Zu Ransmayr und Kitsch:
Bei der Kritik an Ransmayr monierst du (wie schon in einem früheren Posting) die Tatsache, dass er die Ovidschen Figuren verwendet (die er teilweise modifiziert, aber in ihren Grundhaltungen kaum ändert). Das, wie schon erwähnt, lässt sich bei der Aufarbeitung eines alten Stoffes nun mal nicht ändern, konstituiert im Gegenteil sogar eine solche Aufarbeitung. Und dass diese Figuren jene Eigenschaften beibehalten, für die sie teilweise namensgebend wurden, ist nun auch nicht wirklich überraschend. Famas Gemüseladen als Tratschzentrale ist einer ähnlichen Überlegung geschuldet, die es den meisten Don Juan Nachdichtern gefallen ließ, denselben nicht als Zölibatär auftreten zu lassen. Tereisias bleibt meist Seher, Ödipus hat einen Hang zu älteren Damenm häufig verwandt. Ad infinitum.
Nicht die Tatsache an sich, sondern das Wie der Darstellung kann einzig kritisiert werden. Im Gegensatz zu dir empfand ich es als keineswegs platt, sondern sorgfältig durchkomponiert. Mir gefiel dieses Spiel mit den "ewigen" Geschichten, die sich da immer mit nur geringfügigen Veränderungen wiederholen, eine implizite Anerkennung der zeitlosen Schönheit der Metamorphosen, die alles Menschliche abzudecken vermögen. Und mir gefällt auch Ransmayrs Sprache, die sehr genau zu sein pflegt, keineswegs eine Art Kunstprosa (auch im Sinne des Malte) darstellt (dem man im übrigen den Kitschvorwurf sehr viel leichter zu machten vermöchte - denn teilweise erinnert er doch auch an den "Cornet" - und dieser ist nun wirklich süßlich).
Ransmayr behandelt m. E. auch kein Modethema, er bedient sich zumeist ähnlicher Szenarien: Das Ausgeliefertsein des Menschen gegenüber einer fühllosen Natur, spezifisch Menschliches angesichts einer Umwelt, einer Ewigkeit, vor der alle diese Eitelkeiten sich ein wenig lächerlich ausnehmen. Gerade auch die Landschaftsdarstellungen, Stimmungen dieser Gegend sind - m. E. - hervorragend beschrieben, Beschreibungen, die mich wohl auch deshalb beeindruckten, weil ich längere Zeit auf einer Ägäisinsel zugebracht habe und die Unwirtlichkeit dieser Gegend jenseits aller Touristenzentren in der kalten Jahreszeit erfahren habe. Die Gegenüberstellung Mensch - Natur ist charakteristisch für Ransmayrs Bücher (Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Morbus Kitahara, Der fliegende Berg).
Der Musilsche Text über den Kitsch hat nur wenige Seiten (allzu lang sollten als die in Frage kommenden Winterabende nicht sein). Ich habe ihn v. a. deshalb zitiert, weil er auf treffende Weise die Schwierigkeit der Definition von "Kitsch" mit seiner mathematisch anmutenden Umschreibung zeigt. Vor allem scheint Kitsch (und darauf will Musil u. a. hinaus) keine Sache an sich zu sein, sondern muss im entsprechenden Zusammenhang gesehen werden. Das man den von dir zitierten Satz als Kitsch bezeichnen könnte, liegt auf der Hand: Solche Beispiele ließen sich aber immer finden - so könnte allein der Titel des zweiten Buches der Recherche (Im Schatten junger Mädchenblüte) auch für ein Werk Hedwig Courths-Mahlers dienen. Und mit kitschverdächtigen Rilkezitaten kann man Hundertschaften erschlagen.
Aber nicht nur der textuelle Kontext ist gemeint. Musils Beispiel der singenden Donkosaken, die er als reines Gemälde, dann lebendes Bild sieht und schließlich in den Schützengraben des Ersten Weltkrieges versetzt ist ein gut gewähltes Beispiel. Ich habe auf Verliebtheiten hingewiesen. Die Tatsache des Erlebens macht aus dem Kitsch Wirklichkeit - und indem er Wirklichkeit wird, bleibt seine Kitschigkeit auf der Strecke. So blättert das Leben den Kitsch vom Leben - und ob aus ihm Kunst wird, ist wieder eine ganz andere Frage. Wenn er aber Kunst wird, muss er eine Art Mehrwert für sich beanspruchen können, ein etwas, das über das bloße Faktum hinausweist, sonst wird die Geschichte von Frau Pilcher geschrieben und dem ZDF verfilmt. <b>Alles</b> nun eignet sich für eine solche Kunst, wenn es denn einen Künstler gibt - nochmal das Recherche-Beispiel: Warum kann Proust den Leser mit seinen pubertären Eifersüchteleien faszinieren, mit diesen eigentlich mehr als langweiligen Beziehungen zwischen Swann und Odette, dem Erzähler und Gilberte (was für eine im Grunde trivial-dümmliche Jugendliebe) bzw. Albertine? Weil er eben die Sprache, die geeigneten Bilder findet, Nuancen zutage fördert und so die eigentlich profane Qual des verliebten Pubertierenden auf eine höhere Ebene stellt.
Und natürlich gibt es individuelle Unterschiede des Kitschempfindens (in der Kunst als auch im Leben). Was vor allem in der Kunst ein Mensch als Kitsch empfindet, ist sehr stark davon abhängig, inwieweit dem Kunst- bzw. Kitschkonsumenten "nichts Menschliches" fremd ist, inwieweit er sich auf sich selbst einzulassen vermag (wobei manchmal halt auch wenig da ist, worauf der/die Betreffende sich einlassen kann), inwieweit er seine Beweg- und Abgründe analysiert, dies will und kann (wobei ein temporär - etwa durch Alkohol - beeinträchtigter Geisteszustand durchaus aus einem an und für sich nicht zu Trivialitäten neigenden Menschen einen dumm-kitschigen Zeitgenossen zu machen vermag, der dann auf genau so einfach-reduzierte Weise funktioniert wie es für viele Leute der Normalzustand ist). Broch (glaub ich) hat Hitler als kitschig bezeichnet (und also den Kitschbegriff auf andere Vereinfachungen angewandt), womit etwa Tageszeiungen wie BILD, Kronenzeitung oder Österreich als Inbegriff des Kitsches zu verstehen werden.
Grüße
s.