriegt, dass Du Vergleiche nicht so magst! Das Dumme ist nur, dass es mich generell Richtung Komparatistik zieht, und ich wollte, ich hätte Dein Wissen und Deine Vergleichsmöglichkeiten!


    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Maja"

    Am Anfang von Nr. 2 wurde mir das who is who schon fast zu kompliziert: "Der Verfasser dieser Geschichte...." - "Das Katzensilber aus Thüringen habe ganz erhalten;" wer schreibt jetzt was :confused:


    Wer ist wer - - - wer bin / ist "Ich"? Meiner Meinung nach das alle Werke durchziehende Thema bei Jean Paul.


    Kapitel Nr. 6 - und noch immer ist die Hauptperson nicht aufgetreten ...


    Nr. 5: Der Vater und seine skurrilen Einfälle, Grenzen mitten durch die Wohnstube zu ziehen. (Sternes Uncle Toby, der ganze historische Schlachten in seinem Garten nachstellt, lässt grüssen :smile: !)


    Nr. 6: Vult wird - wenigstens für den Leser - definitiv als der entlaufene Bruder enttarnt. Der Zyniker mit weichem Herzen - eine für Jean Paul typische Figur.


    Soweit für heute.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo, ihr beiden,


    habe das Buch gerade nicht zur Hand und leider im Moment kaum Zeit.


    Ich weiß nicht genau, welches Kapitel es ist, aber ich bin jetzt gerade mit dem tränenreichen Zusammentreffen der beiden Brüder fertig geworden.


    Es ist einfach unglaublich, wie Jean Paul die verschiedenen Stilebenen ständig durchmischt. Sentimentalste Elemente, die meinem heutigen Empfinden nach schon gut als Kitsch durchgehen können (Goldines Reaktion auf Gottwalts Lyrik, die oben erwähnte Offenbarung Vults gegenüber seinem Bruder) wechseln mit sehr ironischen Passagen voller ausufernder Phantasie (Gottwalds Ritt zur Stadt, die Kugel im Ohr des Pferds).
    Wenn wir Vergleiche innerhalb der deutschen Literatur heranziehen wollen
    (sowas mag ich auch, Maja :zwinker: ), so fällt mir vor allem Raabe ein:
    eine ähnliche Mischung von Sentimentalität und Ironie, z.B. in den 'Akten des Vogelsangs' oder 'Stopfkuchen', aber weniger phantasievoll als Jean Paul, dafür einfacher zu lesen.
    Die Idee mit der beschleunigenden Kugel erinnert mich an Bürgers Münch-hausen: Eine Tradition skurriler Literatur haben wir in Deutschland durch-aus, nur nicht so elegant und weltmännisch wie die Engländer mit ihren Sterne und Swift ( sandhofer: Für dich die gleichen Autoren beim Tristram Shandy?).
    Bei uns ist alles gerne ein bisschen mit Gemütlichkeit, Provinzialität und Tränenseligkeit durchmischt, aber das hat ja auch viel mit unserer Kleinstaaterei der Vergangenheit zu tun und ist allemal sympathischer als die Großmannssucht in den beiden Weltkriegen.


    Kann mich momentan aus Jobgründen nicht so oft melden.
    Einen schönen Start in die Arbeitswoche wünscht

    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen!


    In seiner Vorschlue der Ästhetik unterscheidet Jean Paul 3 Typen von Romanen (" drei Schulen der Romanenmaterie"):[list]Die erste Klasse bilden die Romane der italienischen Schule. (Man verzeihe dem Mangel an eigentlichen Kunstwörtern den Gebrauch von anspielenden.) In ihnen fallen die Gestalten und ihre Verhältnisse mit dem Tone und dem Erheben des Dichters in eins. Was er schildert und sprechen läßt, ist nicht von seinem Innern verschieden; denn kann er sich über sein Erhabnes erheben, über sein Größtes vergrößern? - Einige Beispiele, welche diese Klasse füllen, machen das Spätere deutlicher: Werther, der Geisterseher, Woldemar, Ardinghello, die Neue Heloise, Klingers Romane, Donamar, Agnes von Lilien, Chateaubriands Romane, Valérie, Agathon, Titan etc.; lauter Romane zu einer Klasse, obwohl mit sehr auf- und absteigendem Werte, gehörig; denn keine Klasse macht klassisch. In diesen Romanen fodert und wählt der höhere Ton ein Erhöhen über die gemeinen Lebens-Tiefen - die größere Freiheit und Allgemeinheit der höhern Stände - weniger Individualisierung - unbestimmtere oder italienische oder natur- oder historisch-ideale Gegenden - hohe Frauen - große Leidenschaften etc. etc.


    Die zweite Klasse, die Romane der deutschen Schule, erschwert das Ausgießen des romantischen heiligen Geistes noch mehr als sogar die niedrigere dritte. Dahin gehören z. B. - damit ich durch Beispiele meinen Erläuterungen vorbahne - Hippel, Fielding, Musäus, Hermes, Sterne, Goethens Meister zum Teil, Wakefield, Engels Stark, Lafontaines Gewalt der Liebe, Siebenkäs und besonders die Flegeljahre etc. Nichts ist schwerer mit dünnem romantischen Äther zu heben und zu halten als die schweren Honoratiores - -


    Ich will aber lieber sogleich die dritte Klasse, die Romane der niederländischen Schule, dazunehmen, um beide wechselseitig aneinander zu erhellen; dahinein gehören Smolletts Romane teilweise - Siegfried von Lindenberg - Sterne im Korporal Trim - Wutz, Fixlein, Fibel - etc. (XII. Programm, § 72)[/list:u]


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen!


    Ich bin jetzt bei Stück 12. Die Brüder haben sich noch nciht getroffen; Tränen sind aber ebenfalls schon viele geflossen.


    Zitat von "finsbury"

    Es ist einfach unglaublich, wie Jean Paul die verschiedenen Stilebenen ständig durchmischt. Sentimentalste Elemente, die meinem heutigen Empfinden nach schon gut als Kitsch durchgehen können (Goldines Reaktion auf Gottwalts Lyrik, die oben erwähnte Offenbarung Vults gegenüber seinem Bruder) wechseln mit sehr ironischen Passagen voller ausufernder Phantasie (Gottwalds Ritt zur Stadt, die Kugel im Ohr des Pferds).


    Das ist durchaus Programm bei Jean Paul. Ich habe in den Materialien mal einen kurzen Ausschnitt aus der Vorschule der Ästhetik kopiert, wo er das deutlich macht.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ich versuche mich mal im "Senf dazugeben":


    Erstes Bändchen


    Nro 1: Bleiglanz


    Testament – das Weinhaus


    3te Klause


    Eine Klausel, die auch mir die Tränen in die Augen trieb, wenn auch Freudetränen und keine Tränen über den Testator. Eine sehr kauzige Geschichte. Dieses Ringen mit den Tränen der Anverwandten um das Haus des Testators ist köstlichst, der Stil, mit dem Jean Paul dies beschrieb meisterlich, die Wortmacht unglaublich. Überhaupt musste Jean Paul dem Grimmschen Wörterbuch der deutschen Sprache wohl in nichts nachgestanden haben. Seine Phantasie ist der E.T.A. Hoffmanns ebenbürtig. Wie da also um die Wette gemeint wird, der Kampf um das kostbare Nass, genial. Die Trockenheit, mit der Jean Paul die Feststellung der Rührung Flachsens zu Protokoll bringen und ihm das Haus übereignen lässt finde ich herrlich geschildert. Jean Paul musste an seinem Gartentische sicher viele Ansätze machen, um diese Klausel ins Reine zu schreiben. Er musste während des Schreibens ein glücklicher Mensch gewesen sein, von einer Art höherer Heiterkeit, die über den Dingen steht und von der Hesse im Glasperlenspiel so viel schrieb. Aber einige andere Klauseln verstehe ich nicht recht gut und sehe ihren Sinn nicht recht ein, außer, dass sie eigentlich geschrieben sind, um verletzt zu werden und unerfüllbar zu sein…


    Nro 2: Katzensilber


    J.P.F.R.s Brief an den Stadtrat


    Was mir immer in Jean Pauls Romanen “Flegeljahre” und “Siebenkäs” begegnet, ist die Auseinandersetzung mit seinem eigenen Schreiben. Ob es nun die eigene Art zu Schreiben ist, die Weise der Stofffindung oder die Behandlung von Zensur, wirtschaftlich und gesellschaftlicher Stellung des Schriftstellers, stets verwebte er dies in seine beiden Romane. Dabei hielt er mit eigenen Ansichten nicht zurück und behielt für seine Arbeit doch viel Liebe übrig. Jean Paul war ein Schriftsteller des Herzens und des Zwanges. Des Zwanges, sich zu äußern und das Leben schreibend zu bewältigen. So erfahre ich zumindest die Lektüre…


    Nro 5: Vogtländischer Marmor mit mäusefahlen Adern


    Meine Frage ist: war Jean Paul Rechtsanwalt? Ein Richter? Rechtverdreher und Notare spielen ja immer eine sehr gewichtige Rolle, sowohl in “Flegeljahre” als auch in “Siebenkäs”. Folgende schöne Stelle fand ich in diesem Abschnitt:

    Zitat

    …- ferner einem rechten Juristen komme der Teufel selber nicht bei, und er wolle ebensogut ein Ferkel am eingeseiften Schwanz festhalten als einen Advokaten am jus -…

    Ein Satz, der mir sehr gefiel…


    Nro 6: Kupfernickel


    Ich werde das Gefühl nicht los, dass Jean Paul die Schriften Immanuel Kants bekannt waren, er zitierte wiederholt aus ihnen, oder erwähnte zumindest Kants namen hier und da…


    Nro 9: Schwefelblumen


    Ich frage mich immer noch ab, was eigentlich Steckverse genau sind. Wer von den literarisch Beschlagenen kann mich aufklären. Die moisten Steckverse Jean Pauls im den Flegeljahren stehen mir unter einem ziemlich romantischen Stern. Dieser Abschnitt ist ja eine Aneinanderreihung von Steckversen. Überhaupt – ich will nicht sagen beliebig – werden verschiedenste Stilmittel durcheinander verknüpft, Steckverse, Reisebeschreibung, Monologe, Dialoge, etwas Theater, Biographie, Roman und sogar philosophische Essays. Wo da jeweils die Grenze ist, wird mir nich recht deutlich, vielleicht ist der fließende übergang all dessen der Meisterschaft Jean Pauls zu verdanken. Es stört mich nicht. Im Gegenteil, es bringt Auflockerung.


    Vielleicht bin ich jetzt in die Nähe eures Lesestandes gelangt. Ihr habt ja ein atemnehmendes Tempo drauf. Aber als Gastposter füge ich mich ohne Murren. Es muss ja auch nicht alles kommentiert werden…


    Grüße, FA


    [Was mir seit einigen Tagen auffällt: geht die Klassikerforumsuhr nicht nach, oder schreibt sie noch Winterzeit? Eigentlich wäre es doch jetzt 20 nach 12...]

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo sandhofer,


    also ist "Die Vorschule der Ästhetik" immer noch ein sehr lesenswertes Buch und damit unbedingt zu empfehlen?


    Vielen Dank,


    FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo zusammen!
    Hallo Friedrich-Arthur!


    Danke für Deinen ausführlichen Beitrag. Ich werde versuchen zu Stück 6 bis 12 auch noch Genaueres zu liefern ... Im Moment dieses:


    Zitat von "Friedrich-Arthur"

    Seine Phantasie ist der E.T.A. Hoffmanns ebenbürtig.


    Schon wieder so ein Vergleich ... Ich würde gar behaupten (ausser, wo's um Musik geht): überlegen.


    Zitat von "Friedrich-Arthur"

    Ich werde das Gefühl nicht los, dass Jean Paul die Schriften Immanuel Kants bekannt waren, er zitierte wiederholt aus ihnen, oder erwähnte zumindest Kants namen hier und da…


    Mit Sicherheit kannte er Kant. Wer im damaligen intellektuellen Deutschland nicht? (Sogar Goethe!) Im übrigen ist einer der philosophischen Haupt"gegner" Jean Pauls der ursprünglich als Kant-Schüler und -Double gestartete Fichte.


    Zitat von "Friedrich-Arthur"

    Ich frage mich immer noch ab, was eigentlich Steckverse genau sind.


    Streckverse - ein Art freier Rhythmen. Salopp gesagt: ein bisschen formlose und überdimensionale Haikus ...


    Zitat von "Friedrich-Arthur"

    [Was mir seit einigen Tagen auffällt: geht die Klassikerforumsuhr nicht nach, oder schreibt sie noch Winterzeit? Eigentlich wäre es doch jetzt 20 nach 12...]


    Es ist tatsächlich noch Winterzeit ...


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus