Ludwig Tieck

  • @ Jaqui:


    Für solche Dinge wie diesen Gestiefelten Kater hat jemand das Wort Dekonstruktion erdacht.


    Nein, im Ernst: historisch stammt das Stück aus einer Zeit, in der ein Herr Gottsched im Namen der Aufklärung eine "Regelpoetik" erdachte, der dann wiederum einige wirklich entsetzlich quadratische Dinge wie etwa sein Theaterstück "Der sterbende Cato" entsprangen. Es gehörte zum Wesenskern der Romantiker, dem etwas bis absolut Anderes entgegenzusetzen. Darin liegt so etwas wie ein "Sinn" von solchen Stücken wie Tiecks Gestiefeltem Kater, aber beispielsweise auch von seinem nicht minder skurrilen "Ritter Blaubart" und seinem Prosa-Gegenstück "Die sieben Weiber des Blaubart" - beides wirklich erstaunliche Grenzgänge zwischen tiefgründigen Sinnbezügen, rauschhafter Poesie und hemmungsloser Albernheit.


    Also ich hatte meinen Spaß daran.

  • Das erinnert mich daran, dass ich dieses Jahr eigentlich "Vittoria Accorombona" lesen wollte. Die Listen hab ich völlig aus den Augen verloren. Na ja, das Jahr ist ja noch nicht vorbei.

    Nun ja, die fällt etwas aus der Reihe - das ist ein ziemlich ernstes und düsteres, ganz und gar nicht übermütiges Stück Historienroman, voll von mörderischen Intrigen (und einem frappierend erotisch konnotierten, blutigen Schlusseffekt, den ich aber hier nicht verraten möchte), das auf seine Weise ganz gut neben den Briefroman William Lovell passt.

  • Der späte Tieck ist ja im Grunde genommen bereits dem Realismus zuzurechnen, finde ich.

    Der William Lovell ist mindestens so realistisch-skeptisch wie ein "später" Tieck, aber keineswegs ein Alterswerk. Tieck beherrschte zu allen Zeiten viele Genres - und hatte ein ziemlich gutes Näschen für die jeweilige Nachfrage.

  • Ganz neu gelesen: Leben des berühmten Kaisers Abraham Tonelli


    Zitat

    Ich fühlte bald, daß ich zu größeren Dingen bestimmt sein müßte, denn ich merkte keinen besonderen Trieb zur Arbeit in mir


    Wir hatten kürzlich Aspekte mehr oder weniger rätselhafter Schriften von Ludwig Tieck thematisiert, es ging da um Sinn und tiefere Bedeutung des „Gestiefelten Kater“. Ich nahm mir das zum Anlass, einmal nach anderen seiner Schriften zu schauen, die ich noch nicht kannte – keine allzu anspruchsvolle Aufgabe bei einem viel und divers schreibenden Autor wie Tieck, da findet man auch als Vertrauter immer noch etwas. Fündig wurde ich bei der Tredition-Ausgabe der fiktiven Autobiografie des Abraham Anton, den es zunächst als „Tonerl“ durch die Welt verschlägt und der am Ende einen Aufstieg vom Schneiderlehrling zum Herrscher „Tonelli“ des Kaiserreichs Aromata vollzieht.


    Das könnte ohne Weiteres der Stoff für eine recht konzise Geschichte sein, ist es aber nicht. Das Tonerl durchläuft eine innerlich völlig zusammenhanglose Abfolge von Abenteuern auf minimalem erzählerischem Level, mit lauter extrem kurzen und willkürlich aufgebauten Spannungsbögen, die die gesamte Geschichte von gut 60 Seiten eben nicht zusammenhalten, sondern zersplittern. Auf das, was zuvor berichtet wurde, kommt es später nie mehr an. Es treten auf eine verhexte Katze, der Teufel persönlich, allerlei Spitzbuben, von denen der größere Teil irgendwann aufgehängt wird, verzauberte Steine und Perlen mit der Fähigkeit, alles in Gold zu verwandeln, jede Menge vergrabene Schätze, wiederum teilweise von besagtem Teufel für das Tonerl organisiert, finstere Spelunken mit überwollenden Poltergeistern, und es ist alles ganz wirr. Mehrmals steigt das Tonerl in höchste Ränge und Reichtümer auf, landet dann aber Knall auf Fall wieder in der Gosse, bis die nächste Aufstiegsgeschichte ihren mehr oder minder magischen Lauf nimmt, Hauptsache, es gibt dabei stets genug zu essen und zu trinken. Erst auf den allerletzten Seiten erwirbt er die Gunst des amtierenden Kaisers – durch einen kriegerischen Erfolg, über den der Leser gerade einmal einen Halbsatz erfährt. Durch Anheirat einer kaiserlichen Tochter wird er nun Kaiser Tonelli. Ende und Einband.


    Der ganze Text ist erzählerisch so grottenhaft, dass dieser Schriftsteller ihn unmöglich ernst gemeint haben kann. Trotzdem ist es für Nicht-Literaturhistoriker extrem schwer herauszufinden, was das eigentlich zu bedeuten hat, und insofern ist es schwerer zu entschlüsseln, als etwa die übermütigen Schauspiele von Gestiefelten Kater oder vom Ritter Blaubart oder auch als die Verkehrte Welt, und erst recht schwerer als die an identifizierbaren Personen orientierten Schriften wie Die Vogelscheuche. Ich vermute einmal, dass dieser Text eine bestimmte Art der Unterhaltungsliteratur seiner Zeit aufs Korn nimmt. Ähnliche Macken sind dem reinen Unterhaltungsgenre auch unserer Zeit ja nicht ganz fremd, nur eben nicht in der absurden Übersteigerung, wie sie hier im Dienst der Satire steht.


    Nur schemenhaft treten Bezüge auf, die sich konkret zuordnen lassen könnten: einmal leise Anspielungen auf Goethens Faust und seinen Pakt mit dem Teufel – und eine Szene, die von Ferne an Auerbachs Keller erinnert – dann trägt der Kaiser, den der gedachte Autobiograf beerbt, einige (aber wirklich nur einige) Züge von Friedrich II. von Preußen. Ja, und folgendes Zitat nimmt ziemlich offen den Philosophen Johann Gottlieb Fichte aufs Korn:


    Zitat

    Ich verfiel oft auf den Idealismus und stellte mir vor, alle diese Wirklichkeit sei nur meine überaus närrische Einbildung; denn ich habe seitdem in Büchern gelesen, dass es wirklich Leute gegeben hat, die ganz allein in der Welt für sich existiert haben, und um die sich alles Übrige in der Welt nur so gleichsam in ihrer Einbildungskraft bewegt hat. Verfiel dazumal in diese gefährliche Irrlehre und meinte, ich könnte vielleicht zu dieser sonderbaren Sekte gehören…

    (2. Abschnitt, 1.Kapitel)


    Habe ich die Lektüre bereut? Nein, natürlich nicht, sie fügt dem Bild des Ludwig Tieck einen neuen Pinselstrich hinzu.


    Ach ja, noch eines: Die Tredition-Büchlein sind wohl eine verdienstvolle Sache, die editorische Behandlung haben die Texte aber nicht verdient. Gut, hier gab es im eigentlichen Text nichts auszusetzen, zumindest keine sinnentstellenden Übertragungs- oder Satzfehler. Nach wie vor nichts geändert hat er Verlag an der unfassbaren Schlamperei auf einem Vorsatzblatt, auf dem etwa 200 Autorennamen in unterschiedlichen Schriftgraden und ohne erkennbare Ordnung aufgezählt sind: Tucholsky steht oben links, Korolenko unten rechts, Darwin, Melville und Aristoteles selbdritt in der Mitte, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass vier Namen falsch geschrieben sind: Fonatne, Trackl, Ipsen (es gibt einen Staatsrechtslehrer dieses Namens, aber der ist nicht gemeint) und Petalozzi.


    Peinlich.