Du siehst mich verwirrt ...
Ich mich auch, wie konnte ich mich unter den Romantikern verlaufen? Schlegel/Tieck, natürlich.
Du siehst mich verwirrt ...
Ich mich auch, wie konnte ich mich unter den Romantikern verlaufen? Schlegel/Tieck, natürlich.
Reemtsma über Wieland, die nächste.
Das Thema "Übersetzungen" tritt insgesamt dreimal auf; im ersten Durchgang (sechstes Kapitel) geht es speziell um die Shakespeare-Übersetzungen, mit lesenswerten Gegenüberstellungen zwischen Wielands konsequent durchgehaltener Prosa-Übertragung einerseits und den versgebundenen nachfolgenden Arbeiten, vor allem der Brentanos. Erst wenn man diese exemplarischen Beispiele ausgewählter Originalpassagen unmittelbar nebeneinander (oder genauer: untereinander) sieht, wird erkennbar, dass eine Freiheit in der Form nicht unbedingt im Nachteil gegenüber einer - schon angemaßt wirkenden - Freiheit in der inhaltlichen Wiedergabe bedeuten muss.
Zurecht hoch gewichtet ist das dreizehnte Kapitel "Versromane und -erzählungen(2), Märchen in Prosa", das sich hauptsächlich - und hauptsächlich interessierend - mit dem Oberon einerseits und "Klelia und Sinibald" andererseits befasst. Was den Oberon im 19. Jahrhundert zu "dem Wieland" schlechthin machte, war mir offen gesagt nie so recht klar, A. Schmidt schätzte ihn auch nicht besonders, und Reemtsma auch nicht. Geradeheraus gesagt: der Oberon ist als Versdichtung formal so hölzern, wie es dem prosaischen Agathon oft nachgesagt wird. Das, was das Pendant Klelia und Sinibald hat, nämlich eine Versifizierung, die sich so flüssig wie ein Prosatext (vor-)lesen lässt, und Freiräume für die kleinen bedeutungssteigernden Regelabweichungen, das fehlt dem Oberon völlig, es ist einer Scholastik des Versmaßes geopfert. Der Oberon ist damit wohl der "klassischere" Verstext - der Bessere ist es sicher nicht. Reemtsma sagt dazu: "Klassisch" ist, wenn es der Germanist des 19. Jahrhunderts schreibt und der des 20. Jahrhunderts ihm nachschreibt... (398)
Im vierzehnten Kapitel "Romane (2)" haben Der Nachlass des Diogenes von Sinope, der Goldene Spiegel, dessen Sequel Danischmend und die Geschichte der Abderiten ihren Platz, verhältnismäßig populäre Werke also, aber nicht frei von Missverständnissen in ihrer Rezeption. Besonders zum Goldene Spiegel wird gezeigt, um was für ein "prekäre(s) kommunikative(s) Geschehen" (420) es darin geht, wenn ein Fürst, der "nicht annähernd der ist, der er sein könnte" (ebd.) einem Heranbildungsversuch unterzogen werden soll - prekär für alle Beteiligten.
In "Übersetzungen(2)" geht es um Übertragungen des Horaz, des Lukian von Samosata sowie Aristophanes und Euripides - mit ausblickenden Hinweisen auf das, was später daraus werden sollte: Agathodämon und Aristipp. An dieser Stelle geht es hauptsächlich um die spezifische, formal freie, aber inhaltlich für einen Jahrtausende späteren Leser schlüssigere, erklärendere Übertragung; ein Thema, das im Shakespeare-kapitel bereits einmal angesprochen wurde.
Ich las den Agathon und den Don Sylvio zu Beginn meines Studiums und damals langweilte mich der Agathon sehr und ich kam nur mühsam durch
Das ging mir mit dem Agathon damals auch so, A.Schmidt's Charakterisierung als "hölzern" kann man nachvollziehen. Sehe ich das unter dem Blickwinkel einer durch die Dialoge geformten Erzählung, sieht das schon etwas anders aus. Etwas, zumindest. Im Agathon wird die Entwicklung der tragenden Gedanken durch Dialog vorexerziert, das ist genau das Programm, das in politischen oder sonst weltbetrachtenden Schriften Wielands später immer wiederholt werden wird.
Exerzieren sieht eben etwas hölzern aus, da habe ich auch so meine Erfahrungen.
Weiteres aus Reemtsmas Wieland-Biografie:
Inzwischen ist ziemlich genau die Hälfte des Buchblocks abgearbeitet. Auf jeden Gesichtspunkt kann ich nicht eingehen. Ein paar Dinge, die mir wichtig waren, möchte ich allerdings aufgreifen.
Zunächst – A.Schmidt-Leser werden interessiert sein und damit am ehesten etwas anfangen können – formuliert Reemtsma eine (wohlgesonnene) Kritik an Schmidts Wieland-Rezeption, die eine formale Werkentwicklung entlang der Kategorien Prosaformen (Anekdote, Märchen, Erzählung, Novelle, Roman) – Monologische Erzählung – Gespräch – Briefroman vornimmt. Schmidt hatte das in seinem Radio-Essay so behauptet und eins zu eins in den „Faun“ umgetopft. Reemtsma widerspricht behutsam und begründet seine abweichende Sicht entlang einer inhaltlichen Entwicklungslinie „Wie nehmen wir die Welt wahr? – Wie räsonieren wir über die Art und Weise, wie wir uns in ihr verhalten? Wie sind wir auf dem Standort gelandet, von dem aus wir … dieses so auf- und erfassen?“ Der Unterschied ist meiner Wahrnehmung nach allerdings kleiner, als es den Anschein hat: beide Sichtweisen lassen sich ohne übergroße Mühen miteinander vereinbaren, im werkhistorischen Ergebnis halten sich die Unterschiede in Grenzen. Es könnten durchaus beide in ähnlichem Umfang Recht oder Unrecht haben – von der Möglichkeit einer einfachen Koinzidenz ganz abgesehen.
In den Weg von Biberach über Erfurt nach Weimar fallen einige bedeutende Prosa- und Versdichtungen, insbesondere der Agathon, der Don Sylvio, Der neue Amadis sowie Idris und Zenide. Zum Agathon: meine Wahrnehmung war immer die, dass der Titelheld mindestens ebenbürtigen Widerparts gegenübergestellt wird, die den Kern der Erzählung dialogisch offenlegen; zu einen die Danae, eine offensichtliche Vorläuferin der Lais im Aristipp, zum anderen der weltgewandte Sophist Hippias, nach dem historischen Vorbild des Hippias von Elis. Als besonderen Spin der Dialoge empfand ich es immer, dass Wielands eigene Weltbetrachtung – auf die ich später im Zusammenhang mit der Arbeit im Deutschen Merkur noch eingehe - der des Sophisten wesentlich nähersteht, als dem idealistischen Titelhelden. Jetzt verstehe ich allerdings: der etwas ratlos und verkantet wirkende Abschluss des Romans dürfte hauptsächlich dem Umstand geschuldet gewesen sein, das Buch angesichts der erotischen und libertinären Schlagseite der Diskutanten überhaupt an irgend einer Zensur vorbei drucken und verbreiten zu können.
Es ist kein geringer Verdienst Reemtsmas, eine klare Abgrenzung und Unterscheidung insbesondere zwischen dem Don Sylvio, der gerne als Abklatsch des Don Quixote gesehen wird, und eben diesem zu treffen, die sehr lesenswert ist – inklusive eines geradezu überschwänglichen Lobes für die Eleganz der Sprache. Unter Reemtsmas These einer inhaltlichen Werkentwicklung schließen sich die beiden letzteren – versifizierten – Erzählungen zwanglos an. Insbesondere Idris und Zenide hatte ich, abgesehen vom Genuss des souveränen Gebrauchs italienischer „Stanze“ als Versform, etwas ratlos wahrgenommen, zu mutwillig und zerfahren kam mir die im Flitterwirbel kaum erkennbare Fabel vor. Ich war eher geneigt, das fragmentarisch wirkende Ende zu akzeptieren – bei Jean Paul z.B. gibt es kaum etwas anderes zu lesen, und wenn ich an das angeblich geschlossene Ende des „Titan“ denke… Reemtsma zeigt etwas anderes: die wirklich wirre Märchenerzählung war volle Absicht, sie ist ein ins Überdimensionale gesteigerter Prinz Biribinker. Nicht beabsichtigt, sondern mangels Gelegenheit oder einer Fortsetzungsidee liegengeblieben war hingegen das seltsam unbefriedigende Ende, in dem der Held scheinbar mit einer Ersatzlösung für die gesuchte Geliebte abgespeist wird. Ich habe mir vorgenommen, den Idris unter diesem Eindruck noch einmal zu lesen, schöne Verse schaden ohnehin nie.
Die Bemerkungen über den Weg nach Weimar zur Fürstin Anna Amalia sind eher von historischem Interesse, darin aber auch höchst aufschlussreich, weil sie die beteiligten Personen und ihre zwischen höfischer Etikette und kühler Personalpolitik dieser Zeit sichtbar machen. Werkhistorisch interessanter sind Anmerkungen zu Wielands Opernlibretti und der darin verwirklichten Theorie einer Oper abseits der Großinszenierungen, die sich auch mit den bescheideneren Mitteln kleinerer Herrschaftshäuser realisieren ließen. Und schließlich, dies ist bis hierhin meiner Wahrnehmung nach einer der Glanzpunkte dieser Biografie, die Darstellung der kulturkritischen und politischen Betätigung, hauptsächlich im „Deutschen Merkur“. Der Merkur war ein Forum, auf dem durchaus durcheinander geredet werden durfte – und, das ist der springende Punkt – durcheinander geredet werden sollte. Bloß kein Tendenzblatt! Im Deutschen Merkur war im Klartext das zu lesen, was in den literarischen Werken Wielands immer wieder als Standpunktlosigkeit bemängelt wurde: der Diskurs, die Dialektik sind eben der Standpunkt. Wenn wir zur Lage der Welt – und das bedeutete damals vor allem zur Französischen Revolution – schon keine verbindliche Lösung haben, dann können wir allemal das Beste daraus machen, wenn wir uns vernünftig darüber verständlich machen können.
Auch wer eine Dosis Promi-Klatsch nicht scheut, erhält eine hochinteressante Gesamtschau davon geboten, wie sich die Personen des Weimarer Viergestirns wahrnahmen, verstanden, missverstanden, belauerten, beschrieben - nun, auch die Sterne der Sternbilder am Himmel liegen untereinander in allen Raumdimensionen hunderte und tausende von Lichtjahren voneinander entfernt. Abgesehen von einigem Jugendungestüm (siehe Goethes "Götter, Helden, Wieland") dürfte zumindest der Umgang miteinander respekt- und achtungsvoll abgelaufen sein - aber gefremdelt haben sie schon. Und wer sich fragt, wieso gerade Herder einer der Sterne wurde, erhält eine schlüssige Antwort: kluge Personalpolitik.
Noch etwas, was anscheinend ziemlich gut getroffen war:
Zu den frühen, aber immerhin schon erwachsenen Arbeiten Wielands gehören die "Comischen Erzählungen", in denen die antike griechische Götterwelt in schlüpfrige Händel verstrickt ist, sie werden entsprechend der biberacher Periode früh abgehandelt. Diese kleine Sammlung von Verserzählungen begründete Wielands Ruf als ausgemachter Erotiker, und Reemtsma setzt das in ein angemessenes Verhältnis einerseits zu Wielands ganz früher Lust an platonisch-religiösen Phantastereien, andererseits zu den Verhältnissen der Zeit in den 1760ern. Poetologisch wichtiger ist mir eine phonetische Analyse der Verssprache in den Comischen Erzählungen, aus der einiges gelernt werden kann - und eine Empfehlung, Lyrik im Sinne gebundener Sprache laut zu lesen, damit diese Sprachform ihre klanglichen Möglichkeiten mit allen ihren eingewobenen Bedeutungen ausspielen kann. Genau diese Empfehlung hatte ich in einer Amazon-Besprechung zum "Neuen Amadis" auch abgegeben und fühle mich jetzt geadelt, und überhaupt finde ich Niemanden, der so häufig Recht hätte wie ich, sagte schon Arno Schmidt.
Den Abschluss des Biberacher Kapitels bildet - Musarion, mit längeren veranschaulichenden Zitaten, die in der Tat für sich selbst sprechen, aber auch einer Metapher des Biografen, die es ihrerseits wert ist, zitiert zu werden. Phanias, der Widerpart der Titelheldin, hat sich, verdrossen über die Schlechtigkeit der Welt, zu Beginn der Erzählung bekanntlich in einen zornigen Trübsinn zurückgezogen. Reemtsma beschreibt die Haltung, in der Phanias vor sich hin wandelt so:
wenn es ein Comic wäre, würde man einen Stadtjungen zeichnen, der verärgert eine Blechdose vor sich hin tritt
Dies zur Veranschaulichung, was für einen Lesespaß die Biografie stellenweise bereitet.
Es hat vielleicht mit meiner persönlichen Sicht zu tun, wenn ich dieses Kapitelchen etwas zu kurz geraten finde. Wielands Gesamtwerk stelle ich mir wie eine alte Stadtanlage vor, mit einer Mauer drumherum, die zwei Tore hat: das Eingangstor bildet Musarion, den Ausgang nimmt man (nein, nicht durch den Aristipp, dieser ist das Stadtschloss nebst Parkanlage) durch den Agathodämon. Aber zu dem kommen wir später, viel später.
Bin weiterhin auf deine Leseeindrücke gespannt. Durch dieses Forum angeregt, habe ich mir die Biografie auch zu einem gegebenen Anlass gewünscht und bekommen.
Na gerne doch, einen davon gleich aus Anlass des "Cyrus" und seines Anhangs "Araspes und Panthea".
Ich war ja gelegentlich sündenfällig im Sinne von: Amazon-Rezensionen (was für ein Wort: Rezension, wenn Hinz und Kunz und Diaz Grey sich an Wieland messen!) verfasst, darunter auch zu den genannten zweien. Nach Reemtsmas gelehrten Ausführungen sieht meine persönliche Bilanz gemischt aus. Meine damalige Anmerkung, der Cyrus sei so etwas wie Wielands Version eines gerechten Krieges, mag objektiv gar nicht einmal falsch gewesen sein, subjektiv war das aber eher nicht die Triebfeder des Werks. Bei dem Sequel über Araspes und Panthea (einer der Heerführer des Cyrus nimmt den Auftrag an, die Verlobte des feindlichen, gerade geschlagenen Königs, als Gesellschafter und/oder Aufpasser zu begleiten, mit den besten und lautersten Gesinnungen an, verfällt ihr aber - gegen ihren Willen - mit Haut und Haaren und wird vom Cyrus um seiner - und ihrer - Sicherheit willen verbannt) war meine Einschätzung aber anscheinend schon ziemlich gut.
Herum lag sie schon länger, Reemtsmas Wieland-Biografie, jetzt habe ich mich aufgerafft. Seit einer Woche folge ich dem Lebenslauf von Biberach über Zürich und Bern wieder zurück nach Biberach, finde zunehmenden Gefallen daran, auch wenn die ganz große Werkschau noch etwas hinter Lebens- und Liebesgeschichten einschließlich religiöser und philosophischer Wirrungen zurückstehen muss. Immerhin darf der Leser, der soweit gekommen ist, schon einmal am Cyrus schnuppern.
Das könnte mein schönstes Buch des Jahres werden, falls nicht noch etwas Unerhörtes geschieht. Ein Literaturkonzentrat, wie ich es liebe: nicht ganz 170 Seiten stark, im Hanser-Verlag als Hardcover in angemessenem Leineneinband erschienen, und zwischen den Deckeln ein schwereloses Spiel mit Formen und Inhalten. Kurz: ich bin ganz begeistert.
Die unsichtbaren Städte sind in einem rhythmisierte Prosatext abgefasst, der Aspekten der Stadt und des urbanen Lebens spiegelt. Die neun großen Abschnitte sind in die Rahmenhandlung eines Dialogs zwischen Marco Polo und dem mongolischen Großherrscher Kublai Khan eingefasst. Der venezianische Kaufmann berichtet seinem Gastgeber über Städte, die er auf seinen Reisen durch das Reich des Khans gesehen haben will, um dem Herrscher, wie behauptet wird, eine Vorstellung davon zu geben, was dessen Reich alles umfasst. Im ersten und im letzten Hauptabschnitt sind es jeweils zehn Städte, in den anderen sieben jeweils fünf. Alle tragen seltene und klangvolle Frauennamen, von Adelma bis Zora. Die Berichte sind unterschiedlichen Aspekten zugeordnet (Die Erinnerung, Der Wunsch, Die Zeichen, Der Tausch usw.), keine Stadt wiederholt sich allerdings. Innerhalb der Hauptabschnitte bewegen sich die Überschriften der Aspekte in der Reihenfolge stetig aufwärts, bis sie am oberen Ende angekommen sind, danach scheiden sie aus, und am unteren Ende tritt ein neuer Aspekt auf, ähnlich einem Shepard-Glissando, ein scheinbar unendlich steigender, tatsächlich aber ruhender Akkord.
Anfang und Ende der Hauptteile enthalten jeweils einen auktorialen Blick auf das Gespräch – diese Einschübe dienen nicht nur als Einfallstor philosophischer Reflektion unter den Gesprächspartnern, sie werden vielmehr benötigt, um sowohl dem Leser als auch dem gedachten Khan deutlich zu machen, dass die Berichte nicht als unterhaltsame Märchenerzählungen vorgetragen werden, sondern als allegorische Umschreibungen. Dieses allegorische Dach über allen Einzelberichten lässt dann auch die Aktualität und die Überzeitlichkeit in die Berichte herein: die geschilderten Städte mögen noch so phantastisch und formal in einem altertümlichen Stil konstruiert sein, sie haben so aber auch Platz für verwegene Atavismen – Recyclinghöfe, zum Beispiel. Die Unbefangenheit, mit der Italo Calvino solche Brüche inszeniert, macht dann wohl auch den Unterschied zu den ganz anderen Märchenwelten etwa eines Salman Rushdie aus: Calvino ist (genauer: war) eben ein moderner Europäer, ein grundsätzlich materialistisch denkender Linker, dem aber auch gerade in einem Alterswerk ein riesiger Schatz an Wissen und Formen zur Verfügung stand. Die Berichte des Marco Polo sind folgerichtig auch nicht mystisch aufgeladen, es herrscht wohl Phantasie, aber keinerlei Magie: alles, was in den gedachten Städten erlebt und erlitten wird, ist Folge von Wille und Gesetzmäßigkeit, mag es noch so gewagt konstruiert sein. Alles, was als Allegorie erzählt wird, hat dann aber auch Entsprechungen in realen Stadtlandschaften, deren Erfolgen und deren Scheitern.
Die Übersetzung von Burkhart Kroeber ist schon als deutschsprachiger Text betörend schön, sie schafft es sogar, Rhythmus und einen Teil des Sprachgestus aus dem Italienischen herüberzuretten: nicht das staccatto, das viele mit dieser Sprache assoziieren, sondern ein adagio mit langem Atem.
Mit Ferdydurke liebäugele ich auch, erzähl dann mal!
Mit dem habe ich meinen Gombrowicz auch angefangen - heute denke ich, das war die falsche Reihenfolge. Kosmos oder Pornographie, das wäre zum Einstieg eher etwas, da kannst du leichter studieren, wie diese Art zu schreiben funktioniert. Es ist, so habe ich das mal formuliert, eine Art Antipodie zum magischen Realismus: dieser sucht die okkulten Ausblicke aus der Realität heraus, Gombrowicz kehrt die Perspektive um und schaut aus erratischen Perspektiven auf eine Welt, die natürlich fiktional ist, aber realen Gesetzmäßigkeiten folgt..
(Aus-!)Gelesen: Dietmar Daths „Kalkülroman“ Gentzen.
Das ist ein ordentliches Stück Arbeit, welches Mühe, Ausdauer und Toleranz beansprucht, von der ersten bis zur letzten Seite, knapp unter der 600er Marke.
Dietmar Dath hat eine Vorliebe – Schwäche will ich das nicht nennen – für Mathematik, insbesondere für den Zweig formaler Logik, da ist es naheliegend, einen der bedeutenden Logiker zum Angelpunkt einer längeren Erzählung zu machen. Der Titelgeber Gentzen selbst tritt allerdings nur in sporadischen Anekdoten auf, als Orientierungspunkt, der das Denken und Handeln einiger Protagonisten beeinflusst, in ihrer Eigenschaft als Informatiker. Überhaupt gibt es hier keine stetig ablaufende Fabel, dafür in zeitlichen Sprüngen vorwärts und rückwärts erzählte Fragmente, die sich mit einem anderen zentralen Handlungsstrang, der Suche nach einem „Verschwundenen“, um den Gegenstand des Buchs herum gruppieren: das Versäumen möglicher Lösungen für die ganz großen Probleme, gipfelnd in einer bizarren Zukunftsvision, in der eine anscheinend aus einem Laborexperiment hervorgegangene und durch Schmetterlinge übertragene tödliche Krankheit, die „falschen Farben“, die Menschheit bedroht.
Knapp 600 Seiten, auf 140 Kapitel verteilt, einige etwa 10 Seiten lang, andere eine Viertelseite, eines nur aus einer Zeichnung bestehend, ohne konzise Fabel, stellenweise hochtheoretisch, zwischendurch nicht nur formallogisch, sondern auch hochpolitisch, ohne dass sich am Ende eine Lösung abzeichnete oder auch nur ein Spannungsbogen schlösse: ich sagte es schon, das ist kein Pillow-Book. Wenn Moritz Baßler in seinem Buch über den „Populären Realismus“ zu dessen charakteristischen Eigenschaften die „Bewohnbarkeit“ der Erzählung zählt, dann ist „Gentzen“ etwa so bewohnbar wie eine Tischlerwerkstatt.
Trotzdem: es gibt wenige Bücher aus der jüngeren Zeit, die ich mit mehr Gewinn gelesen habe. Mit der Auflösung üblicher (nicht etwa „traditioneller“) Erzählstrukturen komme ich zurecht, Daths orthodoxen Kommunismus muss ich nicht teilen, das Buch funktioniert auch ohne ihn. Die virtuose Collagetechnik kreuz und quer über die Zeitachse ist hat schon ihren Reiz, ebenso die Annäherung an das Zentralthema von einer ungewohnten Seite, der mathematisch-logischen Durchdringung, her. Und noch etwas steht außer Frage: die immense sprachliche Qualität. Damit meine ich weniger die – manchmal etwas mühsam lesbaren – fotorealistischen Dialoge, in denen dem Leser die Stammeleien, die unvollständigen und verqueren Sätze der Umgangssprache, nicht erspart bleiben. Ich meine solch altmodische Dinge wie Bilder, Metaphern, Satzbildungen, denen man die Sorgfalt und die Originalität des Verfassers ansieht.
Wenn es ein Fazit sein soll: special interest, dort aber lohnend.
Das Sachbuch von RIchard David Precht und Harald Welzer: Die vierte Gewalt
habe ich gerade zu Ende gelesen. Eine pointierte und gut begründete Erklärung für das Unbehagen, das viele von uns und in unserer Gesellschaft gegenüber dem informativen Journalismus, sei es in den Printmedien, sei es im Funk und Fernsehen, selbst im öffentlich-rechtlichen, überfällt. Hier geht es nicht um Fake News
und alternative Fakten, sondern darum, dass sich der Journalismus aus sozialen und ökonomischen Gründen immer mehr an den Themen und der Darstellungsweise der Direktmedien orientiert, dadurch an Macht gegenüber der Politik gewinnt, aber seine eigentliche Funktion der Aufklärung und Grundlagengebung für eine breite und diversifizierte öffentliche Diskussion immer mehr vernachlässigt. Selten polemisch, immer faktenorientiert und sauber argumentierend stellen die Autoren diese Entwicklung in vielen Facetten und an den zentralen Themen der letzten Jahre dar.
Sehr lesenswert!
Halten zu Gnaden, aber diese Einschätzung teile ich nicht. Lesenswert, das vielleicht, aber nicht als Erkenntnisquelle über den Gegenstand, vielmehr für die Machart.
Es ist ein Pamphlet, und das wird von einem der Mitautoren auf einer Podiumsdiskussion auch frank und frei eingeräumt: Harald Welzer meinte, das Buch beanspruche gar nicht, dass alle Behauptungen darin zuträfen, es beanspruche nur, zu einem so großen Anteil richtig zu sein, wie die Bahn pünktlich ist. Das wären dann etwa 80 %. Saubere Recherche stelle ich mir anders vor.
Richard David Precht meinte auf den Vorhalt, - zweifelhafte - Zahlen aus der Luft gegriffen zu haben, ganz lässig: das Buch sei ja keine empirische Studie. Das ist genau der dreifache Sarazin ohne Netz, wie wir ihn kennen und durchaus nicht schätzen.
A propos Empirie: Precht und Welzer hatten versprochen, dass eine genauere Studie im Dezember 2022 folgen solle - aha, und es wäre nicht möglich gewesen, den Dezember abzuwarten, das Buch musste unbedingt schon im September auf den Markt? - Ja, musste es, sonst wäre die Buchmesse schon gelaufen gewesen. Schließlich hätte die Studie die Behauptungen im Buch womöglich gar nicht stützen können.
Darüber muss man auch nicht mehr mutmaßen, die Studie liegt vor. Die in die Debatte geworfenen Zahlen haben sich wohl nicht bestätigen lassen, aber als Narrativ stehen sie erst einmal in der öffentlichen Wahrnehmung, wie gesagt: ein klassischer Sarrazin, der machte das genau so. Das Fazit: gut, dass mal drüber geredet wird - aber das geschieht sowieso schon ständig. In der Mainstream-Medienlandschaft.
Es gibt literarische Texte, bei deren Abfassung man keine Mathefehler machen kann, weil keine Mathe drin vorkommt. Aber spätestens bei Texten, bei deren Grammatik man keine Fehler machen kann, weil keine Grammatik drin vorkommt, wird mir übel.
Dietmar Dath, Gentzen oder: Betrunken aufräumen, S. 43
Dietmar Dath: Gentzen oder: Betrunken aufräumen. Kalkülroman
Definitiv kein Pillow-Book. Mit Kalkül ist hier nicht so etwas wie eine psychologisierende Einschätzungsgeschichte gemeint, sondern genau ein mathematisches Kalkül, um die Lebensgeschichte des deutschen Mathematikers Gerhard Gentzen herum geschrieben, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsvision, mit mancherorts prominenter Personenbesetzung - Frank Schirrmacher kommt darin vor, Jeff Bezos ("Geldheini") und unter Weiteren auch Diethmar Dath ("Unfertige Idee") . Dath ist mindestens so mathematikaffin, wie Enzensberger es war, im Gegensatz zu diesem macht er daraus aber nicht nur ein intellektuelles Spiel (oder ein Stilisierungselement wie gelegentlich bei A. Schmidt), sondern wirft die Frage auf, was mit Mitteln des mathematisch-logischen Kalküls und Wahrscheinlichkeitsabschätzungen über unsere Welt herausgefunden oder prognostiziert werden kann, und von da aus zur Frage von Wahrheitswahrnehmungen, der Unterscheidung von wahren und unwahren Sätzen - und grundsätzlich zu der Frage, wieso davon niemand an gesellschaftlich relevanten Stellen davon Gebrauch zu machen scheint. Das ist ziemlich hartes Material, gelegentlich mache ich mir Skizzen ähnlich wie Flussdiagramme. Noch komme ich einigermaßen mit.
Die beiden Romane knüpfen inhaltlich aneinander an, ohne allerdings eine Fortsetzungsgeschichte zu erzählen, weder formal noch inhaltlich. Der zeitliche Abstand, in dem erzählt wird, beträgt gut 25 Jahre, der Autor erzählt beides aus der Ich-Perspektive, aber Faserland, der ältere Text, wird in genau dem unklaren Verhältnis von Autobiografie und Autofiktion aufgegriffen, der beide Bücher durchzieht: eben als ein von einem Stefan Kracht geschriebener Roman, so wie Eurotrash selbst auch.
Faserland ist eine im Präsens, fast tagebuchartig, geschilderte Beschreibung einer Reise von Sylt zum Bodensee und weiter in die Schweiz, mit mehreren Stationen entlang der Route, auf denen Eindrücke über das Deutschland zum Ende der DM-Ära aufgesammelt werden. Eingearbeitet sind in der Vergangenheitsform Erinnerungen und Reflexionen hauptsächlich aus der Familiengeschichte. Tatsächlich war, wie hier geschildert, der Vater von Stefan Kracht ein enger persönlicher Vertrauter und Bevollmächtigter von Axel Springer und brachte es so zu beträchtlichem Wohlstand und zu einem illustren Bekanntenkreis. Ob beides allerdings die sagenhaften Ausmaße annahm, die die materielle Sorglosigkeit des Erzählers und damit einen Teil der Erzählung trägt, gehört eher in die Grauzone zwischen Autobiografie und Autofiktion ebenso wie die Darstellung der Vorfahren, insbesondere eines Großvaters, auf der mütterlichen Seite, der mit einer handfesten Nazi-Biografie ausgestattet wird, die dann in Eurotrash noch etwas weiter ausgeführt wird. Alle Stationen der Reise liegen entlang einer ziemlich geraden Route nach Süden, die neuen Bundesländer werden nicht einmal tangiert, weder praktisch noch auch nur in Gedanken; ich denke nicht, dass das heute noch einmal so geschrieben würde, selbst Berlin kommt nicht vor, stattdessen Heidelberg. Gegen Ende des Romans träumt der Autor davon, seinen – künftig vielleicht existierenden Kindern in der Schweiz das große Nachbarland im Norden als eine Art hochfunktionale Maschine zu erklären, dessen seelische Verlassenheit ein Existieren darin so schwer erträglich macht.
An dieser Stelle scheint mir ein erzählerischer Bruch vorzuliegen, denn dieses Fazit ergibt sich eigentlich nicht aus den Reiseerlebnissen. Das, was die Maschinenhaftigkeit ausmachen könnte, spielt in der Reiseerzählung kaum eine Rolle, die Begegnungen mit der Mechanik des vor sich hin arbeitenden Gesellschaftsapparats bleiben marginal. Der Schwerpunkt der Erzählung liegt ganz woanders – und weist über das Pop-Genre eigentlich schon hinaus. Die Reisestationen bestehen aus kurzen Übernachtungs-( und Übernächtigungs-) Aufenthalten meist bei alten Bekanntschaften, die, wie der Erzähler selbst in materiell sorglosen Verhältnissen, sich ihr Leben in einem ratlosen Hedonismus eingerichtet haben, in einer Art permanentem, von Drogen und Alkohol getragenen Mischzustand aus Party und Dämmerschlaf. Dort, wo ein Pop-Bewusstsein gelebt werden könnte, wird die Möglichkeit offenbar vertan. Ganz am Ende steht eine Art Aufatmen nach der Ankunft in der Schweiz, mit einem nächtlichen Versuch, das Grab von Thomas Mann ausfindig zu machen; dieser Exkurs und mit ihm der Roman endet in einem Ruderboot mitten auf dem Zürichsee.
Eher nicht mehr einem wie auch immer zu definierenden Pop-Genre zuzurechnen ist das späte Sequel Eurotrash, dazu ist es schon viel zu „sophisticated“, eine in einem Wort exakt synonyme deutsche Vokabel fällt mir gerade nicht ein. Die Ich-Perspektive des Erzählers Kracht (der sich gegenüber Randfiguren der Erzählung gerne mit dem Namen Daniel Kehlmann vorstellt, ein nicht minder sophisticated Scherz) ist unverändert, auch die Familienbiografie schreibt sich fort, bis in persönliche Missbrauchsgeschichten hinein Die Mischung aus Autobiografie und Autofiktion, die aus der biografischen in die gerade erzählte Geschichte übergreift, übernimmt eine beherrschende Rolle, ist aber jetzt vielschichtiger geworden – ganz aktuell ist sie stellenweise dort, wo es im Textdialog um die Vermischung von Tatsachen und haltlosen oder geradewegs falschen Tatsachenbehauptungen geht. Ohne Weiteres verflogen ist allerdings das Wohlbefinden an der Schweiz, mit der Faserland noch endete: ob die Bundesrepublik Deutschland oder die Bünzlirepublik Schweiz die bessere Wahl ist, ist nicht mehr ganz ausgemacht.
Äußerlich beschreibt Eurotrash eine Rundreise von etwa 600 Kilometern, die Kracht mit dem Taxi durch die Westschweiz unternimmt, zusammen mit seiner der Altersdemenz , dem Alkohol und Medikamenten verfallenen Mutter, auf der Suche nach einer persönlichen Annäherung, allerdings auch unter der Vorspiegelung einer Reise nach Afrika – die ganz am Ende dann auch angetreten wird, allerdings nur in der dementen Wahrnehmung der Mutter, tatsächlich ist das Hotel, in dem sie von einer afrikanischen Betreuerin empfangen wird, nichts anderes als ein Pflegeheim in der Nähe von Zürich. Die verstehende Annäherung zwischen dem Erzähler und seiner greisen Mutter zumindest ist am Ende gelungen.
Eurotrash hat einen viel weiteren Horizont als Faserland, Zitate und offenbar bewusst verfremdete Zitate und Bezüge aus weit verstreuten Quellen werden erkennbar, manche kenntlich gemacht, andere nicht. Die Grenzüberschreitungen zwischen biografischer Realität und Fiktion werden in „Geschichten“ nochmals gespiegelt, die die Mutter von ihrem Sohn erzählt haben möchte. Und überhaupt: der Roman hat insbesondere in den Dialogen stelleweise norme Qualität, statt des popaffinen, bis zur bloßen Geschwätzigkeit realistischen Sprech. Eurotrash ist ohne Weiteres das stärkere Buch, es lässt sich nur ohne Faserland nicht voll erfassen.
Was es zu bedeuten hat, dass der Erzähler am Ende von Faserland das Grab von Thomas Mann auf dem Friedhof von Kilchberg am Zürichsee bei einem nächtlichen Besuch nicht finden kann, am Ende von Eurotrash hingegen zusammen mit seiner Mutter das Grab von José Louis Borges auf dem Friedhof von Genf findet, darüber muss ich noch einmal nachdenken.
Verstößt es gegen den comment, hier einen Witz zu zitieren? Er stammt aus prominenter Feder, und bevor ich später den Urheber und die Fundstelle verrate, darf geraten werden:
Oben auf dem Felsvorsprung sitzt der Adler, fragt ihn der Falke, was er da mache, ich lockere, und wie? Na so, wumm und weg vom Felsvorsprung und runter im Sturzflug, runter, runter und im letzten Moment wumm und wieder rauf. Sitzt der Adler mit dem Falken auf dem Felsvorsprung, was macht ihr, fragt der Fuchs. Wir lockern. Kann ich mit Euch lockern? Na klar, wumm alle drei runter im Sturzflug. Du, Fuchs, fragt der Adler, kannst du fliegen? Nein, kann ich nicht. Wendet sich der Adler zum Falken: Huh, ist der locker!
Der sich das traute - er traute sich ja auch sonst eine ganze Menge - war Péter Esterhazy. Die Stelle findet sich in "Verbesserte Ausgabe", übersetzt von Hans Skirecki. An Ort und Stelle ist das aber mehr als nur eine alberne Einlage: Esterhazy selbst ist gewissermaßen der Fuchs dieses Witzes. Die Szene spielt in dem Amt, in dem er jetzt gleich Einsicht in die über ihn und seine Verwandten geführten Dossiers der Ávo, des kommunistischen Geheimdienstes, nehmen wird. Esterhazy gibt sich im Umgang mit der angestellten Historikerin zunächst betont "locker" - bevor er den Akten entnehmen muss, dass sein Vater, der "Meinvater" seines Opus Maximus "Harmonia Celestis", Berichte über seine Familie erstellte. Die "Harmonia" wurde zu diesem Zeitpunkt gerade angedruckt. Esterhazy ließ die väterliche Hommage gleichwohl in die Welt hinaus, schob aber die sogenannte "Verbesserte Ausgabe" nach, in der es ausschließlich um Zitate aus den Dossiers und die Wirkung auf den Autor geht.
»Ein ungelesenes Buch sträubt sich mitunter gegen das Gelesenwerden. Der ungelesene Inhalt stemmt sich über die erste Seite hinaus dem Leser entgegen. Man muß den Widerstand brechen (es gibt auch andere, sozusagen feile und geile Bücher, die den Leser ansaugen; ob das die besseren sind, ist noch die Frage), man muß eine Bresche schlagen, das Vertrauen der ersten Seiten gewinnen, die dann, wenn sie einmal beruhigt und mit ihrem Schicksal, gelesen zu werden, zufrieden hinter einem liegen und einem den Rücken stärken, den Leser den weiter hinten liegenden Seiten als harmlos und ungefährlich weiterempfehlen. Und wenn man einmal die Mitte des Buches überschritten hat, fühlt man sogar einen leisen Druck in den Rücken. Die letzten Kapitel, die letzten Seiten weichen zurück, zur Seite, das Buch will den Leser nach hinten loswerden, verdaut haben oder absondern, so daß es sich wieder schließen und seine Wunde vernarben kann. ...«
Herbert Rosendorfer, Großes Solo für Anton (Diogenes, Zürich 1981, S. 111 f.)
Na, das ist schon eine sehr persönliche Sicht der Dinge, geradewegs eine Temperamentsfrage. Den einen zieht es die Berge hinauf, den anderen nicht. Wenn ich möchte, könnte ich das Zitat auch in sportlichem Sinne umschreiben und müsste dabei nur ein paar Wörter austauschen, etwa so:
»Eine unbewältigte Steigung sträubt sich mitunter gegen das Hinauffahren. Der ungefahrene Pass stemmt sich über die erste Steilrampe hinaus dem Fahrer entgegen. Man muss den Widerstand brechen (es gibt auch andere, sozusagen feile und geile Touren, die den Fahrer ansaugen; ob das die besseren sind, ist noch die Frage), man muss eine Bresche schlagen, das Vertrauen der ersten Höhenmeter gewinnen, die dann, wenn sie einmal beruhigt und mit ihrem Schicksal, erklommen zu werden, zufrieden hinter einem liegen und einem den Rücken stärken, den Fahrer den weiter hinten liegenden Höhenmetern als harmlos und ungefährlich weiterempfehlen. Und wenn man einmal die Mitte des Passes überschritten hat, fühlt man sogar einen leisen Druck in den Rücken. Die letzten Kilometer, die letzten Höhenmeter weichen zurück, zur Seite, der Berg will den Fahrer nach oben loswerden, verdaut haben oder absondern, so daß er sich wieder schließen und seine Wunde vernarben kann. ...«
Bergaffine Radler kennen und suchen genau das.
Nein, im Ernst: diejenigen Bücher, die mich wirklich nachhaltig beeindruckten, waren solche, die mich von der ersten Seite an einsogen. Auch wenn die Aufstiege Arbeit kosteten.
Ganz neu gelesen: Leben des berühmten Kaisers Abraham Tonelli
ZitatIch fühlte bald, daß ich zu größeren Dingen bestimmt sein müßte, denn ich merkte keinen besonderen Trieb zur Arbeit in mir
Wir hatten kürzlich Aspekte mehr oder weniger rätselhafter Schriften von Ludwig Tieck thematisiert, es ging da um Sinn und tiefere Bedeutung des „Gestiefelten Kater“. Ich nahm mir das zum Anlass, einmal nach anderen seiner Schriften zu schauen, die ich noch nicht kannte – keine allzu anspruchsvolle Aufgabe bei einem viel und divers schreibenden Autor wie Tieck, da findet man auch als Vertrauter immer noch etwas. Fündig wurde ich bei der Tredition-Ausgabe der fiktiven Autobiografie des Abraham Anton, den es zunächst als „Tonerl“ durch die Welt verschlägt und der am Ende einen Aufstieg vom Schneiderlehrling zum Herrscher „Tonelli“ des Kaiserreichs Aromata vollzieht.
Das könnte ohne Weiteres der Stoff für eine recht konzise Geschichte sein, ist es aber nicht. Das Tonerl durchläuft eine innerlich völlig zusammenhanglose Abfolge von Abenteuern auf minimalem erzählerischem Level, mit lauter extrem kurzen und willkürlich aufgebauten Spannungsbögen, die die gesamte Geschichte von gut 60 Seiten eben nicht zusammenhalten, sondern zersplittern. Auf das, was zuvor berichtet wurde, kommt es später nie mehr an. Es treten auf eine verhexte Katze, der Teufel persönlich, allerlei Spitzbuben, von denen der größere Teil irgendwann aufgehängt wird, verzauberte Steine und Perlen mit der Fähigkeit, alles in Gold zu verwandeln, jede Menge vergrabene Schätze, wiederum teilweise von besagtem Teufel für das Tonerl organisiert, finstere Spelunken mit überwollenden Poltergeistern, und es ist alles ganz wirr. Mehrmals steigt das Tonerl in höchste Ränge und Reichtümer auf, landet dann aber Knall auf Fall wieder in der Gosse, bis die nächste Aufstiegsgeschichte ihren mehr oder minder magischen Lauf nimmt, Hauptsache, es gibt dabei stets genug zu essen und zu trinken. Erst auf den allerletzten Seiten erwirbt er die Gunst des amtierenden Kaisers – durch einen kriegerischen Erfolg, über den der Leser gerade einmal einen Halbsatz erfährt. Durch Anheirat einer kaiserlichen Tochter wird er nun Kaiser Tonelli. Ende und Einband.
Der ganze Text ist erzählerisch so grottenhaft, dass dieser Schriftsteller ihn unmöglich ernst gemeint haben kann. Trotzdem ist es für Nicht-Literaturhistoriker extrem schwer herauszufinden, was das eigentlich zu bedeuten hat, und insofern ist es schwerer zu entschlüsseln, als etwa die übermütigen Schauspiele von Gestiefelten Kater oder vom Ritter Blaubart oder auch als die Verkehrte Welt, und erst recht schwerer als die an identifizierbaren Personen orientierten Schriften wie Die Vogelscheuche. Ich vermute einmal, dass dieser Text eine bestimmte Art der Unterhaltungsliteratur seiner Zeit aufs Korn nimmt. Ähnliche Macken sind dem reinen Unterhaltungsgenre auch unserer Zeit ja nicht ganz fremd, nur eben nicht in der absurden Übersteigerung, wie sie hier im Dienst der Satire steht.
Nur schemenhaft treten Bezüge auf, die sich konkret zuordnen lassen könnten: einmal leise Anspielungen auf Goethens Faust und seinen Pakt mit dem Teufel – und eine Szene, die von Ferne an Auerbachs Keller erinnert – dann trägt der Kaiser, den der gedachte Autobiograf beerbt, einige (aber wirklich nur einige) Züge von Friedrich II. von Preußen. Ja, und folgendes Zitat nimmt ziemlich offen den Philosophen Johann Gottlieb Fichte aufs Korn:
ZitatIch verfiel oft auf den Idealismus und stellte mir vor, alle diese Wirklichkeit sei nur meine überaus närrische Einbildung; denn ich habe seitdem in Büchern gelesen, dass es wirklich Leute gegeben hat, die ganz allein in der Welt für sich existiert haben, und um die sich alles Übrige in der Welt nur so gleichsam in ihrer Einbildungskraft bewegt hat. Verfiel dazumal in diese gefährliche Irrlehre und meinte, ich könnte vielleicht zu dieser sonderbaren Sekte gehören…
(2. Abschnitt, 1.Kapitel)
Habe ich die Lektüre bereut? Nein, natürlich nicht, sie fügt dem Bild des Ludwig Tieck einen neuen Pinselstrich hinzu.
Ach ja, noch eines: Die Tredition-Büchlein sind wohl eine verdienstvolle Sache, die editorische Behandlung haben die Texte aber nicht verdient. Gut, hier gab es im eigentlichen Text nichts auszusetzen, zumindest keine sinnentstellenden Übertragungs- oder Satzfehler. Nach wie vor nichts geändert hat er Verlag an der unfassbaren Schlamperei auf einem Vorsatzblatt, auf dem etwa 200 Autorennamen in unterschiedlichen Schriftgraden und ohne erkennbare Ordnung aufgezählt sind: Tucholsky steht oben links, Korolenko unten rechts, Darwin, Melville und Aristoteles selbdritt in der Mitte, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass vier Namen falsch geschrieben sind: Fonatne, Trackl, Ipsen (es gibt einen Staatsrechtslehrer dieses Namens, aber der ist nicht gemeint) und Petalozzi.
Peinlich.
Der späte Tieck ist ja im Grunde genommen bereits dem Realismus zuzurechnen, finde ich.
Der William Lovell ist mindestens so realistisch-skeptisch wie ein "später" Tieck, aber keineswegs ein Alterswerk. Tieck beherrschte zu allen Zeiten viele Genres - und hatte ein ziemlich gutes Näschen für die jeweilige Nachfrage.
Das erinnert mich daran, dass ich dieses Jahr eigentlich "Vittoria Accorombona" lesen wollte. Die Listen hab ich völlig aus den Augen verloren. Na ja, das Jahr ist ja noch nicht vorbei.
Nun ja, die fällt etwas aus der Reihe - das ist ein ziemlich ernstes und düsteres, ganz und gar nicht übermütiges Stück Historienroman, voll von mörderischen Intrigen (und einem frappierend erotisch konnotierten, blutigen Schlusseffekt, den ich aber hier nicht verraten möchte), das auf seine Weise ganz gut neben den Briefroman William Lovell passt.
@ Jaqui:
Für solche Dinge wie diesen Gestiefelten Kater hat jemand das Wort Dekonstruktion erdacht.
Nein, im Ernst: historisch stammt das Stück aus einer Zeit, in der ein Herr Gottsched im Namen der Aufklärung eine "Regelpoetik" erdachte, der dann wiederum einige wirklich entsetzlich quadratische Dinge wie etwa sein Theaterstück "Der sterbende Cato" entsprangen. Es gehörte zum Wesenskern der Romantiker, dem etwas bis absolut Anderes entgegenzusetzen. Darin liegt so etwas wie ein "Sinn" von solchen Stücken wie Tiecks Gestiefeltem Kater, aber beispielsweise auch von seinem nicht minder skurrilen "Ritter Blaubart" und seinem Prosa-Gegenstück "Die sieben Weiber des Blaubart" - beides wirklich erstaunliche Grenzgänge zwischen tiefgründigen Sinnbezügen, rauschhafter Poesie und hemmungsloser Albernheit.
Also ich hatte meinen Spaß daran.