Beiträge von Diaz Grey

    Unterm Strich:


    Lohnt die Lektüre, und gegebenenfalls für wen? Ja, sie lohnt die Mühe für den ausgesprochenen Jean-Paul-Liebhaber mit dem Ziel der Vervollständigung seines Bildes. Die oft erwähnten, aber kaum gelesenen Jugendschriften gehören sicher nicht zu den Höhepunkten des Schaffens, dafür zeigen einen Teil des Weges dorthin. Ich habe es immer so gehalten, dass ich Autoren, die ich schätze, sowohl durch Höhen als auch durch Tiefen folgte - ein Lesen weniger in die Breite als in die Tiefe. So betrachtet waren die Versuche an Jean Pauls Jugendschriften nur folgerichtig, und mir jedenfalls war das eine nicht unwichtige Erfahrung.


    Wie sollte man das keinesfalls lesen? Erstens nicht als Pillowbooks. Zweitens nicht als E-Book, auch wenn es da am einfachsten - und in der Kindle-Version justament zum Nulltarif - zu erhalten ist. Ohne Die ständige Hilfestellung eines sachkundigen Anmerkungsapparates sind die Texte heute inhaltlich nicht mehr zugänglich.

    Ich setze meine Kleinserie einmal fort mit der nächsten Folge: die "Auswahl aus des Teufels Papieren".


    Die „Auswahl aus des Teufels Papieren“ von 1789 ist, wie schon die „Grönländischen Prozesse“ von 1783, eine Sammlung satirischer Schriften aus den jungen Jahren des Dichters. Sie ist darüber hinaus so etwas wie ein literarischer Wiedergänger: an dieser „Auswahl“ arbeitet der Armenadvokat Siebenkäs in dem gleichnamigen Roman. Zuvor, 1798, erschien mit den „Palingenesien“ bereits eine überarbeitete Fassung der „Auswahl“.

    Die Satiren richten sich wiederum gegen die gewohnten Ziele: Rezensenten, engstirnige Kleriker, weltfremde Gelehrte, den Adel. Zusätzlich schießt der junge Johannes Paul Richter sich wiederholt auf die weibliche Hälfte der Menschheit ein, und das mit einer manchmal frappierenden bis geradezu befremdlich wirkenden Schärfe, mit der man nicht unbedingt rechnet, wenn man an große Frauengestalten seiner Romane bis hinauf zu einer Klotilde aus dem Hesperus denkt. Überhaupt – und nicht nur in den misogynen Sticheleien – wirkt die satirische Haltung noch etwas angestrengt, wenngleich auch nicht mehr so offensichtlich und im Bemühen zur Nachahmung literarischer Vorbilder feststeckend wie noch in den „Grönländischen Prozessen“. Ihr fehlt noch das Gegengewicht, das den gereifteren Jean Paul so groß werden ließ: die alles umfassende Liebe.

    Die „Auswahl“ ist sehr schwer lesbar, das muss jedem, der den Text in die Hand nimmt, klar sein. Das gilt für die geschachtelte und verwinkelte Sprache wie auch für die Themen. Vieles, was in den Texten aufgegriffen wird, sind Zeiterscheinungen, die uns heute fremd geworden sind und zu deren Verständnis schon sehr präzise Kenntnisse der gesellschaftlichen Verhältnisse und einiger prominenter Zeitgenossen in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts benötigt werden.

    Auch wenn die "Auswahl" zu den Jugendschriften Jean Pauls gerechnet wird: man sollte mit ihr nicht beginnen, wenn man Jean Paul erst kennenlernen will. Kennt man erst einmal die großen Romane, oder zumindest einen Teil davon, dann können sowohl die "Grönländischen Prozesse" als auch die "Auswahl aus des Teufels Papieren" mit Gewinn gelesen werden. Die Einordnung von Formen und Inhalten wird dann leichter fallen.

    An mir läge es jedenfalls nicht, wenn das Semikolon ausstürbe...

    So klug war Groucho Marx schon vor gut 90 Jahren:


    Als er in "Animal Crackers" einen Brief diktiert und dabei "Semikolon!" anordnet, wird er gefragt, wie man "Semikolon" schreibe. Seine Antwort nach kurzer Denkpause: "Allright, make a Komma!"


    So macht man das. Aber deine Konjunktive haben Klasse. Es wäre schade drum.

    Franck = ?

    Ohne das Buch zu kennen: Der Komponist César Franck war ein nahezu gleichaltriger Zeitgenosse von Flaubert. Ich habe keine Ahnung, ob das im Textzusammenhang passt und ob die beiden eine persönliche Beziehung verband, aber vielleicht ist das ein Forschungsauftrag...

    Ich lese ja gerade Joseph Roths "Radetzkymarsch" (den ich übrigens nur sehr empfehlen kann). Da trinken die Offiziere einen speziellen Schnaps:

    Da hab ich mich immer gefragt, was für ein Schnaps das wohl ist – 90%-tiger Alkohol ja mit Sicherheit nicht. Also wollte ich hier mal nachfragen. Und kaum setze ich zur Frage an, fällt mir ein, was das heißen soll: Das ist ein starker Schnaps, der einen umhaut, also um 90° kippt und von der Senkrechten in die Horizontale schickt.

    Ich denke, diese 90 Grad entsprechen etwa 50 Vol%, was ja immer noch recht stramm ist. Die Bezeichnung "Grad" kann verschiedene Bedeutungen haben, die Wikipedia hat da unter dem Stichwort "Alkoholgehalt" einen Hauptartikel mit mehreren Nebenartikeln über Gradeinteilungen. Einer meiner Großonkel mütterlicherseits hatte einen Laden für alles, was das vorzeitige Ableben fördert, also Tabakwaren und Spirituosen, ein Onkel auf der väterlichen Seite war Zollbeamter - daher ist mir das "Grad" als etwa ein halbes Volumenprozent noch geläufig. Das wäre dann das "Grad Sikes" mit einem Verhältnis von 0,6 Vol% auf 1 degree Sikes. Mir scheint das noch die plausibelste Definition zu sein.

    Was macht der Jean-Paul-Leser, wenn er von der Unsichtbaren Loge bis zum Kometen fast alles schon kennt? Er schaut sich die Jugendsünden an. Zwei davon, die „Grönländischen Prozesse“ und die „Auswahl aus des Teufels Papieren“ werden hier und da einmal erwähnt, die letzeren erhielt der Firmian Siebenkäs auch in persona untergeschoben, aber wer hat sie im Ernst schon einmal gelesen, und was steht da eigentlich drin? Also, Teil eins: die "Grönländischen Prozesse“.


    Die in den „Grönländischen Prozessen“ enthaltenen Texte stammen von 1783 und 1784. Der gerade zwanzigjährige, aber schon ungeheuer belesene Johannes Paul Richter, damals noch Kandidat der evangelischen Theologie, schrieb eine Handvoll Satiren nieder, in der hauptsächlich die Protagonisten des Literaturbetriebs, Autoren, Kritiker, Rezensenten, aber auch Adel, Hofleute, orthodoxe Theologen, "Stutzer" und am Ende auch geradewegs Frauen ihr Fett erhielten. Die Sammlung war ein wirtschaftlicher Fehlschlag, erlebte aber in den "Flegeljahren" nochmals eine Wiederbelebung: Vult ist mit ihrer Niederschrift befasst...

    Wer mit dem einen oder anderen Roman Jean Pauls vertraut ist, erkennt nicht nur die auf höchstem Niveau mäandernde Sprache, sondern auch die typische Technik seiner Satire wieder. Missstände und Widersprüche werden stets größtmöglich zugespitzt und beim Wort genommen - und dann in ironisch verdrehte Schlüsse und Ratschläge verwandelt. In der wohl stärksten Episode hält der Verfasser als Satiriker den aufs Korn genommenen Ständen und Personen vor, sie verhielten sich nicht töricht genug, um das Heer der Satiriker zu nähren – die angeprangerten Torheiten werden dann folgerichtig als vorgebliche Tugenden ironisch belobigt.

    Jean Paul orientierte sich in den Grönländischen Prozessen erkennbar an populären Vorbildern, namentlich Jonathan Swift und Christian Ludwig Liscow - allerdings ohne dessen persönlich gemünzten Injurien zu wiederholen. Klarnamen fallen fast ausnahmslos nicht, die Grönländischen Prozesse sind kein Pasquill. An vielen Stellen wirkt, das muss angemerkt werden, die Satire reichlich angestrengt. Man spürt, wie der gescheite Kandidat versucht, seinen Vorbildern nachzueifern. Zur Größe seiner späteren Romane fehlt noch das wohlwollend lächelnde Gegengewicht – die Grönländischen Prozesse wirken wie ein Vult ohne Walt.

    Wer sich für den Text interessiert, sei allerdings vorgewarnt: leicht ist die Lektüre nicht. Der junge Jean Paul beherrschte da bereits Latein und Griechisch sowohl als Sprache als auch als Kulturkreise, und er bediente sich großzügig daraus. Hinzu kommt ein Wissen über den Literaturbetrieb des mittleren und späten 18. Jahrhunderts, das heute allenfalls noch Fachleute einigermaßen vollständig nachvollziehen können.

    Wieso übrigens "Grönländische Prozesse"? Der junge Herr cand. theol. erklärt das so:

    "Man wird nämlich aus Kranz und andern wissen, daß die Partheien daselbst ihre Streitigkeiten in getanzten und gesungenen Satiren abthun und sich mit einander, ohne das Sprachrohr der Advokaten, schimpfen."


    Wer mit "Kranz" gemeint sein könnte, kann ich nur vermuten, nicht einmal der riesige Anmerkungsapparat in der WBG-Werkausgabe sagt dazu etwas aus. Ich nehme an, es geht um den Theologen Albert Krantz aus Hamburg und Lübeck, der sich zu seiner Zeit (1448 - 1517) wohl auch mit der Geschichte Skandinaviens befasst haben und einige Schriften dazu hinterlassen haben soll.

    Wenn die Messlatte fürs Vergessensein so niedrig liegt, nenne ich mal Henry Fielding. Sein Tom Jones ist nicht nur einer der ersten, wenn nicht der erste bürgerliche Roman schlechthin, er ist auch ein erzählerisches Wunderwerk.


    Unter den Portugiesen fällt mir Miguel Torga ein, unter den neueren Erzählern seines Landes ist er derjenige, dessen Erzählstil am deutlichsten den Landschaften entspricht, aus denen er stammte und von denen er erzählt: von archaischer Strenge des Trás-os-Montes, dem nordöstlichen Hinterland der Douro-Region. Torga ist eine der groteskesten Auslassungssünden des Nobelpreiskommittees.

    Nicht "gerade", nur gerade aus der Hand gelegt: Manesses neue (2019) kleine, feine Ausgabe von Joyces' Dubliner. Die Übersetzung durch Friedhelm Rathjen (den kennen wir doch noch aus anderem Zusammenhang?) trifft die Sprache der Textvorlage perfekt: es klingt eben auch im Originaltext wie der Plauderton eines Intellektuellen, der im Pub am Tresen steht und zwischen Dialekt, Jargon und Shakespeare-Zitaten zu changieren versteht, eben ein Ulysses in nuce.


    Umso ärgerlicher: wiederholte Male stockt der Lesefluss, wenn Satzfehler (Seite 11: ein "dann" anstelle eines "denn" - im englischen Originaltext steht hier ein "for") oder kapitale inhaltliche Schnitzer (Seite 82: eine Personenverwechslung in einem Dialog - ein "Corley" wo ein "Lenehan" hingehört) den Leser ins Stolpern bringen. Hier sollte der Verlag noch einige Verbesserungspotentiale heben, dann wird es perfekt.

    Ohne die Zeitangabe hätte ich auf "Esti" von Peter Esterhazy getippt. Da gibt es ein dreiseitiges Kapitel „Mottokollektion“, das tatsächlich nur aus Zitatschnipseln besteht. Als „erstes“ Kapitel geht es durch, wenn die zwei vorangegangenen kurzen Abschnitte nicht als Kapitel, sondern als Einleitung, Vorwort oder ähnlich verstanden werden, was tatsächlich nicht ganz abwegig wäre. Immerhin ein Dankeschön für die Einsicht: auch diesen Gimmick hat er kollagiert.

    In vertrauter Runde - ich war hier schon einmal und komme jetzt als Juan Carlos Onettis Serienheld wieder, in guter Hoffnung, dass auch mein gelegentlich etwas gegen den Strich gebürstetes Urteil mit Wohlwollen aufgenommen wird. Ich will wirklich nur spielen...


    Beste Grüße an alle hier,

    Diaz G.