Beiträge von scheichsbeutel^


    Ich kenne einige Leute, die sich Hobbymathematiker nennen, und seit Jahren versuchen die Quadratur des Kreises zu beweisen, nein kein Scherz, und die mir nicht glauben, wenn ich ihnen erkläre, das man schon seit mehr als hundert Jahren weiß, das das nicht geht.


    Solche "Hobbymathematiker" kenn ich auch. Allerdings neige ich dazu, sie - wenn ich dem Gespräch gar nicht ausweichen kann - in ihren Ansichten zu bestärken, da es erfahrungsgemäß völlig sinnlos ist, sie von der Widersinnigkeit ihres Tuns zu überzeugen. Häufig handelt es sich um frühpensionierte Grundschullehrer und Oberstudienräte, deren Leserbriefe auch von der Lokalzeitung nicht mehr angenommen werden. Im übrigen habe ich mir sagen lassen, dass diese Art der Problemlöser einen nicht unerheblichen Anteil am Postaufkommen mathematischer Fakultäten bestreiten, indem sie derartige Lösungen (eben jene der Quadratur der Kreises - der Fermatsche Satz ist nun ja außen vor - oder der Poincareschen Vermutung* (die blöderweise nun auch schon erledigt ist)) vorlegen.


    Gibt's natürlich auch in der Literatur: Im Zauberberg müht sich einer der Patienten in seinen letzten Lebensjahren mit der Quadratur des Kreises. Ähnlich Fischerle in der Blendung mit seinem Traum vom Schachweltmeistertitel.


    Grüße


    s.


    *) Diese Vermutung eignete sich natürlich weniger für Hobbymathematiker, schon der Begriff "dreidimensionale kompakte Mannigfaltigkeit" hält ab. Hingegen ist die Formulierung von Fermats Satz äußerlich derart simpel, dass sie zu einer Auseinandersetzung direkt einlädt.

    In meiner Erinnerung haften geblieben ist unter anderem eine Stelle, in der er behauptet, das Problem des Fermat zu lösen. Wenn Schmidt geahnt hätte, wie die Lösung tatsächlich einmal aussehen würde und wie weit er mit seiner bodennahen Algebra davon entfernt war, wäre er vermutlich etwas vorsichtiger gewesen. :breitgrins: Das wundervolle Buch von Simon Singh "Fermats letzter Satz" kann ich da übrigens nur empfehlen.


    Schmidt wird für mich abseits seines eigenen Schreibens zusehends suspekter. Denn man kann seine Unkenntnis der Mathematik kaum besser kundtun als durch eine solche Ankündigung. Wer jemals als (interessierter) Mathematiklaie mit einigermaßen begabten Mathematikern Umgang hatte und danach noch glaubt, diese bei so lange bekannten Problemstellungen überflügeln zu können, liefert im Grunde nur den Beweis, dass er nicht die geringste Ahnung von der Materie hat. Eine solche Chuzpe hat schon etwas eminent Ignorantes (und man könnte hier auch etwas despektierlichere Ausdrücke einfügen). (Sofern er das mit der Lösung auch nur einigermaßen ernst meinte ...)


    Grüße


    s.


    Doderers Die Dämonen haben das Zeug zum meinem Highlight des Jahres ...


    Und dabei musste man dir jahrelang zusetzen und dir zureden wie einer kranken Kuh, damit du endlich mal den Doderer in die Hand nimmst ;). Die Strudlhofstiege ist nach meinem Dafürhalten noch besser, weil genauer konzipiert. Und obschon sich BigBen mit den Merowingern leichter getan zu haben scheint halte ich diese für sperriger (wenngleich man die auch unbedingt gelesen haben sollte, Fußausstellwinkel nebst Hulesch & Quenzel werden zu unerlässlichen Bestandteilen des literarischen und realen Lebens).


    Grüße


    s.

    Doch bei meinem Hartz IV Empfänger Kind sehr wohl, da sein Vater statt der 300 € Hartz IV auch die 3000 € versaufen würde, oder Flachbildschirme, sich wieder ein Auto oder sonst was kauft. Beim Kind kommt das nicht an, ob die Merkel dem Kind 5 € gönnt oder du gar der Familie 3000 € :zwinker: Das macht bei mir keinen Sinn.


    Und natürlich würde die Bücherei nicht überlaufen werden, wenn sie für Kinder kostenlos wäre. Aber es reicht, wenn eine handvoll Kinder aus unteren Schichten dieses Angebot nutzen würden. Darum geht es mir.


    Jetzt erst meine ich deine Schilderung verstanden zu haben. Ich ging davon aus, dass es für die Eltern unerschwinglich wäre. Verstehe ich dich richtig: Das Kind will in eine Leihbücherei, erhält aber von zu Hause kein Geld, würde das Angebot aber nutzen, wenn es gratis wäre. Das ist dann wirklich tragisch (aber wohl auch ein seltener Fall). Ich glaube, dass ich dem Kleinen diese Gebühr "leihen" würd.


    Scheint aber - zumindest was meine Erfahrung betrifft - ein Ausnahmefall zu sein: In der hiesigen Bibliothek (nun "Infothek") hat man 10 Computer angeschafft. Sind zumeist von Jugendlichen besetzt, deren Tätigkeit sich ausschließlich aufs Chatten beschränkt (empirischer Wert, ich kann nicht ausschließen, dass die Computer in meiner Abwesenheit nicht auch mal zur Informationsbeschaffung genutzt wurden, gesehen habe ich das noch nie). Keinen einzigen dieser Jugendlichen habe ich je in der Freihandbibliothek gesehen (weit über 60 000 Bücher, dazu alle Tageszeitungen, viele Zeitschriften, Hörbücher, CDs, DVDs - alles gratis).


    Grüße


    s.


    In meiner Umgebung ist das nicht mehr gratis, da die Komunen einfach sparen (am falschem Ende m. M. n.) und nun auch von Kindern und Jugendlichen 10 € Jahresbeitrag berappen, und so viel ich weiß gilt dort keine Sonderregelung für Hartz IV Kinder. Das ist ein geringes Entgelt, sicherlich, aber für manche doch unerschwinglich. Und da ich nicht möchte, dass eine künftige Leseratte dieses Geld klaut, könnte man doch ...


    Natürlich sollte es gratis sein. Aber an den 10 Euro liegt's sicher nicht. Das sind Beträge, die dann für etwas bereit stehen, wenn dieses etwas als erstrebenswert angesehen wird. (Es dürfte ja offenkundig sein, dass, selbst wenn man diese 10 Euro für die Bibliotheksbenützung abschaffen würde, es deshalb in der betreffenden Stadt nicht einen jugendlichen Hartz IV-Benutzer mehr gäbe. Oder verfolge das Gedankenbeispiel von zuvor weiter: Wer von den plötzlich mit den 3000 Euro Bedachten wird dann erstmal erleichtert feststellen, dass er nun endlich die bisher unerschwinglichen 10 Euro für die Bücherleihe zahlen könne ;).) Die Frage stellt sich anders: Wie schafft es die Gesellschaft, Bildung (Bücher, Lesen) nicht als langweilig, antiquiert, verstaubt darzustellen, sondern als spannend, interessant, wichtig, "cool", als ein Akzidens, das in einer Peer-Group vorzeigbar ist, den Status erhöht? Das lässt sich nicht auf Knopfdruck ändern, kann wahrscheinlich nur vorgelebt werden (von Eltern, Lehrern, Politikern ...).


    Wichtig aber ist nicht nur diese Statuserhöhung durch Wissen (sonst endet man wie Guttenberg & Co, die ihre Doktortitel einzig des Renomees wegen haben wollten), noch wichtiger scheint, dass man den Spaß an Bildung vermittelt. Ich lese ja auch nicht, um zu imponieren oder Geld zu verdienen (das mag ein angenehmer Nebeneffekt sein), sondern weil's mir Freude macht. (Sodass ich, wenn ich spät nachts das Licht lösche und das Buch weglege, mich auf den nächsten Morgen freue, der mir ein Weiterlesen verspricht.) Ob Geistes- oder Naturwissenschaftliches: Das Schöne, Spannende, Interessante daran muss vermittelt werden - und das kann man auch. Ist allerdings anstrengend und stößt auf Schwierigkeiten: Meiner Erfahrung nach sind diese vor allem bürokratischer (in allen Bildungsinstitutionen wird hauptsächlich auf "Pläne" geachtet, diese dienen als Feigenblatt für Unsinnigkeiten und eingebildete Notwendigkeiten) bzw. gesellschaftlich-psychologischer Natur (ob klein, ob groß, die Frage nach dem "und wozu kann ich das brauchen", wobei "brauchen" für ökonomischen Nutzen steht, kommt allerorten, nicht nur der Schüler, auch der Student beschwert sich "Sprachphilosophie, ach, brauch ich nicht, ich geh ja ohnehin nur unterrichten").


    Frau Merkel ist im übrigen ein gutes Beispiel für die Nutzlosigkeit naturwissenschaftlicher Kompetenz, da ihre Entscheidungen von diesem ihrem Wissen offenbar nicht im mindesten berührt werden. Sie unterscheidet sich damit nicht vom civis communis, der seine Entscheidungen ähnlich pragmatisch-egoistisch trifft: Auch wenn der Einzelne vielleicht von der Unsinnigkeit einer Maßnahme überzeugt ist, so wird er sie dann begrüßen, wenn sie ihm einen (finanziellen) Vorteil verspricht.


    Im Grunde enden solche Diskussionen immer in der Sehnsucht nach einem "neuen Menschen", einem Menschen, der nicht nur gebildet, informiert ist (die Voraussetzung), sondern der dieses sein Wissen verantwortlich einsetzt und seine Handlungen entsprechend setzt. Die Erfahrung aber zeigt, dass Wissensvorsprung, Kompetenz etc. sowohl für egoistische Interessen eingesetzt werden kann (weshalb der intelligente Verbrecher der gefährlichere ist) als auch für vernünftige, vielleicht uneigennützige Ziele, die das Wohl der Menschheit befördern. Diesen Menschentypus also gälte es zu "bilden", jenen, der mit dem erworbenen Wissen verantwortungsvoll umgeht. Utopia Ende.


    Grüße


    s.


    Auch wenn das bezüglich naturwissenschaftlicher Bildung plausibel klingt, so ist das doch nur eine Grundlage. Das Entscheidende, nämlich in welcher Form ich von diesem Wissen Gebrauch mache, kann schwer oder kaum "gelehrt", "gelernt" werden. Ed Teller war sicher ein guter Physiker, aber entsprach wahrscheinlich nicht dem verantwortungsvollen Naturwissenschaftler, der dir vorschwebt. Im übrigen ist - glücklicherweise - die Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften so groß längst nicht mehr. Und ich glaube, dass jener verantwortungsvolle, kompetente Staatsbürger, den du dir vorstellst (und der das entsprechende naturwissenschaftliche Wissen besitzt), ganz automatisch sich auch für Philosophie, Literatur, Musik & Co interessieren wird. Weshalb diese Unterteilung in wichtig-unwichtig bedeutungslos werden dürfte.


    Im übrigen hat die Diskussion über Chancen bei uns in Mitteleuropa etwas Dekadent-Perverses. Eine Bekannte kam kürzlich aus Nigeria zurück, war für Ärzte ohne Grenzen ein halbes Jahr auf einer gynäkologischen Station. Wenn man sich die geschilderten Lebensumstände vergegenwärtigt, hat unsere Unterhaltung über Bildungschancen etwas Luxuriöses. Natürlich: Mit verhungernde afrikanischen Kindern kann man alles totschlagen und jedes Problem relativieren. Manchmal aber hilft das "ins Bewusstsein rufen" unserer exquisiten Problemchen doch ein wenig, selbige als weniger schlimm anzusehen.


    (Ich meine es im übrigen in einem anderen Thread, den zu suchen ich jetzt zu faul bin, schon einmal erwähnt zu haben: Es sind sicher nicht ökonomische Gründe, die die Auseinandersetzung des Jugendlichen mit Goethe, Kant, Darwin & Co verhindern, das hat soziale, soziologische Gründe. Wenigstens war der Erwerb von Büchern noch nie so billig wie jetzt (fünf Bände Goethe für einen Euro bei eBay sind keine Seltenheit), in Ö sind die meisten Bibliotheken gratis oder verlangen ein sehr geringes Entgelt. Das nun "Unterschichten" (was immer das genau ist) diese Form der Bildung als wenig attraktiv empfinden, hat zahlreiche Ursachen, wenn aber ökonomische Gründe genannt werden, sind diese meist vorgeschoben. Gedankenbeispiel: Alle Hartz IV-Empfänger erhalten ein Jahr lang 3000 Euro monatlich. Man versuche sich vorzustellen, wie dieses Geld verwendet würde. Und man sieht, dass die Ursachen anderswo liegen, komplex sind, mit allgemeinen gesellschaftlichen Werten zu tun haben etc. Aber politisch lassen sich so einfache pekuniäre Lösungen (ob von FDP oder Linken) sehr viel besser verkaufen, mit soziologischen Studien, Maßnahmen, die das Vielfache einer Legislaturperiode benötigen, um ihre Sinnhaftigkeit zu beweisen, sind keine Wahlen zu gewinnen.)


    Grüße


    s.


    Du solltest ihr aufhelfen, indem du den Artikel liest. Es lohnt sich!


    Wie (fast) alles von diesem wunderbaren, in Deutschland viel zu wenig bekannten Schriftsteller!


    Ja! Ich bin nun durchaus kein "Nachsommer-Fan" (und werde - eingedenk Losts Zurückhaltung und anderer eigener Erfahrungen - dies nicht genauer spezifizieren), aber Sebalds Essay ist sehr lesbar (egal ob man seinen Schlussfolgerungen zustimmt oder nicht). Wenn man ihn "nur" referiert mag manches abgehoben klingen, tatsächlich aber hat sich da jemand wirklich klug und gar nicht verstiegen geäußert. (Der schönste Essay aus dieser Sammlung ist m. E. jener über Peter Altenberg, ein ganz außergewöhnliches Stück Literatur.)


    Grüße


    s.


    Bei solchen Zitaten muss man natürlich auch erwähnen, dass Ecce homo von 1888 stammt und dass Nietzsche im Januar 1889 einen geistigen Zusammenbruch durch progressive Paralyse erlitt, wie man vermutet war Syphilis die eigentliche Ursache und bis sich Syphilis so weit entwickelt hat, dass ein geistiger Zusammenbruch eintritt, vergehen Jahre die dann meist zunächst durch Schwachsinn später aber auch durch Wahnsinn geprägt sind.


    Angesichts der Tatsache, dass noch heute Millionen Menschen daran glauben, vor 2000 Jahren habe der Heilige Geist ein semitisches Hirtenmädchen besprungen, worauf diese dann bei unversehrtem Hymen einen Gott gebar, hielt sich Nietzsche trotz progressiver Paralyse doch erstaunlich gut und präsentiert sich - Syphilis hin oder her - auch in dem erwähnten Satz geistig gesünder denn die erwähnten Anhänger der Parthenogenese.


    Grüße


    s.


    Jedenfalls finde ich das Schädigen öffentlichen Rufes von Schriftstellerkolleg(Inn)en eine eitle und neidische Angelegenheit, besonders, wenn es tote Schriftstellerkolleg(Inn)en betrifft, die sich nicht mehr verteidigen können. Bücher solcher Rufmörder werde ich nicht lesen, ich will doch keine Beihilfe leisten. Ist es nur eine Unsitte dieser Tage, oder ist es eine alte Unsitte, die jetzt besonders um sich greift? Auch die Literatur hat also ihre Neiddebatten und ihre Profilierungssüchtigen. Alles menschlich, allzumenschlich, aber ohne mich. FA


    Das ist doch kindisch, würde es doch bedeuten, dass mit Einsetzen der Verwesung ein literarisches "santo subito" ausgesprochen würde und man den inkriminierten Schriftsteller - und habe er noch so Gräuliches verbrochen - nicht mehr kritisieren dürfte. Nur weil jemand das Zeitliche gesegnet hat, ändert sich doch nicht die Qualität des Geschriebenen. Tot zu sein ist mithin keine Eigenschaft, die von Kritik befreit. :rollen:


    Grüße


    s.


    Wo liegen denn die Unterschiede? Die der Leseweise? In der Quantität wohl hoffentlich nicht. NOCH weniger als ich kann man nicht lesen. ;-) Ich lese fast nie parallel, sondern nur sequentiell.


    Und die des Geschmacks? Du nur Klassiker?


    Hallo Markus,


    Unterschiede - etwa im Leseverhalten. Nicht so sehr "sequentielles" oder "paralleles" Lesen (typischerweise gehörst du zu ersten Gruppe und ich zur zweiten), sondern im Leseplan, im "Abarbeiten" deiner Lesevorhaben, Dinge, die ich mir so nie vorstellen könnte. Etwa eine bestimmte Anzahl Bücher pro Zeiteinheit zu lesen oder sich derlei auch nur vorzunehmen.


    In der Rezeption: Bei dir erfahre ich meist nicht, wie du die einzelnen Bücher beurteilst oder ob sie dir überhaupt gefallen haben. Du zitierst aus Büchern, meine (nur sehr eingeschränkt öffentlichen) Notizen sind solche _über_ Bücher, mir ist das einzelne Zitat Anlass für Kommentare.


    In der Auswahl: Mehr als die Hälfte des Gelesenen sind bei mir Sach- und Fachbücher, Sekundärliteratur. In der Belletristik unterscheidet sich unser Leseverhalten nicht allzu sehr, ich lese zwar relativ viel Klassiker (von denen allerdings nicht wenige m. E. ein heute bloß noch literarhistorisches Interesse beanspruchen können, aus welchem anderen Grund man etwa Heyse oder Zola heute noch lesen sollte entzieht sich meiner Kenntnis), aber auch "moderne" Autoren (zumeist cum tempore: 10 Jahre ++ nach ihrem ersten Erscheinen).


    Skeptisch stimmt mich auch dein bekennendes Hessetum: Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was man in der nach-adoleszenten Lebensphase an ihm noch finden kann. Ich will das hier nicht wieder alles erörtern (und habe das in einem anderen Thread teilweise auch schon getan, wo ich mich über die Tatsache verbreitet habe, dass sowohl Pippi Langstrumpf als auch Harry Haller irgendwann als Ideal einer natürlichen Entwicklung zum Opfer fallen), ich halte Hesse für einen wunderbaren Einstieg in die Literatur (bei Jugendlichen), weil er neben den anarchistischen Versatzstücken (Drogen- und Gewaltexzesse etwa im Steppenwolf) auch die Liebe zu Büchern, Wissen, Literatur zu vermitteln versteht (etwa in Narziss und Goldmund), Hesse entspricht auch der Zerrissenheit dem Heranwachsenden zwischen Leben-Wollen und melancholisch-morbider Entsagungsattitüde. Dass man derlei aber mit 40 auch noch schätzt, kann ich nur schwer verstehen. (Wenn ich mich mal als Psychologe betätigen darf: Ich vermute bei dir eine Art von Dankbarkeit für Hesse, Dankbarkeit für das Erwecken der Liebe zu Büchern, für das Eröffnen dieser ganzen Welt der Literatur. Und aufgrund dieser Tatsache ist er auch in seinen Büchern sakrosankt, denn ich kann mir schlicht nicht vorstellen, dass etwa der "Steppenwolf-Traktat" mit seinen Einsamkeits- und Unverstandenheitsergüssen dir immer noch als "große" Literatur erscheint. Vielleicht liegt aber das auch an meinem mangelnden Vorstellungsvermögen ;)).


    Grüße


    s.


    Diese Resonanz tut sehr gut.


    Ich kann für mich nur feststellen, dass ich, trotz unserer offenkundig völlig verschiedenen Leseweise und eines teilweise ebenso unterschiedlichen Geschmacks, sicher schon rund 10 Bücher einzig deshalb gelesen habe, weil du sie erwähnt bzw. auf deiner Seite daraus zitiert hast. Wenn also der Sinn deiner Postings u. a. darin besteht, andere zur Lektüre bestimmter Bücher anzuregen, so hast du ihn in Bezug auf meine Person erfüllt.


    Grüße


    s.


    Von der Biografie die R. Friedenthal geschrieben hat, kenne ich nur die ersten Kapitel, aber wenn sie insgesamt so wie seine Luther und Hus Biografien ist, dann ist sie auch ein Schmuckstück.


    Da kann ich nur zustimmen. Friedenthal erfüllt genau die von Librerio gewünschten Anforderungen.


    Grüße


    s.


    Diese ökologischen Endzeitszenarien füllen mittlerweile sicher einige Regalmeter, was die Ransmayersche Kunst nicht abwerten soll, denn: Trotz aller Kritik habe ich große Teile der "Letzten Welt" durchaus gern gelesen.


    Manchmal muss es eben "Kitsch" sein ... :zwinker:


    Hmm - als "ökologisches Endzeitszenario" hab ich das gar nicht empfunden. Ich zweifle auch, ob es so gemeint war, allerdings müssten wir, um dies zu verifizieren, Ransmayr eine Anfrage schicken.


    Diesen Ethnokitsch für den aufgeschlossenen Sozialarbeiter habe ich etwa bei Aitmatov gefunden (z. B. in dieser unsäglichen Lagerfeuerliebesgeschichte Dshamilja, die als ach so romantische figuriert, sprachloses Gitarrengeklimper mit verträumt tiefsinnigem Blick wie bei einem Jungscharzeltlager; der "Schneeleopard", mir nur in Teilen bekannt, soll noch schlimmer sein). Aber du hast schon Recht: Manchmal muss es Kitsch sein - und wenn er in Ransmayrscher Verkleidung daherkommt, so ist das so schlimm nun gar nicht ;).


    Grüße


    s.


    Kein Smilie? :breitgrins:


    Mein Fehler :smile: - ich meinte die Tageszeitung "Österreich", die das Unglaubliche geschafft hat, das Niveau der Kronenzeitung oder der BILD noch zu unterbieten. - Österreich (das Land) als Gesamt"Kitsch"-Werk? In weiten Teilen (Lederhosenarchitektur und Lippizanergehopse mit Sisy-Rufen untermalt; zwischen schneebedeckten Berggipfeln lässt man noch Thomas Bernhard mit Gamsbarthut erscheinen) möglich - und wohl ganz ohne Smilie.


    Grüße


    s.

    Zu Ransmayr und Kitsch:


    Bei der Kritik an Ransmayr monierst du (wie schon in einem früheren Posting) die Tatsache, dass er die Ovidschen Figuren verwendet (die er teilweise modifiziert, aber in ihren Grundhaltungen kaum ändert). Das, wie schon erwähnt, lässt sich bei der Aufarbeitung eines alten Stoffes nun mal nicht ändern, konstituiert im Gegenteil sogar eine solche Aufarbeitung. Und dass diese Figuren jene Eigenschaften beibehalten, für die sie teilweise namensgebend wurden, ist nun auch nicht wirklich überraschend. Famas Gemüseladen als Tratschzentrale ist einer ähnlichen Überlegung geschuldet, die es den meisten Don Juan Nachdichtern gefallen ließ, denselben nicht als Zölibatär auftreten zu lassen. Tereisias bleibt meist Seher, Ödipus hat einen Hang zu älteren Damenm häufig verwandt. Ad infinitum.


    Nicht die Tatsache an sich, sondern das Wie der Darstellung kann einzig kritisiert werden. Im Gegensatz zu dir empfand ich es als keineswegs platt, sondern sorgfältig durchkomponiert. Mir gefiel dieses Spiel mit den "ewigen" Geschichten, die sich da immer mit nur geringfügigen Veränderungen wiederholen, eine implizite Anerkennung der zeitlosen Schönheit der Metamorphosen, die alles Menschliche abzudecken vermögen. Und mir gefällt auch Ransmayrs Sprache, die sehr genau zu sein pflegt, keineswegs eine Art Kunstprosa (auch im Sinne des Malte) darstellt (dem man im übrigen den Kitschvorwurf sehr viel leichter zu machten vermöchte - denn teilweise erinnert er doch auch an den "Cornet" - und dieser ist nun wirklich süßlich).


    Ransmayr behandelt m. E. auch kein Modethema, er bedient sich zumeist ähnlicher Szenarien: Das Ausgeliefertsein des Menschen gegenüber einer fühllosen Natur, spezifisch Menschliches angesichts einer Umwelt, einer Ewigkeit, vor der alle diese Eitelkeiten sich ein wenig lächerlich ausnehmen. Gerade auch die Landschaftsdarstellungen, Stimmungen dieser Gegend sind - m. E. - hervorragend beschrieben, Beschreibungen, die mich wohl auch deshalb beeindruckten, weil ich längere Zeit auf einer Ägäisinsel zugebracht habe und die Unwirtlichkeit dieser Gegend jenseits aller Touristenzentren in der kalten Jahreszeit erfahren habe. Die Gegenüberstellung Mensch - Natur ist charakteristisch für Ransmayrs Bücher (Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Morbus Kitahara, Der fliegende Berg).


    Der Musilsche Text über den Kitsch hat nur wenige Seiten (allzu lang sollten als die in Frage kommenden Winterabende nicht sein). Ich habe ihn v. a. deshalb zitiert, weil er auf treffende Weise die Schwierigkeit der Definition von "Kitsch" mit seiner mathematisch anmutenden Umschreibung zeigt. Vor allem scheint Kitsch (und darauf will Musil u. a. hinaus) keine Sache an sich zu sein, sondern muss im entsprechenden Zusammenhang gesehen werden. Das man den von dir zitierten Satz als Kitsch bezeichnen könnte, liegt auf der Hand: Solche Beispiele ließen sich aber immer finden - so könnte allein der Titel des zweiten Buches der Recherche (Im Schatten junger Mädchenblüte) auch für ein Werk Hedwig Courths-Mahlers dienen. Und mit kitschverdächtigen Rilkezitaten kann man Hundertschaften erschlagen.


    Aber nicht nur der textuelle Kontext ist gemeint. Musils Beispiel der singenden Donkosaken, die er als reines Gemälde, dann lebendes Bild sieht und schließlich in den Schützengraben des Ersten Weltkrieges versetzt ist ein gut gewähltes Beispiel. Ich habe auf Verliebtheiten hingewiesen. Die Tatsache des Erlebens macht aus dem Kitsch Wirklichkeit - und indem er Wirklichkeit wird, bleibt seine Kitschigkeit auf der Strecke. So blättert das Leben den Kitsch vom Leben - und ob aus ihm Kunst wird, ist wieder eine ganz andere Frage. Wenn er aber Kunst wird, muss er eine Art Mehrwert für sich beanspruchen können, ein etwas, das über das bloße Faktum hinausweist, sonst wird die Geschichte von Frau Pilcher geschrieben und dem ZDF verfilmt. <b>Alles</b> nun eignet sich für eine solche Kunst, wenn es denn einen Künstler gibt - nochmal das Recherche-Beispiel: Warum kann Proust den Leser mit seinen pubertären Eifersüchteleien faszinieren, mit diesen eigentlich mehr als langweiligen Beziehungen zwischen Swann und Odette, dem Erzähler und Gilberte (was für eine im Grunde trivial-dümmliche Jugendliebe) bzw. Albertine? Weil er eben die Sprache, die geeigneten Bilder findet, Nuancen zutage fördert und so die eigentlich profane Qual des verliebten Pubertierenden auf eine höhere Ebene stellt.


    Und natürlich gibt es individuelle Unterschiede des Kitschempfindens (in der Kunst als auch im Leben). Was vor allem in der Kunst ein Mensch als Kitsch empfindet, ist sehr stark davon abhängig, inwieweit dem Kunst- bzw. Kitschkonsumenten "nichts Menschliches" fremd ist, inwieweit er sich auf sich selbst einzulassen vermag (wobei manchmal halt auch wenig da ist, worauf der/die Betreffende sich einlassen kann), inwieweit er seine Beweg- und Abgründe analysiert, dies will und kann (wobei ein temporär - etwa durch Alkohol - beeinträchtigter Geisteszustand durchaus aus einem an und für sich nicht zu Trivialitäten neigenden Menschen einen dumm-kitschigen Zeitgenossen zu machen vermag, der dann auf genau so einfach-reduzierte Weise funktioniert wie es für viele Leute der Normalzustand ist). Broch (glaub ich) hat Hitler als kitschig bezeichnet (und also den Kitschbegriff auf andere Vereinfachungen angewandt), womit etwa Tageszeiungen wie BILD, Kronenzeitung oder Österreich als Inbegriff des Kitsches zu verstehen werden.


    Grüße


    s.


    @scheichsbeutel:




    Danke! Ich bin so erleichtert! Schon die bei dir sonst unübliche inflationäre Verwendung von Smilies zeigt mir, dass ich beruhigt sein kann, oder?


    Kannst du ;). Die durchaus bewusste Inflation der Grinsegesichter sollte das tatsächlich klar machen. Ich neige überhaupt relativ wenig zum Übelnehmen, manchmal aber zur Ignoranz, wenn ein Urteil über ein Buch mir seitens des Betreffenden einen Zugang zur Literatur offenbart, der wenig oder gar nichts mit meiner Rezeption zu tun hat. Denn das führt zu fruchtlosen Grundsatzdiskussionen. Ansonsten sind solche unterschiedlichen Urteile eher befruchtend, zeigen Sichtweisen, die - aus welchen Gründen auch immer - andere Lesarten nahelegen (wenn man diesen auch nicht unbedingt zustimmen muss - aber selbst der Widerspruch zwingt den Schreiber, sich mit eigenen Meinungen noch einmal auseinanderzusetzen, was denn wohl zum Sinn und Zweck von Foren gehört).


    In der Tat nicht, tut das jemand? Ich wollte damit sagen: die Metamorphosen beflügeln die Phantasie, das muss aber ja nicht gleich in ein Buch ausarten. Ich schreib ja auch nicht über den Piccolo-Abruzzo- Betreiber. Es war zudem ein nicht ganz ernst gemeinter Einwurf!


    Ansonsten: Wie gesagt, mich stört vor allem die Verwurstung des armen Ovid und die Beliebigkeit und Bescheidenheit des Endprodukts.


    Das mit dem "überall anzutreffenden Reinkarnationen" Ovidscher Provenienz klang schon nach einem solchen Vorwurf. Was die Bescheidenheit betrifft sind wir verschiedener Meinung, ich fand - wie erwähnt - diese Art der Neufassung sehr gelungen, sowohl sprachlich als auch inhaltlich. Bescheiden würde ich in einem positiven Sinn verwenden: Ransmayr erzählt sehr zurückhaltend, spielt mit den doppelten Figuren, nirgends aufdringliche Sinngebung, bemühtes Anbiedern an den philologisch Gebildeten (der man, um die Geschichte schätzen zu können, auch nicht zu sein braucht). Die doppelten (dreifachen? - denn einiges sieht erst in der Zukunft seiner Erfüllung entgegen) Zeitebenen sind sehr gelungen, spielen mit dem Ewigkeitstopos der Literatur, sind wohl auch als Hommage an die Metamorphosen zu verstehen.


    Vielleicht ist deine ablehnende Haltung auch darin begründet, dass du es nach der eben erfolgten Lektüre als eine Art Sakrileg empfindest, dass sich da einer an die "Verwurstung" des Themas gemacht hat (allerdings gibt es - vielleicht von der Bibel abgesehen - kein Werk, das öfter eine solche Verarbeitung erfuhr - ob in Literatur, Malerei oder Musik).


    Grüße


    s.


    Nachtrag 1: Ob mit "Trivia" nicht einfach eine bekannte Segeljachtform gemeint war? http://www.trivia.de/


    Nachtrag 2: Kitsch kann man Ransmayr m. E. nicht vorwerfen. Ein schöner Ausgangspunkt für eine solche Diskussion bietet Musil in den Unfreundlichen Betrachtungen, allerdings ist mir's jetzt zuviel, das alles abzutippen (und gemeinfrei wird der Kerl erst in zwei Jahren). Endet aber in folgenden Syllogismen:


    "Die Kunst blättert den Kitsch vom Leben.
    Der Kitsch blättert das Leben von den Begriffen.
    Und: Je abstrakter die Kunst wird, desto mehr wird sie Kunst.
    Je abstrakter der Kitsch wird, desto mehr wird er Kitsch.


    Zwei herrliche Syllogismen. Wer sie auflösen könnte!


    Nach dem zweiten scheint es, dass Kitsch = Kunst ist. Nach dem ersten aber ist Kitsch = Begriff - Leben. Kunst = Leben - Kitsch = Leben - Begriff + Leben = zwei Leben - Begriff. Nun ist aber, nach II, Leben = 3 x Kitsch und daher Kunst = 6 x Kitsch - Begriff.


    Also was ist Kunst?"


    Tatsächlich aber gehen seine Ausführungen weiter, er geht von einer Aufführung von Donkosaken aus und stellt diese in die Wirklichkeit eines Schützengrabens. Dann beginnt sich die Kitschdimension zu verändern und zu verlaufen, ähnlich vielleicht, wie es die meisten schon erlebt haben bei und mit Liebesgeschichten, die einzig dadurch, dass sie erlebt worden sind, plötzlich nicht mehr nur kitschig sind. "Das Leben ist gut, soweit es der Kunst standhält: was nicht kunstfähig am Leben ist, ist Kitsch!


    Aber was ist Kitsch?"


    Nochmals Grüße


    s.

    Hallo!


    Ich nehme nicht übel :smile:. Wobei: Einzelne Sätze als Beleg für - z. B. - Kitsch zu zitieren ist immer ein wenig gefährlich (natürlich: Meine Wenigkeit kann sich manchmal solcher Gemeinheiten auch nicht enthalten ;)). Um deine Kritik zu entkräften müsste ich wohl ein Wiederlesen der "Letzten Welt", vielleicht keine so schlechte Idee. Ich habe den Ransmayr als ein sprachlich sehr gelungenes, homogenes Ganzes in Erinnerung, die "Detektivgeschichte" als unwichtig, viele Passagen natürlich aus dem Original übernommen, aber in gelungener Weise modernisiert. Wenn man mir Postmoderne endlich schlüssig definieren könnte, würde ich möglicherweise auch mit dem Lang-Zitat mehr anzufangen wissen. (Bei solchen Sätzen polemischen Zuschnitts habe ich - auch aus eigener Erfahrung ;) - manchmal den Eindruck, dass sie um ihrer selbst und nicht des besprochenen Werkes willen geschrieben werden.)



    Ich kann verstehen, dass jemand, der die Metamorphosen gelesen hat - und Ransmayr hat sie intensiv gelesen, ursprünglich wollte er sie nur übersetzen, hätte er es doch getan! - überall ovidische Reinkarnationen zu sehen meint.



    Das jemand, der die Metamorphosen nacherzählt, die Metamorphosen nacherzählt, kann ihm allerdings nicht vorgeworfen werden ;).


    Grüße


    s.


    @scheichsbeutel
    dann werde ich die Fakten die Tadié mir lieferte (was mir persönlich schon hilfreich war) mit deiner Empfehlung ergänzen und zwar mit dem Buch "Céleste Albaret: Monsieur Proust". Du nanntest dieses Buch ein Kleinod.


    Ja, ich habe dieses Buch wirklich mit großem Vergnügen gelesen und: Ich gedenke Tadié in ebensolcher Weise zu handhaben, als Ergänzung.


    Das mit einer - möglichen - Haymanschen Verwandtschaft interessiert mich auch, ich konnte bislang keinen Hinweis finden. Da Ronald Hayman aber zahlreiche Biographien veröffentlicht hat, darf man wohl vermuten, dass es sich um eine rein zufällige Namensgleichheit handelt.


    Grüße


    s.