Beiträge von Diaz Grey

    Nun ja, gekauft nicht gerade, aber gefunden in Beständen, von denen sich mein Schwiegervater trennt:


    Lew Tolstoi: Hadschi Murat

    Italo Svevo: Vom guten alten Herrn und vom schönen Mädchen

    Umberto Eco: Gesammelte Streichholzbriefe


    Von Tolstoi las ich vor vielen Jahren "Krieg und Frieden" mit dem Gefühl der Überforderung, aber einer Ahnung von der absoluten Größe. Das wird wohl noch einmal ein Wiedersehen geben. Vor nicht so langer Zeit erschrak ich gehörig vor der "Kreuzersonate". Die kaukasische Geschichte werde ich als Friedensangebot angehen.


    Svevo (eigentlich Aron Hector - oder auch Ettore - Schmitz) ist ein Zufallsfund, der mich darauf aufmerksam machte, wie wenig italienische Literatur ich kenne, obwohl ich der Landessprache sogar halbwegs mächtig bin. Ariost, Boccaccio, eine kleine zweisprachige Erzählungssammlung und ein paar Dinge von Tabucchi, den Portugal aber mehr interessierte, und das war's auch schon.


    Und Umberto Ecos Essays mit ihrem freundlich lächelnden Tiefsinn lohnen eigentlich immer.


    Dazu als kleine Sachbuchergänzung: ein Reclambändchen "Mathematik, Maße und Gewichte in der Antike" von O.A.W. Dilke - Schwiegerpapa war Maschinenbauingenieur.

    Heute in der Frankfurter Rundschau: "Es gibt Gott, und er verhindert kein einziges Verbrechen", zum 200. Geburtstag des Dichters, und wie eigentlich alles von Arno Widmann sehr, sehr lesenswert.

    Gestern: Clemens J. Setz, Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes.


    Etwas neugierig war ich schon auf den aktuellen Herrn Preisträger, da kam mir das Exemplar in der Buchhandlung gerade recht. Lese ich dort länger als 10 Minuten hin und her, nehme ich das Buch mit.


    Auf ähnliche Weise lernte ich unter den Laureaten der letzten Jahre Erfreuliches (Mora), dann doch nicht so Überzeugendes (Lewitscharoff) und umwerfendes (Jirgl) kennen, wobei ich letzterem das Wunderwerk der "Stille" (aber auch leider den missratenen Splatter in "Nichts von euch auf Erden") verdankte. Die zehn Probeminuten ließen jedenfalls die Hoffnung zu, dass mich Setz irgendwo hin mitnimmt, wo ich noch nicht war.

    "Glück ist etwas mit Käse Überbackenes""


    ...ließ Terézia Mora den Helden ihrer Kopp-Trilogie in deren drittem Teil, "Auf dem Seil", denken. Abgesehen davon, dass ich das auch ohne in der Lage eines Darius Kopp zu sein ganz gut nachvollziehen kann: die Schilderung, wie sehr die Gedanken eines Menschen in prekärer Lebenslage um die erhoffte nächste Mahlzeit kreisen, gehört zu den subtilen Vorzügen dieses Buchs.

    Danke, finsbury, für die Reaktion auf meine Einschätzung. Weshalb ich dazu nochmals schreibe: eben ist mir eingefallen, wie sich die seltsam gärende gesellschaftliche Lage in Dostojewskis Romanen ganz kompakt zusammenfassen lässt. Es gibt im "Idiot" eine Kernpassage, die das schlüssig erfasst, nämlich die Verlesung des Manifests durch Ippolyt; sowohl wegen des Inhalts als auch nach der Form. Alleine der Ablauf der Szene mit aller Ziererei und allem - jawohl - rhetorischem Brimborium, bis es endlich zur Verlesung kommt; dann der so hochfahrende wie verquaste Inhalt des verlesenen Manifestes, das ist der umfassende Ausdruck einer Generation, die alles Dagewesene umstürzen möchte, aber am Ende eigentlich gar nicht weiß, was sie mit ganzer Kraft will.


    Nun ja, eine Generation später wusste sie es. Wobei - was sie nach dem Umsturz mit der Macht eigentlich anfangen sollte, wusste sie wiederum doch auch nicht recht. Und Marx hatte gerade dazu bejammernswert wenig zu sagen.

    Gerade angefangen: der letzte Band meiner antiquarisch ergatterten Dostojewski-Sammlung, die Brüder Karamasow. Die anderen Bände (Der Spieler, Erniedrigte und Beleidigte, Schuld und Sühne, Die Dämonen, Der Idiot) sind absolviert, und es setzt sich ganz langsam ein aussagekräftiges Bild des Werks zusammen. Kurz: es ist irgendwie gemischt.


    Auf der Habenseite steht wieder einmal die Bestätigung meiner Einsicht, dass man, wenn man einen zutreffenden Eindruck von Ort und Epoche haben will, nicht nur die Geschichtsbücher, sondern auch die Geschichtenbücher der Zeit lesen sollte – es sind authentische Innenansichten, genauer gesagt: Primärquellen; selbst dort, wo sie rückschauend irren. Historische Primärquellen findet man dagegen allenfalls in allgemein kaum zugänglichen Archiven. Osteuropäische – und speziell russische - Historie (und Literatur) war bisher gewiss nicht mein bestes Fach, aber alle Subjektivität der Darstellung beiseite: die Romane Dostojewskis vermitteln eine greifbare Vorstellung von den Strömungen, die diese Gesellschaft in der voranschreitenden Erosion einer Zarendynastie und ihrer Adelskaste umtrieben.


    Die literarische Qualifizierung macht mir Kopfzerbrechen, irgendwie ist sie nicht restlos befriedigend. Die beste Figur hat meinem Eindruck nach „Die Dämonen“ abgegeben, die schwächste „Erniedrigte und Beleidigte“, im unteren Mittelfeld „Schuld und Sühne“; „Der Idiot“ und „Der Spieler“ liegen auf unterschiedliche Weise etwas darüber, soweit ein vorläufiges Ranking.


    Überraschend fand ich durchweg den Eindruck „leichter Lesbarkeit“ und der zurückgenommen- distanzierte, manchmal ironische Stil des Autors. Was mir dabei allerdings störend auffiel, lässt sich am „Idiot“ am deutlichsten klarmachen. Es ist ein Eindruck unkonzentrierten Erzählens, dem das Gespür für die Verdichtung am richtigen Ort fehlt. Episoden, die für den Fortgang und den Rhythmus der Erzählung nur von nachrangigem Interesse sind, werden in langatmigen Wortprotokollen festgehalten – ganz wesentliche Vorgänge dagegen in summarischen Notizen vermerkt. Ein rein auktorialer Erzähler, der nirgendwo in der erzählten Handlung auftritt, aber einerseits suggeriert, ein bestimmtes Gespräch wortgetreu wiedergeben zu können, mit allen Ab- und Umschweifen, während ein mindestens so wichtiger Vorgang, dessen Details den Leser durchaus interessieren müssen, in demonstrativer Abwesenheit und hinter unsicherem Raunen liegt, hat mindestens ein Glaubwürdigkeitsproblem.

    So unterscheiden sich die Wahrnehmungen - und bis zu einem gewissen Punkt sind sie dann auch durchaus legitim. Der Götz ist klar sichtbar das Werk eines jungen Wüterichs; ich denke, Peter Hacks hat ihn mit dem "Gespräch im Hause vom Stein über den abwesenden Herrn von Goethe" ganz gut getroffen. Für das, was woran wir heute denken, wenn wir "Goethe" hören, ist er untypisch und deshalb gerade kein Grund, vorzeitig aufzugeben. Am Götz ist erstaunlich, wie indolent der junge Goethe mit dem Kriterium der praktischen Spielbarkeit umging. So kurz, wie einige Szenen sich abwechseln, ist das fast ein Vorgriff auf das Medium Film. Da bricht eine Szene in der Burg ab, es folgt ein Auftritt im finsteren Wald, in dem sich die Personen zwei, drei Sätze zurufen - und schon folgt der Schnitt irgendwo anders hin.


    Auf der anderen Seite halte ich gerade Stella für völlig verunglückt, obwohl sie allgemein für sehr gut spielbar gehalten wird. Stella trägt einen Geburtsfehler mit sich herum, nämlich die Wandlung von einem Lust- zu einem Trauerspiel. Die bizarre Werkhistorie sieht nämlich so aus: Goethe verarbeitete in seiner ersten Fassung Motive der Geschichte des Kreuzritters von Gleichen (ja, das ist der von den "Drei Gleichen" entlang der A 4), der ungeachtet einer treulich harrenden Ehefrau noch eine Zweitfrau aus dem Morgenlande mitbrachte. Für die skandalöse Bigamie erhielt er wegen seiner Verdienste um den rechten Glauben jedoch höchsten päpstlichen Dispens, und so lebte man munter in einer ménage a trois weiter - das waren Zeiten! Goethes Problem mit der ersten Fassung, die auch genau dieses Ende hatte, bestand darin, dass sie damals so unmöglich veröffentlicht werden konnte. Und so entstand aus der Überarbeitung dieser seltsame Zwitter, der die Stella , wie wir sie kennen, leider ist und in dem eine Abfolge geradezu schwankhafter Zufälle ein künstlich wirkendes tragisches Ende nimmt; und der "Held" es fertig bringt, nacheinander Frau mit Kind und Geliebte grußlos sitzen zu lassen, nach jahrelanger Abwesenheit einen kurzen Kampf zwischen Liebe und Pflicht auszukämpfen, sich für die Pflicht entscheidet und sich kurz darauf wegen der Konsequenz für die Affaire dahinschießt.  Das mag wohl den Vorzug der Korrektheit gehabt haben, trägt aber den Stempel der seltsamen Werkhistorie geradezu auf der Stirn.


    Wie dem auch sei, und wie auch die Geschmäcker verschieden sind: Goethes Gesamtwerk sollte jedenfalls nicht nach einem Ersteindruck abgeschrieben werden.



    Noch ein Nachzügler im doppelten Sinne, und eigentlich gar keine Jugendschrift mehr, aber in diesem Zusammenhang noch nahe dran: "Palingenesien. Fata und Werke vor und in Nürnberg":


    Die "Palingenesien", die Wiedergeborenen, waren eigentlich konzipiert als Überarbeitung der "Auswahl aus des Teufels Papieren", einer Sammlung satirischer Texte des jungen Jean Paul, die ihrerseits im "Siebenkäs" schon einmal neugeboren wurde - indem nämlich der Titelheld an ihrer Niederschrift arbeitete. Nachdem Jean Paul den Siebenkäs abgeschlossen hatte (und, wie den Palingenesien zu entnehmen ist, inzwischen am "Titan" schrieb), nahm das Projekt eine andere Form an. In eine Rahmenhandlung eingewoben, in der der Autor höchstselbst auftritt, erscheinen Motive und überarbeitete Fassungen von mehreren Teufelspapieren nochmals neu. J.P. selbst nimmt sich in der Rahmenhandlung deren zweiter Auflage an, während er sich auf eine Art Arbeitsreise nach Nürnberg begibt. Dort wird er am Ende einer eher schütteren Handlung nicht nur die schmerzlich vermisste Verlobte, sondern auch den vom Reichskammergericht angereisten Advokaten Firmian Siebenkäs und seine Natalie sowie den Schulrat "Pelzstiefel" antreffen. Zu dem Stammpersonal des "Siebenkäs" fehlen eigentlich nur die verblichene Lenette und Leibgeber, dessen Geist aber sichtlich über der Szene schwebt.

    Die satirische Schärfe der "Auswahl aus des Teufels Papieren" ist ungebrochen, aber sie ist reifer geworden und, was den entscheidenden Unterschied ausmacht: sie hat als Gegengewicht die Empfindsamkeit und die Liebe des Jean-Paulschen Romanwerks gewonnen. Es wird viel geweint, es gibt unendlich hohe und tiefe Gefühlswelten zu durchschreiten; berauschende Traumgesichte durchsetzen die Erzählung. Aber dazwischen gibt es immer wieder erstaunlich ungeschminkte satirische Attacken und, natürlich, die bekannten Digressionen auf Themen am Wegesrand.

    Auch die Palingenesien sind typischer Jean-Paul-Lesestoff, mit Widerhaken und Fußangeln in jeder Zeile und mit einer Unmenge eingewobener Privatgelehrsamkeit auf dem Stand des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die ohne einen kundigen Anmerkungsapparat (und, nebenbei, astronomische Grundkenntnisse) kaum zu bewältigen ist. Kennt man das Romanwerk zumindest bis zum Siebenkäs, sind die Palingenesien mit ihren zwei Bändchen von insgesamt etwa 200 Seiten ein nettes Seitenstück des J.P.-Studiums.

    …war erschienen als Band 500 der Bibliothek Suhrkamp, und in dieser Edition fand ich sie in der Wühlkiste einer nahegelegenen Büchergilde. Der nur etwa 140 Seiten lange Text schildert – vermutlich, so genau ist das nicht bekannt – teils autobiografische, teils fiktive Erlebnisse und Impressionen des Erzählers – überwiegend, aber nicht ausschließlich in der Ichform niedergeschrieben. In der Erzählebene ist er das „früheste“ Werk Koeppens, die Zeit ist der Fehlstart der deutschen Republik nach dem Ende des ersten Weltkriegs, einzelne Erinnerungsskizzen reichen auch noch in die Kriegsjahre zurück, es gibt im Übrigen keinen zeitlich linearen Ablauf. Werkhistorisch ist er das letzte zusammenhängende Prosawerk Koeppens. „Jugend“ hat anscheinend eine etwas verschlungene Werkgeschichte; Koeppen selbst stellte in Abrede, dass es Vorstudien zu einem größeren Roman gewesen seien. Als Zeugnis der Zeit einer Schaffenskrise kann man jedenfalls nur staunen: das schmale Büchlein hat es in sich.


    Mit Koeppens drei großen Romanen hatte ich immer meine Probleme. Der Sprachduktus war mir fremd, ich kam damit einfach nicht ins Reine, ohne so recht sagen zu können, warum. Mit „Jugend“ verhält es sich umgekehrt: Sprache und Stil sind viel hakeliger, aber mit allen ihren Komplikationen überzeugen sie mich mehr. Ans Expressionistische grenzende Bilder und Metaphern, über und über gehäuft; innere Monologe, in Joycescher Manier ohne Satzzeichen (wer denkt schon mit Punkt und Komma?); Perspektivwechsel von erster in dritte Person, alles durchwirkt mit einem grimmigen Humor. Es ist gegenüber den drei populären Romanen Koeppens mit Abstand der modernste und formal anspruchsvollste Text, in dem es um den Sturz der letzten Abkömmlinge eines Pommerschen Gutsinhabergeschlechts ins Mittellose geht, um die persistierende Macht der alten Herrschaftsschicht, um das Durchschlagen unter elenden Verhältnissen und die Maskeraden einer darübergestülpten Flitterwelt.


    Gar nicht auszudenken, was erst aus einem Roman mit diesen Attributen geworden wäre.

    Endlich die Zeit zur Lückenfüllung haben – ein Privileg des Alters. Meine jüngste Lückenfüllung ist Friedrich Schillers „Braut von Messina“. Nach dem geläuterten Urteil über Höhe- und Tiefpunkte bekannter Werke (wie gut ist der Wallenstein tatsächlich, wie unbefriedigend Kabale und Liebe…) nun also die Entdeckung eines dramatischen Fossils.


    Die Braut von Messina ragt unter den anderen Werken Schillers durch demonstrative Antikisierung heraus. Nicht nur die Einbeziehung des Chors, die in einer langstieligen Vorrede erläutert wird, greift Elemente der antiken griechischen Tragödie auf, das Trauerspiel liest sich zudem wie eine Kollage von Motiven, die sich bis zu Sophokles zurückverfolgen lassen. Ein Familienfluch, der sich tantalidenähnlich über die Generationen eines Fürstengeschlechts hinzieht, war ausgelöst durch eine hinter der unmittelbaren Erzählebene gelegene Mesalliance des alten Fürsten, der seine Tochter zur Braut machte, und mit ihr zwei Söhne zeugte – sowie eine Tochter, deren Existenz nach einer Weissagung das ganze Haus einmal in den Untergang reißen werde. So ereignet es sich dann auch tatsächlich: die seit ihrer Geburt verborgen gehaltene Tochter soll zum Fest des Friedensschlusses zwischen den einander feindlichen Brüdern endlich präsentiert werden dürfen, in der voreiligen Annahme der Fürstin, nun drohe keine Gefahr mehr. Die schuldlose Tochter ist allerdings das Objekt des Werbens der beiden ahnungslosen Brüder, und so erschlägt der jüngere in rasender Eifersucht den von der Mutter ohnehin bevorzugten älteren. Im schaurigen Höhepunkt kommt die Erfüllung des Verhängnisses ans Licht – der Fluch ist erfüllt und kann sich in der Katharsis der Selbstentleibung des Brudermörders und so im Untergang des restlichen Fürstengeschlechts auflösen.


    Schön, würdig und formvollendet, weitgehend in geradlinigen fünffüßigen Jamben abgefasst, das ist die Geschichte der feindlichen Brüder. Schiller muss sich viel von der Wiedererweckung der Chöre im Schauspiel versprochen haben, und in der Tat ist die Implementierung gleich zweier Chorgesellschaften in Teile der Handlung eine neue Idee – gewesen. Interessant ist auch, dass diese Chöre von einem bestimmten Punkt an mehr wissen als die Protagonisten der Handlung und damit einen Teil der Spannung auf die Bühne selbst bringen – und dies auch mit vernehmlichem Klagen („Wehe, Wehe, Wehe!“) hörbar machen. Nur: das formal vielleicht vollkommenste Schauspiel Schillers ist eben ein versteinertes Stück Vergangenheit geblieben, ähnlich der Replikation einer Akropolis.


    Ich habe den Namen bei Wiki nachgeschlagen und bin sicher, das ich das im Zusammenhang mit einem anderen Buch, in dem der Name Ungern-Sternberg auftauchte, vor kurzem schon mal getan habe.

    Vielleicht nicht "in", sondern "auf" einem Buch? Ein anderer, durchaus respektablerer, Spross der Familie, Alexander von Ungern-Sternberg (1806-1868), hat eine ganze Reihe von Büchern verfasst oder zumindest herausgegeben - Biographisches, Erzählungen, Märchensammlungen.

    Eduard von Keyserling ist als Romancier, Novellist und Erzähler mäßig bekannt. Ich hege eine ausgeprägte Vorliebe für die Schwerelosigkeit seines Stils. Selbst die Ironie des Thomas Mann kann daneben schon einmal etwas schwerfüßig wirken. Als Dramatiker ist der kurische Graf heute völlig vergessen. „Die schwarze Flasche“ zeigt ihn als Bühnenautor mit einem Sinn für bitter unterlegten Humor, die Uraufführung soll 1902 auf einer Kabarettbühne der "Elf Scharfrichter" in München stattgefunden haben.


    Das Stück beansprucht mit seinem einen Aufzug und der strengen Einheit von Zeit, Ort und Handlung nicht mehr als ein Hotelzimmer, vier Personen und eine gute halbe Stunde Zeit. In dieser Aufstellung spielt sich eine schwarz unterlegte Groteske ab: ein so erfolgloser wie überschuldeter junger Poet hat sich mit seiner etwas naiven, just dem Elternhause entführten Geliebten in einem Hotelzimmer eingemietet, um mit ihr zusammen mit großem Gestus aus der Welt zu scheiden. Der Tod lauert in einem mitgebrachten schwarzen Fläschchen, aber zuvor will das Paar den Abschied von der schnöden Welt gebührend feiern – bei Filet und Sekt. Über den irdischen Genüssen wird die wankelmütige Geliebte an dem gemeinsamen Vorsatz zunehmend irre, und als der Zimmerkellner das Dessert serviert, gewinnt der Schrecken vor dem Tode endgültig die Oberhand über das eigentliche Vorhaben. Die burleske Steigerung erreicht ihren Höhepunkt, als der tatsächlich ernsthaft todesssehnsüchtige Zimmerkellner auf der Szene erscheint und um eine Mitreisegelegenheit ins Jenseits bittet.

    Kenner des erzählerischen Werks von Keyserlings erkennen das Motiv vielleicht wieder: es ist die – recht schwungvolle – szenische Bearbeitung einer Episode aus „Die dritte Stiege“. Es spricht sehr für den Autor, dass er den Vorhang nicht über einer schwankhaften Pointe fallen lässt, sondern über einem Mollakkord: der enttäuschten Hoffnung des ernsthaft lebensmüden Kellners.


    Das schmale, aber reizvolle kleine Werk ist in einer erschwinglichen broschierten Ausgabe in der "Dramatischen Bibliothek" des kleinen Lunata-Verlags zu bekommen, ferner in einer gebundenen Edition zu einem für ganze 32 Seiten prohibitiven Preis von etwa 22 Euro gebraucht oder sage und schreibe fast 90 Euro neu bei der Friedenauer Presse - und umsonst im Projekt Gutenberg.

    Nächstes Revisiting-Experiment: wie liest sich Jean Paul noch einmal, nach ziemlich genau 25 Jahren? Zwischenergebnis nach etwa einer halben Unsichtbaren Loge: überraschend schnell und, wie sagt man noch gleich: verstehend. Ich entsinne mich noch recht gut an den ersten Durchgang, bei dem es galt, mir jede Seite zu erkämpfen. Das geht heute wesentlich flotter, und es erschließen sich damit auch mehr Zusammenhänge und ein klarerer Rhythmus - gerade so, wie eine Partitur im Ganzen gelesen wird, anstatt jeder Note einzeln nachzusteigen und darüber gar nicht mehr die Musik zu begreifen.


    Das Experiment wird sicher fortgesetzt werden, nach und nach, nicht en suite, das wäre zu viel verlangt.

    Vor Jahren, als ich mich für Meyrinks "Golem" begeisterte (warum nur????), ...

    Ja nun, es hat schon was Besonderes, und mit den Jahren wechseln die Begeisterungen eben auch ihre Bezugspunkte. Interessant, aber nicht wirklich herausragend, so war immer mein Eindruck. Zwei Punkte, die mir auf einer Metaebene auffielen, bestanden jedenfalls darin, dass einerseits die Titelfigur in der Geschichte selbst gar nicht als reales Phänomen in Erscheinung tritt, sondern nur als Projektion menschlicher Vorstellungen und Ängste; und andererseits, dass das kaum jemandem aufzufallen scheint.