Beiträge von scheichsbeutel^

    Wollen wir nicht hoffen, dass du in Zeiten der sanften Drei- und Vierlagigkeit die Stammesgeschichte Jesu ... Außerdem ist das Papier bei solch einem alten Buch meist dünn und brüchig und wenn ich mir vorstell ... Nein, lieber nicht.


    Verwende lieber den Plenzdorf oder einen ungenannten brasilianischen Romancier. Und gib acht bei missbräuchlicher Verwendung religiöser Werke, schnell findet sich eine Bibelrunde mit wenig Humor und du wirst sehen, dass die Toleranz Rechtgläubiger bei den Karikaturen diverser Propheten endet.


    Zum Thema: Spamers Handatlas, Ende 19. Jahrhunderts, ledergebunden. Handatlas suggeriert Rocktaschenformat, aber: 40 x 27 cm, 3 bis 4 kg schwer. Nett und historisch interessant die Beschreibung der Länder. So liest man, dass in den Vereinigten Staaten noch "viel Viehhirtenroheit" zu finden sei und allerlei "Hinterwäldlertum", verleiht aber der Hoffnung Ausdruck, dass sich dies durch zivilisatorische Maßnahmen ändern werde. So ist das mit den Hoffnungen ...


    Grüße


    s.

    Hallo!


    Kuriosität die erste: "Entdeckte Grufft natürlicher Geheimnisse, das ist: Gewisse und richtige, nicht in blosser Speculation bestehende, sondern durch viel und oftmahlige Experimenta bewährte Künste, die Landgüter mercklich zu verbessern, den Ackersmann reich zu machen, und zu allem Überfluß zu verhelffen". Sechste Auflage von 1707, als Autor fungiert ein nicht näher genannter "Liebhaber der guten Künste". Ein Landwirtschaftsratgeber, von mir allerdings weder ganz gelesen noch befolgt.


    Ins Buch eingelegt Briefe, Rechnungen und Kinderzeichnungen von Ende des 19. Jahrhunderts, außerdem ein handschriftlicher, vergilbter Zettel mit den Zeichen für Luft, Wasser, Feuer etc., aber auch für Zinn, Vitriol und Moorkönig (???).


    Grüße


    s.


    Mir läuft im übrigen auch immer ein Schauer über den Rücken, wenn ich Bücher als alt bezeichnet sehe, deren Erscheinungsdatum meinem eigenen nachfolgt.

    Hallo!



    Deine erste Frage muss ich verneinen. Ich habe bisher um Doderer immer einen Bogen gemacht. Wer freiwillig der NSDAP beitritt, auch wenn er es kurze Zeit später rückgängig macht und katholisch wird, ist nicht unbedingt ein Kandidat für meine 'Muss-ich-lesen'-Liste ...


    Doderer gehörte - wie im letzten Posting erwähnt - wohl zu dem Menschenschlag, welcher sich die Wirklichkeit zurecht lügt und - nachdem er dies eine gute Zeit lang getan hat - auch an diese neu erschaffene Realität glaubt. Und sympathisch war er nun wahrlich nicht.


    Aber dir entgeht einer der besten deutschsprachigen Schriftsteller. Wobei in den Romanen wenig von seinen dubiosen Lebensentscheidungen spürbar wird - im Gegenteil: Man begreift kaum, wie jemand mit so scharfem Blick für menschliche Eigenheiten derartige Entscheidungen treffen konnte. Doderer war auch der festen Überzeugung, dass das Leben eines Schriftstellers und sein Werk nichts miteinander zu tun haben (sollten). Natürlich ein hehres, unmögliches Unterfangen, "Autobiographie ist's immer" lässt Th. Mann den Geheimrat vernehmen.



    Zu Deiner zweiten Frage: Es gibt ja Leute, die behaupten, dass man den Österreicher und v.a. den Wiener nur ganz (oder wenigstens halbwegs) verstehen könne, wenn man vor Ort gelebt hat. Das hat durchaus etwas. Andererseits kann es wohl auch den Blick trüben.


    Zwischen Wiener und Österreicher ist ein immenser Unterschied - wird behauptet. Sowohl von den Wienern als auch Tirolern, Kärntnern, Steirern etc. Und ob das Wien von Heute noch viel mit dem des Rene Stangeler zu tun hat, darf auch bezweifelt werden. Aber die Stiege gibt's noch ...


    Grüße


    s.

    Hallo!



    Dem kann ich mich nur anschließen. Ein sorgfältig komponiertes, sprachgewaltiges Buch. Einer der besten mir bekannten Romane.


    Großer Grunzlaut. - Ein besondere Empfehlung gilt auch der Biographie von Wolfgang Fleischer, kenntnis- und detailreich, ohne das häufig Verklärende solcher Lebensbeschreibungen. Und: Eigentlich gehört zur "Strudlhofstiege" und den "Dämonen" noch ein drittes, der Chronologie entsprechend - erstes: "Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal".


    Dass man die Strudlhofstiege nur in kleinen Dosen à 20 Seiten zu sich nehmen könnte, kann ich nicht nachvollziehen. Kaum ein Buch hat mich so gefesselt; sosehr, dass ich mich manchmal bemühen musste, nicht allzu schnell zu lesen, um dem Gelesenen die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.


    Zu Doderers Leben: Doderers eigentümliche Philosophie (besser Metaphysik) speist sich aus dubiosen Quellen: Weiningers "Geschlecht und Charakter", Hermann Swobodas Periodizität des menschlichen Organismus (nach dem "freisteigende" Erinnerung bei Frauen in 28, bei Männer in 23 Zeiteinheiten zu beobachten sind, was Doderer häufig als Beleg für bestimmte Assoziationen, aber auch als unschuldigen Grund des Vergessens vieler Ereignisse betrachtet - diesen war dann schlicht das periodische Auftauchen versagt), dazu noch Spenglers prophetische Geschichtskunde vom Untergang des Abendlandes und die mehr als dubiose "Welteislehre" Hörbigers, an welcher auch Hitler großen Gefallen fand. Aus dem allen entstand unter dem Einfluss des "Meisters" Gütersloh eine fatalistische Weltsicht, welche sowohl als Grundlage für seine Romane, noch wichtiger aber als - spätes - Erklärungsmodell für sein Leben diente.


    Befremdlich erscheint solches bei einem Autor mit einem derart scharfen, fast sezierenden Blick für menschliche Eigenheiten und Schwächen. Die Intensität der Beschreibungen, die Präzision der Metaphern, das Erzeugen von tief beeindruckenden Stimmungsbildern - all diese herausragenden dodererschen Fähigkeiten, die seine Romane zu einem außergewöhnlichen Genuss werden lassen, bleiben zum Glück von diesem lebens- und literaturtheoretischen Brimborium fast unberührt. Wenngleich ich nun weiß, woraus sich in manchen seiner Romane mein Unbehagen speiste: Wenn ich etwa beim "Mord, den jeder begeht" über die fast penetrant wirkenden Zufälle hinweglas und ohne der eigentlichen Handlung allzuviel Aufmerksamkeit zu schenken, von Beschreibung zu Beschreibung, Metapher zu Metapher voranschritt. Was ich jedoch als Schwäche des Romans betrachtete, war ihm Theorie: Gerade die unwahrscheinlichen, mich verstörenden Zufälle (derer es auch in seinen anderen Romanen nicht wenige gibt) waren beabsichtigt und vom fatalogischem Gedankentum getragen in der Form, dass man eben seinem Schicksal nicht entkommen könne. Spengler auf einer individuellen Ebene.


    Aber das wirklich Fatale, weil die Qualität der Bücher ja kaum beeinflussende, ist eben nicht die romantheoretische Ausprägung dieser Ansichten, sondern die Tatsache, dass er seine Ideen auch auf sein Leben bezog. Und zwei Wirklichkeiten statuierte: Eine erste (die wahre und einzige, die dem des Künstlers entspricht, der nur seiner Kunst zu leben hat) - und eine zweite, außen sich befindliche, die zufällig und austauschbar ist und nur der ersten Wirklichkeit dienstbar sein sollte. Dieses Ausblenden von Faktischem nutzte er zwiefach: Zum einen log er seine eigene (nationalsozialistische) Vergangenheit um (und für einen Fatalisten stellt sich der Determination wegen ohnehin keine Schuldfrage); zum anderen war sie auch nichtig, musste hinter seinem Künstlertum zurückstehen. Diese Vorgangsweise bezog sich aber nicht nur auf politische Dummheiten, sondern wurde, nicht unerheblich zu seiner Altersverbitterung beitragend, auch zum persönlichen Lebensmotto. Nichts war von Bedeutung außer der Kunst, auch die eigenen, oftmals wohl verdrängten oder verschütteten Wünsche waren sekundär, der zweiten Wirklichkeit angehörend. Tragisch und anrührend beschreibt Fleischer eine solche Verdrängung, wenn er Doderer voll Bewunderung vor einer Auslage mit Kinderschuhen beschreibt, plötzlich dessen tränende Augen sehend.


    Ob solches sich geändert hätte, wenn er nicht bis über sein 50. Lebensjahr hinaus ein gänzlich erfolg- und mittelloser Schriftsteller geblieben wäre, lässt sich natürlich nur vermuten. Aber dieser langgehegte Groll, das Verkanntsein, das tief verwurzelte Gefühl des Verfolgtwerdens treibt ihn zum einen zu einer ungeheuren Disziplin des Schreibens (auf der Suche nach Erfolg), zum anderen in eine verbohrte Bitternis, die auch mit der ungeheuren Anerkennung der letzten 15 Jahre kaum noch von ihm abfällt. Dennoch versöhnten (wie so oft) mich die letzten, schon von Krankheit gezeichneten Lebensjahre mit dem Autor, der dann Eigenschaften wie Großzügigkeit und Loyalität auch gegenüber ungeliebten Schriftstellerkollegen an den Tag legt. Wenn auch Unbegreifliches zurückbleibt: Etwa seine Weigerung, eine Unterschrift für seine damals schon lang getrennte lebende, jüdische Frau zu leisten, die ihr die Ausreise in die U.S.A. im Jahre 1938 ermöglicht hätte - und die er durch seine Haltung (er wollte die Scheidung erzwingen) der Gefahr der Verhaftung aussetzte. Solches aber betrachtete er im Nachhinein als der zweiten Wirklichkeit zugehörig - und damit war's bedeutungslos.


    Ein verleugnetes, stilisiertes, sich selbst erfindendes Leben. Irgendwann im Laufe der Neuerfindung der eigenen Vergangenheit, der theoretischen Vorstellung von der eigenen Zukunft ohne Rücksicht darauf, dass diese Zukunft immer auch ein Mensch erleben wird, glaubt man das Erfundene, glaubt auch an die eigenen Philosophie. Zurück bleibt jemand, der sich selbst vergewaltigt, unglücklich mit sich und seiner Umwelt. Denn zu dieser lassen sich aufgrund der eigenen Position nur abhängige Beziehungen aufbauen: Man hat Bewunderer oder aber lebt distanz- und respektvoll nebeneinander her. Beziehungslos. Ein solcher, unauthentischer Mensch muss auch sich selbst überzeugen können: Nur wenn er an das eigenen Lügengebäude glaubt, entgeht er dem "großen Grimm", Fusswinkel > 120 Grad. Doderer dürfte nicht dumm genug gewesen sein an sein Selbsterfundenes zu glauben, auch wenn seine theoretischen Bemühungen diesbezüglich enorm waren.


    Grüße


    s.