Die beiden Romane knüpfen inhaltlich aneinander an, ohne allerdings eine Fortsetzungsgeschichte zu erzählen, weder formal noch inhaltlich. Der zeitliche Abstand, in dem erzählt wird, beträgt gut 25 Jahre, der Autor erzählt beides aus der Ich-Perspektive, aber Faserland, der ältere Text, wird in genau dem unklaren Verhältnis von Autobiografie und Autofiktion aufgegriffen, der beide Bücher durchzieht: eben als ein von einem Stefan Kracht geschriebener Roman, so wie Eurotrash selbst auch.
Faserland ist eine im Präsens, fast tagebuchartig, geschilderte Beschreibung einer Reise von Sylt zum Bodensee und weiter in die Schweiz, mit mehreren Stationen entlang der Route, auf denen Eindrücke über das Deutschland zum Ende der DM-Ära aufgesammelt werden. Eingearbeitet sind in der Vergangenheitsform Erinnerungen und Reflexionen hauptsächlich aus der Familiengeschichte. Tatsächlich war, wie hier geschildert, der Vater von Stefan Kracht ein enger persönlicher Vertrauter und Bevollmächtigter von Axel Springer und brachte es so zu beträchtlichem Wohlstand und zu einem illustren Bekanntenkreis. Ob beides allerdings die sagenhaften Ausmaße annahm, die die materielle Sorglosigkeit des Erzählers und damit einen Teil der Erzählung trägt, gehört eher in die Grauzone zwischen Autobiografie und Autofiktion ebenso wie die Darstellung der Vorfahren, insbesondere eines Großvaters, auf der mütterlichen Seite, der mit einer handfesten Nazi-Biografie ausgestattet wird, die dann in Eurotrash noch etwas weiter ausgeführt wird. Alle Stationen der Reise liegen entlang einer ziemlich geraden Route nach Süden, die neuen Bundesländer werden nicht einmal tangiert, weder praktisch noch auch nur in Gedanken; ich denke nicht, dass das heute noch einmal so geschrieben würde, selbst Berlin kommt nicht vor, stattdessen Heidelberg. Gegen Ende des Romans träumt der Autor davon, seinen – künftig vielleicht existierenden Kindern in der Schweiz das große Nachbarland im Norden als eine Art hochfunktionale Maschine zu erklären, dessen seelische Verlassenheit ein Existieren darin so schwer erträglich macht.
An dieser Stelle scheint mir ein erzählerischer Bruch vorzuliegen, denn dieses Fazit ergibt sich eigentlich nicht aus den Reiseerlebnissen. Das, was die Maschinenhaftigkeit ausmachen könnte, spielt in der Reiseerzählung kaum eine Rolle, die Begegnungen mit der Mechanik des vor sich hin arbeitenden Gesellschaftsapparats bleiben marginal. Der Schwerpunkt der Erzählung liegt ganz woanders – und weist über das Pop-Genre eigentlich schon hinaus. Die Reisestationen bestehen aus kurzen Übernachtungs-( und Übernächtigungs-) Aufenthalten meist bei alten Bekanntschaften, die, wie der Erzähler selbst in materiell sorglosen Verhältnissen, sich ihr Leben in einem ratlosen Hedonismus eingerichtet haben, in einer Art permanentem, von Drogen und Alkohol getragenen Mischzustand aus Party und Dämmerschlaf. Dort, wo ein Pop-Bewusstsein gelebt werden könnte, wird die Möglichkeit offenbar vertan. Ganz am Ende steht eine Art Aufatmen nach der Ankunft in der Schweiz, mit einem nächtlichen Versuch, das Grab von Thomas Mann ausfindig zu machen; dieser Exkurs und mit ihm der Roman endet in einem Ruderboot mitten auf dem Zürichsee.
Eher nicht mehr einem wie auch immer zu definierenden Pop-Genre zuzurechnen ist das späte Sequel Eurotrash, dazu ist es schon viel zu „sophisticated“, eine in einem Wort exakt synonyme deutsche Vokabel fällt mir gerade nicht ein. Die Ich-Perspektive des Erzählers Kracht (der sich gegenüber Randfiguren der Erzählung gerne mit dem Namen Daniel Kehlmann vorstellt, ein nicht minder sophisticated Scherz) ist unverändert, auch die Familienbiografie schreibt sich fort, bis in persönliche Missbrauchsgeschichten hinein Die Mischung aus Autobiografie und Autofiktion, die aus der biografischen in die gerade erzählte Geschichte übergreift, übernimmt eine beherrschende Rolle, ist aber jetzt vielschichtiger geworden – ganz aktuell ist sie stellenweise dort, wo es im Textdialog um die Vermischung von Tatsachen und haltlosen oder geradewegs falschen Tatsachenbehauptungen geht. Ohne Weiteres verflogen ist allerdings das Wohlbefinden an der Schweiz, mit der Faserland noch endete: ob die Bundesrepublik Deutschland oder die Bünzlirepublik Schweiz die bessere Wahl ist, ist nicht mehr ganz ausgemacht.
Äußerlich beschreibt Eurotrash eine Rundreise von etwa 600 Kilometern, die Kracht mit dem Taxi durch die Westschweiz unternimmt, zusammen mit seiner der Altersdemenz , dem Alkohol und Medikamenten verfallenen Mutter, auf der Suche nach einer persönlichen Annäherung, allerdings auch unter der Vorspiegelung einer Reise nach Afrika – die ganz am Ende dann auch angetreten wird, allerdings nur in der dementen Wahrnehmung der Mutter, tatsächlich ist das Hotel, in dem sie von einer afrikanischen Betreuerin empfangen wird, nichts anderes als ein Pflegeheim in der Nähe von Zürich. Die verstehende Annäherung zwischen dem Erzähler und seiner greisen Mutter zumindest ist am Ende gelungen.
Eurotrash hat einen viel weiteren Horizont als Faserland, Zitate und offenbar bewusst verfremdete Zitate und Bezüge aus weit verstreuten Quellen werden erkennbar, manche kenntlich gemacht, andere nicht. Die Grenzüberschreitungen zwischen biografischer Realität und Fiktion werden in „Geschichten“ nochmals gespiegelt, die die Mutter von ihrem Sohn erzählt haben möchte. Und überhaupt: der Roman hat insbesondere in den Dialogen stelleweise norme Qualität, statt des popaffinen, bis zur bloßen Geschwätzigkeit realistischen Sprech. Eurotrash ist ohne Weiteres das stärkere Buch, es lässt sich nur ohne Faserland nicht voll erfassen.
Was es zu bedeuten hat, dass der Erzähler am Ende von Faserland das Grab von Thomas Mann auf dem Friedhof von Kilchberg am Zürichsee bei einem nächtlichen Besuch nicht finden kann, am Ende von Eurotrash hingegen zusammen mit seiner Mutter das Grab von José Louis Borges auf dem Friedhof von Genf findet, darüber muss ich noch einmal nachdenken.