Hallo zusammen,
Das besondere am "gericht" ist zB, daß es nicht die schuld in der bevölkerung sucht, sondern von der schuld der angeklagten angezogen wird.
Das heißt, damit das gericht tätig wird, muß K. sich schuldig fühlen.
Worin diese schuldgefühl besteht, ist auf den ersten blick nicht klar. Auf jeden fall ist es kein spezifisches, zB wegen seiner herablassenden behandlung von frauen. Ein verstoß gegen normen und gesetze ist nicht ersichtlich.
Man könnte auf die türsteher-geschichte verweisen und sagen, K. sei schuldig, weil er nicht erkannt habe, daß das Dasein ohne Sinn sei, daß aber trotzdem ein engagement , -trotz der sinnlosigkeit-, notwendig sei.
Oder man könnte versuchen, die geschichte aus der psychologie bzw. den überzeugungen des autor zu erklären, und käme dann womöglich zu einer eher religiösen deutung.
Der nicht-epische Kafka bietet zahlreiche (scheinbare?) parallelen zum "Prozeß":
Kafka besaß ein ausgeprägte sündenbewußtsein und war überzeugt, sich künftig für seine handlungen hier vor einer höheren instanz rechtfertigen zu müssen. So spricht er öfter von niederen und höheren gerichten, vor denen sich der mensch verantworten müsse, ZB familiengerichte, Die gerichte der arbeitschefs, des volkes und die "menschengerichte" und ehegerichte (> gebrochenes eheversprechen!).
Auch bei diesen gerichten entziehen sich die richter und das gesetz der oberen instanzen dem blick.
Wie schon woanders erwähnt, sieht die Brod'sche Kafka-interpretation die protagonisten allein ihrer "konstitution" wegen als "schuldig", auch ohne oder gegen ihren "willen", zB tolstoi:
Hauptsächlich tut not zu wissen, daß, wenn in mir nur Nicht-Liebe ist, ich schon deshalb, weil diese Nicht-Liebe in mir ist, schuldig bin
Dazu vergleiche man Kafka's verinnerlichung der sündenfallgeschichte, auf die er dann aber noch ein philosophiegerüst stellt, welches das dieseits und das paradies zeitlich parallel stellt und annimmt, daß jeder einzelne in unzähligen weiderholungen den sündenfall und die paradiesvertreibung wiederholt, daß wir also gleichzeitig hier und im paradies sind, ohne es zu merken:
Wir sind nicht nur deshalb sündig, weil wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, sondern auch deshalb, weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gegessen haben. Sündig ist der Stand, in dem wir uns befinden, unabhängig von schuld
In der jüdischen Tradition versinnbildlicht der Baum des Lebens den Zusammenhang zwischen Geschaffenem und Schöpfer, die Einheit des gottdurchströmten Seins.
Manchmal glaube ich, ich verstehe den Sündenfall wie kein anderer Mensch.
Es gibt für uns zweierlei Wahrheit, so wie sie dargestellt wird durch den Baum der Erkenntnis und den Baum des Lebens. Die Wahrheit des Tätigen und die Wahrheit des Ruhenden. In der ersten teilt sich das Gute vom Bösen...Die erste Wahrheit ist uns wirklich gegeben, die zweite ahnungsweise. Das ist der traurige anblick. der fröhliche ist, daß die erste Wahrheit dem Augenblick, die zweite er Ewigkeit gehört, deshalb verlöscht auch die erste Wahrheit im Licht der zweiten.
Der normale mensch scheint nicht zu einer kommunikation mit dem himmel fähig (so wie K. nicht zu Gesetz u. oberen instanzen durchdringen konnte):
Früher begriff ich nicht, warum ich auf meine Frage keine Antwort bekam, heute begreife ich nicht, wie ich glauben konnte, fragen zu können. aber ich glaubte ja gar nicht, ich fragte nur...
Der Himmel ist stumm, nur dem Stummen Widerhall
Diese gleichzeitigkeit von dieseits und paradies und die rolle der liebe erinnert an johanneische gedanken, die ebenfall mittels der liebe die eschatologischen dinge (himmel, hölle) aus der zukunft ins jetzt rücken:
Joh 5,24:...ich sage euch, wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist schon übergegangen aus dem Tode in das Leben.
1.JohBr 3,14: Wir wissen, daß wir aus dem Tode in das Leben hinübergeschritten sind, weil wir die Brüder lieben
Letztlich könnte man noch fragen, inwieweit die exekution bzw. das verfahren überhaupt strafe sind, denn Kafka glaubt auch, daß Leiden den Menschen reifen lassen könne, während glück hier zu einer verhaftung in der (bösen) sinnlichen welt führen könne.
Cave: Oben wurde (von Kafka) die meinung vertreten, daß es einen sündenfall gegeben habe. Hubert hat in einem aktuellen post im bibel-thread klargestellt, daß eine solche meinung "einem Stören gleichkomme", und man solchen "unsinn" nicht mehr lesen wolle.
gruß hafis