Und selbst wenn? Was für mich zählt, ist der Augenblick. Auch wenn literarische Vergeßlichkeit entstünde, so hilft doch immer die Zweit- und Mehrfachlektüre bei Werken, die einem dies wert erscheinen. Ich glaube und stelle mal die These auf, daß ein wirklich geübter Leser in genau der Geschwindigkeit liest, die für einen paßt! Das heißt, man spürt genaul, was richtig ist! Wenn ich merke, daß ich bei einem Buch zu schnell werde, lese ich laut weiter, was automatisch drosselt. Aber bei schwieriger Literatur lese ich langsamer, oft wiederhole ich Seiten, bei Büchern, die es nicht erfordern, zische ich eben durch.
Natürlich: Wenn du dich damit wohl fühlst, wäre es vollkommen widersinnig, am Leseverhalten etwas zu ändern. Du hast schon mehrfach den Vergleich mit den Lesegewohnheiten der Leute im Großen Bücherforum gebracht (der mir so ernsthaft nicht erschienen ist, aber doch ernsthafter zu sein scheint, als ich annahm). Ich vermute, dass für diese Vielleser das Lesen ein Steckenpferd ist wie Zierfische oder Briefmarkensammeln. (Wobei ich gegen beide Tätigkeitkeiten nichts gesagt haben will.) Für mich ist das offenbar etwas gänzlich anderes, jedenfalls nicht mit anderen Hobbies vergleichbar. Lesen (und damit wissen, erfahren wollen) konstituiert meine Person, es ist die Neugier, die ich seit meinen ersten Leseerfahrungen als Kind und Jugendlicher ins nun gesetztere Alter unbeschadet mitgenommen habe.
Mit dieser Neugier verbunden ist die Lektüre von Sach-, Fachbüchern. Diese macht (wenn man denn Biographie, Essay etc. zu diesen zählt) den zahlenmäßig größeren Anteil aus; ich kann über die Jahre hinweg feststellen, dass die Menge der gelesenen Romane, Erzählungen immer stärker zurückgeht. Ein Autor aus meiner Jugend hat mich bezüglich des Leseverhaltens vielleicht mehr geprägt als alle anderen - und eben ein Sachbuchautor: Hoimar v. Ditfurth. Ich glaube, dass es sich um "Im Anfang war der Wasserstoff" handelte, das mir als vielleicht 12jährigem in die Hände fiel und mich total faszinierte: Eine rational nachvollziehbare, verständliche, aber nicht dümmlich "kindgerechte" Darstellung der Welt, unserer Geschichte. Es hat meine Neugier auf alles und jedes geweckt (und v. a. natürlich auf naturwissenschaftliche Bücher), ich empfand das Buch als spannender denn jeden Wildwestroman - und ein wenig ist mir diese Haltung auch heute noch zueigen.
Und nun ist es wohl die Art dieser Bücher, die ein solches Schnelllesen fast unmöglich macht. Derzeit - neben Amos Oz - ein Buch über "Poincarés Vermutung" (wobei mir die Vorstellung dreidimensionaler Mannigfaltigkeiten einige Mühe macht ;)) oder "Mathematik für alle" von Lancelot Hogben, eine Art historisches Mathematiklehrbuch, Mitte der 30iger Jahre geschrieben, von einer technisch-rationalistischen Begeisterung getragen, die heute ein wenig naiv anmutet. Aber dennoch informativ in zweierlei Hinsicht: Was die historische Entwicklung der Mathematik an sich anlangt als auch die romantisch-technischen Utopien der Zwischenkriegszeit betrifft. Würde ich diesen Büchern mit einer Lesegeschwindigkeit von 100 Seiten pro Tag zuleibe rücken wollen, so bliebe als Resultat der Lesefrüchte bloß der Titel und eine ungefähre Vorstellung vom Inhalt zurück. Das will ich nicht.
Ich will allerdings nicht werten: Wer gerne Groschenromane liest (oder Coelho, oder Simmel, Hedwig Courts-Mahler etc.) und sich dabei wohl befindet, soll dies tun. Mich langweilt das, ich sehe auch keine Rosamund Pilcher Verfilmungen (wie eigentlich fast überhaupt keine Filme) - und würde ich das tun, so wäre das eigentlich Interessante eine Art Metasicht: Sich zu überlegen, warum derlei Bücher oder Filme so großen Erfolg haben. Dass ich wenig Freunde oder Bekannte mit solchen Lesevorlieben habe, liegt einfach in der Interessenlage. Hingegen gibt es nicht wenige Informatiker in meiner Umgebung, die mit Literatur üblicherweise gar nichts am Hut haben, mit denen ich mich aber (weil ich Programmieren einfach spannend finde) sehr gut unterhalten kann.
Was "Hochliteratur" anlangt: Ich sehe das wie Giesbert, es regiert das reine Lustprinzip. Mir ist es völlig wurscht, ob irgendein Werk einem bestimmten Kanon zugeordnet werden kann. Aber auch dem zweiten Teil kann ich zustimmen: Kompliziertere Strukturen machen einfach Spaß; Denken macht Spaß (das ist wohl der Kernsatz für all jene, die behaupten, Anspruchsvolles wäre zu anstrengend. Es macht einfach Freude.). Wobei die Komplexität der Strukturen wiederum zulasten der Geschwindigkeit gehen.
Bei dir habe ich ein wenig das Gefühl der Getriebenheit: Lesen, "erledigen" zu müssen. Wenn du dich aber - wie du oben beschreibst - dabei wohl und zufrieden fühlst, bleibt die schlichte Feststellung, dass Menschen eben aus ganz unterschiedlichen Gründen, den verschiedensten Beweggründen zu Büchern greifen.
Zitat
Nana, im Straßenverkehr würde diese Geste mit Bußgeld geahndet werden ;).
Grüße
s.