Beiträge von finsbury

    Nun habe ich eine Schnitzler- Biogafie gelesen, die mich etwas ratlos zurücklässt.


    Hartmut Scheible: Schnitzler (Rowohlts Bildmonografien, 1976)


    Inhalt

    Arthur Schnitzler wurde 1862 in Wien als Sohn des jüdischen Arztes und Klinikchefs Prof. Dr. Johann Schnitzler und seiner Frau Louise Schnitzler geboren. Vom Vater für die Nachfolge bestimmt studierte er Medizin und arbeitete auch lange in diesem Beruf. Nebenbei baute er sich aber auch eine schriftstellerische Karriere auf, bei der in den ersten Jahrzehnten seines Schaffens die Dramatik in ihrer öffentlichen Wirkung überwog. Schnitzler verarbeitet in seinen Werken die grundlegende Unstimmigkeit seiner Epoche, die einerseits an den überkommenen patriarchalischen Machtverhältnissen mit ihrer monarchisch - feudalen Struktur sowie dem aufklärerischen Gestus des liberalen Bürgertums festhielt und andererseits aber durch die Industrialisierung und Verstädterung, das Aufkommen neuer Gesellschaftsschichten und die explosionsartige Entwicklung der Wissenschaften zu einer Orientierungslosigkeit bzw. zu einer Flucht in Ideologien führte, seien diese nun nationalistisch-rassistisch oder positivistisch, weil viele Menschen die Diskrepanz nicht anders verarbeiten konnten. Schnitzler nahm sich nun in diesem Umfeld sehr oft literarisch der Geschlechterbeziehung an und enthüllte in seinen Dramen und seiner Prosa die Hohlheit der überkommenen Beziehungen in Ehe und Liebschaft, innerhalb und zwischen den Gesellschaftsschichten. Dabei gelingen ihm gekonnte Portraits gebrochener Persönlichkeiten, wie zum Beispiel „Leutnant Gustl“ und „Fräulein Else“. Vor allem bei den Frauencharakteren stellt er einfühlsam die Einwirkung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf das Leben und die Psyche der Protagonistinnen dar, denen meist die Möglichkeit des selbstbestimmten Lebens versagt ist. Die tiefgehende Analyse der psychischen Persönlichkeit weisen Schnitzler als einen Zeitgenossen Freuds aus, der aber sich weigert, das Unbewusste als schicksalhaften Einflussfaktor zu akzeptieren. Schnitzlers große Zeit der öffentlichen Anerkennung liegt in dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, wo die Aufführung seiner Werke, insbesondere des „Reigens“ und der „ Liebelei“ zu regelrechten Theaterskandalen führt. Nach dem Krieg kann Schnitzler, obwohl hier entscheidende Prosawerke - wie „Fräulein Else“ und die „Traumnovelle“ – entstehen, nicht mehr an frühere Erfolge in der Öffentlichkeit anknüpfen. Vom Selbstmord seiner Tochter Lilli 1928 zutiefst erschüttert, erholt er sich davon nicht mehr und stirbt 1931 an einer Gehirnblutung.


    Zur Gestaltung und meine Meinung

    Scheible ist ein beinharter Literatursoziologe, der in seiner Darstellung Schnitzlers weniger dessen Lebensereignisse und -eindrücke als die Analyse seiner Stücke aus der entsprechenden Richtung zugrunde legt. Ich halte die Literatursoziologie – in Kombination mit anderen Interpretationsansätzen – für eine legitime und sinnvolle Art der Herangehensweise an literarische Werke, aber in dieser Biografie fehlt mir so ziemlich das Biografische, das ja nun jenseits der gesellschaftlichen Verhältnisse auch Einfluss auf das Werk nimmt. Zusätzlich erschwert wird die Lektüre durch den typischen literatursoziologischen Duktus, der zwar auch mein Studium bestimmte, aber dennoch ziemlich anstrengend war und ist. Ich schätze diesen Band trotzdem, weil ich ihn nach der Lektüre weiterer Werke Schnitzlers bestimmt noch öfter in die Hand nehmen werde, um Scheibles Interpretationsansätze mit meinen eigenen Leseeindrücken zu vergleichen, aber er lässt mich in Bezug auf die sehr interessante Persönlichkeit Schnitzlers und seine privaten Lebensumstände etwas orientierungslos zurück.

    Sag ich doch! Wir haben schon tolle Übersetzer, die selber gute Schriftsteller waren. Man denke auch an Voss mit seinen Homer-Übersetzungen, den ich gerade erst als eigenständigen Autoren entdeckt habe. Oder der hier erfreulicherweise allseits geschätzte Wieland oder die Shakespeare-Romantiker ... .

    "Little Dorrit" habe ich noch ungelesen vor mir, wobei ich meine, gehört zu haben, dass dieses Werk ein bisschen sehr viel Taschentuch-Verbrauch erfordert, was ihn etwas nach hinten rückt.
    Zu der Band "Uriah Heep" bin ich auch in der gleichen Zeit gekommen wie zu der Lektüre des David Copperfield, und ich höre hin und wieder immer noch gerne die Stücke dieser tollen Band.
    Meine Auswahl-Dickens-Ausgabe ist die vom Manufactum Verlag lizensierte sechsbändige Zweitausendeins-Ausgabe der Meyrink-Übersetzungen, auch sehr schön in Leinen gebunden und mit Fadenheftung.

    Charles Dickens: David Copperfield (1848)
    Dieser umfangreiche (in meiner von Gustav Meyrink übersetzten Version 950 Seiten dicke) Roman wurde von Dickens (1812-1870) selbst von allen seinen Werken am meisten geschätzt, wahrscheinlich auch, weil er in ihm sehr viel Autobiografisches verarbeitet hat.


    Inhalt

    David Copperfield wächst als Halbwaise an der Seite seiner jungen hübschen Mutter und der ihnen beiden sehr zugetanen Kinderfrau Peggotty in Suffolk auf. Seine frühe Kindheit ist friedlich und schön. Aber als David ungefähr sechs ist, verliebt sich die Mutter in den Geschäftsmann Mr. Murdstone und heiratet ihn. Während der Braut- und Hochzeit besucht David zusammen mit Peggotty deren Bruder, einen Fischer in dem Küstenort Yarmouth, und dessen zusammengewürfelte „Familie“, die Witwe seines Partners Mrs. Gummidge, die adoptierte Waise Emily und den Neffen Ham. David fühlt sich dort sehr wohl, doch als er zurückkommt, wohnen Mr. Murdstone und seine Schwester im Haus der Mutter und unterdrücken diese und nun auch David in massiver Weise. Er, der immer gerne gelernt hatte, wird durch sinnloses Auswendiglernen unter Androhung von Strafen immer unkonzentrierter und zieht den Zorn beider Murdstones auf sich. Wenn die Mutter David freundlich behandelt, wird sie scharf verwiesen und ist schließlich völlig eingeschüchtert und abhängig von ihnen. Irgendwann kann David es nicht mehr aushalten und verletzt Murdstone - durch dessen Grausamkeiten aufgestachelt - an der Hand. Als Folge wird er in das Internat Salemhouse in der Nähe von London verfrachtet. Hier ist es kaum besser: Das Haus wird von dem eingebildeten und brutalen Mr. Creakle geleitet, der alle Jungen bis auf den älteren James Steerforth, einen hübschen und freundlichen, aber auch sehr selbstverliebten Jüngling, maßlos verprügelt. Der kleine David, immer noch kaum älter als sieben oder acht Jahre, findet trotz der gewalttätigen Atmosphäre in Steerforth einen eigennützigen, aber dennoch gutmütigen Beschützer und einen weiteren Freund in Tom Traddles, der durch seine fröhliche, ungeschickte Art besonders viele Prügel auf sich zieht. In den Sommerferien kommt David zurück zu seiner Mutter. Diese hat inzwischen ein Baby und steht völlig unterwürfig unter der Knute der beiden Murdstones. Kurze Zeit später sterben sie und das Baby an Schwäche und fehlender Zuwendung . Murdstone sieht nun nicht mehr ein, Geld in Davids Bildung zu investieren und gibt ihn seinem Kompagnon Quinion als Arbeitskraft für die gemeinsame Weinhandlung nach London mit. Der immer noch weniger als zehnjährige Junge muss nun Schwerstarbeit im Lager der Handlung verrichten und bekommt kaum genug Geld, um sich ein karges Mahl selbst zu besorgen. Untergebracht wird er bei Mr. Micawber und dessen Familie, die kurz vor dem Schuldgefängnis stehen, weil sich Micawber durch Schuldverschreibungen immer mehr in den pekuniären Schlamassel herabzieht. Der zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt schwankende großsprecherische Micawber und seine Angehörigen führen ein ständig zwischen übertriebenen Gelagen, wenn sie wieder einen Kredit bekommen haben, und verzweifelten Hilferufen hin und her getriebenes Leben, an dem David mitleidig Anteil nimmt und schließlich die Familie im Schuldgefängnis häufig besucht, wohin diese dann doch kommt. David, der in immer prekärere Verhältnisse gerät, beschließt mit zehn Jahren, die Weinhandlung zu verlassen und zu seiner Tante nach Dover zu wandern, der Schwester seines Großvaters väterlicherseits. Diese, eine nach außen hin harte und willensstarke, aber eigentlich sehr gutherzige Frau, adoptiert den völlig abgerissenen und durch die Erlebnisse der letzten Jahre traumatisierten Jungen und schickt ihn nach Canterbury auf die Schule des Dr. Strong, wo er nun eine gute Bildung mit sinnvollen pädagogischen Methoden erhält. David wohnt beim Anwalt der Tante, Mr. Wickfield, und dessen Tochter Agnes. Die Mutter von Agnes starb bei deren Geburt, der Vater trauert immer noch um sie und ist daher dem Alkoholismus verfallen. Dies nützt sein verschlagener Gehilfe Uriah Heep aus, eine der schaurigsten und zugleich am wunderbarsten beschriebenen Gestalten Dickens‘. Während der weiteren Handlung des Romans gerät Wickfield aufgrund seiner Alkoholkrankheit immer mehr in den Einfluss Heeps, bis dieser mit Fälschungen und Lügen all dessen Eigentum in seinen Besitz gebracht hat und nun auch noch Agnes selbst zur Frau haben will. David, der Agnes zunächst wie eine Schwester liebt, beobachtet die Entwicklung mit zunehmender Verzweiflung, kann aber nichts dagegen unternehmen.

    Währenddessen tritt David in Doctors Commons, London, eine Lehre zum Proctor an, eine Art unstudierten Anwalt , finanziert von seiner Tante und verliebt sich in die bezaubernde, aber völlig kindliche Dora, die Tochter seines Lehrherren Spenlow. Nach dem Tod von Mr. Spenlow und als sich Davis finanzielle Lage, die durch die plötzliche geheimnisvolle Verarmung seiner Tante sehr verschlechtert hatte, wieder durch Zusatzarbeiten verbessert hatte, heiraten David und Dora. Der junge Ehemann, der sich inzwischen einen Namen als Schriftsteller macht, findet in seiner Ehe aber wenig Halt, weil Dora nicht in der Lage ist, einen Haushalt zu führen und die Dienstboten zu beaufsichtigen. Nach einer Fehlgeburt wird Dora immer schwächer und stirbt schließlich. David geht für einige Jahre auf dem Kontinent auf Reisen, kehrt schließlich zurück und erhält nach einigen Missverständnissen die Hand von Agnes, die er eigentlich schon immer geliebt hatte.

    Diese Haupthandlung wird bereichert durch viele köstlich ausgeführte Nebenfiguren, wobei einige den tragischen Teil vertreten, wie Emily, Ham, Steerfort, dessen gefühlskalte und rangstolze Mutter und seine leidenschaftliche Cousine Rosa Dartle, andere dagegen die lustig-satirische oder gemütlich-vernünftige Seite wie Mr. Micawber und seine Familie und Tom Traddles, der endlich seine Sophie und damit deren ganze Familie heiratet.


    Stil und meine Meinung

    Der Roman ist ein klassischer Bildungsroman, linear durch David Copperfield in der Ich-Perspektive erzählt. Er ist in zwei ungleiche Hälften geteilt, die unglückliche Kindheit und Jugend Davids bis einschließlich 13. Kapitel und der danach glückliche Aufstieg mit Hilfe der Tante und anderer freundlich gesinnter Helfer. Bis hin zur Verlobung und Hochzeit mit Dora bleibt der Ich-Erzähler auch auf dem Empfindungsniveau des Kindes, Jungen und jungen Mannes und schildert sehr genau, wie die Umwelt auf diese wirkt. Später rückt der Ich-Erzähler mehr in den Hintergrund und wird oft zum Beobachter der Geschehnisse, wenn er auch immer als Freund oder angenommener Feind darin involviert ist.

    In den gefühlvollen Szenen, bei denen Liebe oder Religion im Mittelpunkt stehen, schrammt Dickens aus heutiger Sicht öfters hart am Kitsch vorbei. Der Leser wird aber durch das Dickensche Figurenuniversum mit der unnachahmlichen, zugleich satirischen und verständnisvollen Schilderung übervoll dafür entschädigt.

    „David Copperfield“ habe ich mit vierzehn Jahren mit großer Freude zum ersten Mal gelesen, und ein halbes Jahrhundert später hat mir die Lektüre wieder sehr viel gegeben. Meine Lieblingsfigur war früher und ist auch heute Uriah Heep, dessen unnachahmliche Schilderung ihn jedem Leser lebhaft in Erinnerung bleiben lässt.

    In meinem 20. Jahrhundertprojekt fand ich vieles gut. Besonders beeindruckt hat mich Christa Wolfs Roman "Kindheitsmuster", weil dieser ihre Kindheit im Nationalsozialismus aufarbeitet und sie sich dabei immer sehr um Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst bemüht und sich oft hinterfragt.
    Die Lyrik Georg Heyms hat mich auch angerührt. Was für eine Sprachmacht dieses noch so jungen Lyrikers, der mit 24 Jahren beim Eislaufen ertrank, weil er einen Freund retten wollte. Seine Gedichte werde ich noch häufiger zur Hand nehmen.

    Über den Jahreswechsel hinweg bin ich immer noch gerne mit Dickens "David Copperfield" beschäftigt, im ersten Teil eine erschütternde Sozial- und Erziehungsstudie, im zweiten Teil ein Aufmarsch skurriler, meist liebenswerter Typen und spannender Handlung, wie man sie von Dickens kennt. Und natürlich Uriah Heep, einer der interessantesten Bösewichte der Weltliteratur ... . Nebenher eine Schnitzler-Biografie, denn mit dessen Erzählungen will ich mich bald weiter befassen, nachdem mir "Casanovas Heimfahrt" so gut gefallen hat. Und begonnen habe ich mit einer Anthologie naturalistischer Lyrik, wo im Moment das interessante Vorwort zu dieser Epoche ansteht. Ich hatte bisher gar nicht gewusst, dass die Naturalisten auch im Bereich Lyrik stärker unterwegs waren. Für mich war das immer ein Widerspruch.

    Na, bei den vielen biografischen Bezügen sind die Infos ja nicht OT. Danke dafür, sandhofer. Ich habe mir schon oft gedacht, dass eine Kulturgeschichte des Verlagswesens eine große Bereicherung für die Literaturgeschichte wäre, aber vielleicht gibt es ja sogar schon so was. Das i s t jetzt aber OT.

    Johann Heinrich Voß: Idyllen und Gedichte (ca.1772-1793)

    Johann Heinrich Voß (1751-1826) war ein Dichter, der sowohl Elemente der Aufklärung, der Empfindsamkeit, aber auch des Sturm und Drangs und der Klassik in seinem Werk vereinte. Man kennt ihn heute vor allem für seine „klassische“ Übersetzung der beiden homerischen Epen Ilias und Odyssee.


    Voß wurde als Sohn eines ehemaligen Kammerdieners und späteren Gastwirts sowie einer Organistentochter in einem mecklenburgischen Dorf geboren. Die Eltern vermittelten ihm Zug zur Bildung, und ihm wurde trotz der Armut seiner Eltern der Besuch einer Lateinschule ermöglicht. Daraufhin eröffnete sich ihm wie vielen anderen Stürmern und Drängern die ziemlich demütigende Laufbahn als Hofmeister für die anspruchsvollen Sprösslinge des Adels und ihrer arroganten Eltern. Zahlreiche negative Erfahrungen mit dem Adelsstand spiegeln sich in seinen späteren Werken.


    Später gelang es ihm mithilfe des Herausgebers des Göttinger Musenalmanachs, in dieser Stadt klassische Philologie zu studieren. Dort gründete er mit den beiden Grafen Stolberg, Ludwig Hölty und anderen den Göttinger Hain, einen Dichterbund, der sich auf den von der schriftstellernden Jugend verehrten Dichter Klopstock, auch ein früherer Absolvent der Uni Göttingen, berief. Ihre dichterischen Erzeugnisse huldigten zumeist der Empfindsamkeit , setzten sich aber auch mit den klopstockschen Inhalten Freiheit, Vaterland und Liebe auseinander.


    Voß nun selber war aufgrund seiner kleinbürgerlichen, von Armut geprägten Herkunft und seiner Erlebnisse mit dem Adel trotz der klassischen Formen, die er für seine Lyrik verwendete, für seine Zeit auffallend sozialkritisch. In der zweiteiligen Idylle „Die Leibeigenschaft“ geht er äußerst deutlich auf den menschenverachtenden Umgang des Grundherren mit seinen leibeigenen Hintersassen ein, indem er schildert, wie der Grundherr eine versprochene Hochzeit eines Leibeigenen, dessen Familien dem Junker dafür ihren letzten Besitz gaben, aufgrund falscher Anschuldigungen platzen lässt. Demgegenüber wird im zweiten Teil dann tatsächlich idyllisch geschildert, wie Grundherr und befreite Bauern mit erträglicher Pacht harmonisch und in gegenseitiger Achtung miteinander umgehen.


    Auch in anderen Idyllen und Gedichten wird ein scharfer Ton gegenüber dem preußischen Junkertum angeschlagen, insbesondere in der bissigen Idylle „Junker Kord“, die ironisch das bildungsferne und genussbestimmte Leben des Junkers schildert, der weder auf Tiere noch unter ihm stehende Menschen irgendeine Rücksicht nimmt, aber in seiner Borniertheit selbst dumm wie Brot ist.


    Ein Beispiel für seine scharfe Adelskritik bietet auch


    STAND UND WÜRDE


    Der adliche Rat

    Mein Vater war ein Reichsbaron!

    Und Ihrer war, ich meine …?


    Der bürgerliche Rat

    So niedrig, dass, mein Herr Baron,

    Ich glaube, wären Sie sein Sohn,

    Sie hüteten die Schweine.


    (Idyllen und Gedichte, Reclam 1967, S. 3)


    Natürlich sind einige Gedichte auch konventionell und zeittypisch, aber insgesamt bin ich erstaunt, hier einen Dichter für mich wieder entdeckt zu haben, der schon so früh soziale Strukturen durchschaute und mutig kritisierte. Ich schätzte bisher sehr seine Homer-Übersetzungen, die, wie ich finde, von großer sprachlicher Schönheit sind, aber seine eigenständigen Leistungen als Dichter kannte ich noch nicht. Ein wichtiger Wegbereiter für die Menschen- und Freiheitsrechte.

    Noch eine kleine Anmerkung zur obigen Erwähnung der Kritik durch Goethe und Schiller: Ich könnte mir vorstellen, dass diese beiden, aus arrivierten bürgerlichen Verhältnissen stammenden und geadelten Weimarer Größen sich schon allein deshalb gerne über den niederdeutschen, auch mal in Platt schreibenden und aus seiner Herkunft keinen Hehl machenden Voß lustig machten. Wobei es auch einige Idyllen gibt, die sich wirklich sehr in Einzelheiten verlieren

    (z.B. Der siebzigste Geburtstag).

    So hat jeder seine Erfahrungen mit dem Herrn der Ringe. Meine ist, dass ich mit 18 oder 19 eine Verwandte in Berlin besuchte. Tja, und die hatte den Herrn der Ringe im Regal. Tagsüber war ich allein und hätte mir Berlin ansehen können. Was habe ich gemacht? In drei Tagen die Trilogie gelesen und von Berlin nichts mitgekriegt, nur abends kurz und dann gleich weitergelesen. :schulterzuck::vogelzeigen:

    Ich habe es auf den letzten Metern geschafft, "Das letzte Abenteuer" von Doderer zu lesen. Ich habe es als Ebook mit dem kundigen Nachwort von Martin Mosebach. Hat mir sehr gut gefallen - vielleicht empfindet es der eine oder die andere hier als Sakrileg, wenn ich das so sage, aber der Erzählton hat mich manchmal sehr an Tania Blixens phantastische Geschichten erinnert. Das Buch ist ein Kleinod.

    Warum sollte es ein Sakrileg sein? Blixen ist genau wie Doderer eine große Stimmungsschilderin, da passt der Vergleich schon.

    Im Wesentlichen bin ich jetzt mit meinem Lesevorhaben für dieses Jahr fertig. Es kommt wohl höchstens noch ein Sachbuch dazu. Zuletzt habe ich noch ein kurzes Drama gelesen, Eugène Ionescos "Der neue Mieter".

    Insgesamt habe ich achtundreißig Werke aus dem 20. Jahrhundert gelesen, vom klassischen Krimi über dicke und dünne Romane, Erzählungen, autobiografische Schriften, Dramen bis hin zur Lyrik. Dazu kommen sechs historische Magazine und drei Biografien, die sich auf den Zeitraum beziehen und zwei aktuelle belletristische Werke, die sich vorwiegend auf das 20. Jahrhundert beziehen.
    Das Projekt hat mir große Freude bereitet, meine ungelesenen Bücher zwar nicht wirklich stark, aber immerhin etwas vermindert und mir tiefere Einblicke in dieses für unser Dasein jetzt entscheidende Jahrhundert gebracht, in dem wohl die meisten von uns hier im Forum einige Jahrzehnte verbracht haben. Deshalb werde ich ähnlich im nächsten Jahr weitermachen.

    Hier gibt es noch keinen Thread für diesen bedeutenden Dramatiker, also beginne ich mal damit.

    Eugène Ionesco (1909-1994), Sohn eines rumänischen Vaters und einer französischen Mutter, ist Mitbegründer der Strömung des sogenannten „absurden Theaters“ und gilt heute als einer der größten Dramatiker Frankreichs im 20. Jahrhundert. Das absurde Theater handelt in einer sinnentleerten Welt, die Sprache hat ihre Bedeutung als sinnstiftende Kommunikation zwischen den Menschen verloren und besteht oft nur noch aus Floskeln.


    Eugène Ionesco: Der neue Mieter (1955)

    Inhalt:

    Im Einakter „Der neue Mieter“ sehen wir zunächst eine Concièrge, die in einem leeren Zimmer in dem von ihr mit verwalteten Haus auf den neuen Mieter wartet. Als dieser kommt, bietet sie sich ihm für haushälterische Tätigkeiten an, worauf er nicht eingeht, was zu wüsten Beschimpfungen ihrerseits führt. Während dieses hauptsächlichen Monologs der Concièrge misst der Mieter sein Zimmer aus und überlegt, wo die demnächst zu erwartenden Möbel hingestellt werden sollen. Schließlich verschwindet die Concièrge, und zwei Möbelpacker erscheinen, zunächst nur mit Kleinmöbeln und Nippes, die sie auf Anweisung des Mieters an den Wänden verteilen. Der Mieter selbst markiert in der Mitte des Zimmers einen Kreis, in den nur ein Sessel gestellt werden darf. Nach und nach kommen immer mehr Möbel, ein Buffet versperrt zur Freude des Mieters das einzige Fenster. Die Möbel, die immer größer werden, erscheinen schließlich von selbst und werden von den Möbelpackern nur noch hereingezogen, so dass sie immer mehr der Fläche des Zimmers verstellen. Kurz bevor sie den Mieter auf seinem Sessel völlig eingekreist haben, erzählen ihm die Möbelpacker, dass die immer mehr ankommenden Möbel inzwischen nicht nur das Treppenhaus, sondern auch die Straßen von Paris, ja sogar die Schifffahrt auf der Seine versperren. Den Mieter scheint das nicht zu beunruhigen, und schließlich verschwinden die Möbelpacker irgendwie, obwohl kein Ausgang mehr frei ist. Von dem Mieter ist vor lauter Möbeln nichts mehr zu sehen.

    Meine Meinung:
    Das Stück hat burleske Momente, ist aber eigentlich zutiefst traurig, weil die Personen nicht wirklich aufeinander bezogen sprechen und die Überflutung mit materiellen Dingen jeden Ausdruck von Leben schließlich verhindert. Aufgeführt wirkt es sicher noch sehr viel stärker denn als Lesedrama, weil diese Überwältigung durch die sich verselbstständigenden Möbelstücke, die in der entpersonalisierten, kommunikationslosen Welt die eigentlichen Rollen übernehmen, in der Anschauung sicher eindrücklicher wirken, als nur in den Regieanweisungen dargestellt.

    Das macht m. E. die Qualität des Textes aus, Casanova als sich selbst überlebender, narzisstischer Egomane, der nun im Alter noch nicht mal auf seinem ureigensten Gebiet reüssieren kann. Einsam, unfähig zu jeder Beziehung, einzig vermeintlich sexuelle Erfüllung suchend erinnert er an Humbert Humbert - und um einen solchen Blick hinter die Kulissen des "glücklichen" Frauenhelden Casanova schien es Schnitzler zu gehen. Da wäre eine moralinsaure Betrachtungsweise kontraproduktiv, Literatur muss sich ja nicht selbst erklären oder gar auf der Rückseite jedes Buchblattes die entsprechende Interpretation liefern.

    Da hast du sicherlich Recht, und in diesem Sinne hatte ich ja auch argumentiert. Aber einem sogenannten "woken" Lesepublikum würde diese indirekte Kritik wohl nicht mehr reichen.

    Kann ich nur empfehlen, zum Teil extrem brutal, aber wirkungsmächtig. Bei "Der Irre" musste ich allerdings ein paar Mal innehalten, weil ich es kaum ertragen konnte.

    Als Nebenlektüre habe ich in den letzten zwei Monaten eine Auswahl der Lyrik und Prosa des leider viel zu jung verstorbenen Georg Heym gelesen. Eine ganz besondere Leseerfahrung!


    Dagegen habe ich nach wenigen Seiten die Lektüre des Hunderomans "Jerry, der Insulaner" von Jack London abbrechen müssen. Bei allem Verständnis für historische Gebundenheit: Der hier hemmungslos kultivierte Rassismus der sogenannten Herrenrasse gegenüber den indigenen Völkern der Südsee, der sich sogar in ihren Hunden spiegelt, ist nicht zu ertragen.

    Georg Heym: Gedichte und Prosa (ca. 1907-1911)


    Georg Heym (1887-1912) war einer der Begründer des literarischen Expressionismus. Er wurde als Sohn eines Staatsanwaltes geboren, verlebte seine Kindheit in Schlesien und seine Jugend sowie junge Erwachsenenzeit in Berlin. Ende Januar 1912 ertrank er bei dem Versuch, seinem Freund aus einem Eisloch zu helfen, worin dieser bei einer gemeinsamen Schlittschuhpartie gefallen war.

    Der von mir gelesene Band stammt von 1962 und vereint von Hans Rauschning ausgesuchte Gedichte und Prosastücke von zu Lebzeiten und aus dem Nachlass veröffentlichten Sammlungen.

    Die zu Lebzeiten erschienenen Bände „Der ewige Tag“ (Lyrik) und „Der Dieb“(Prosa), ebenso wie die Texte aus dem Nachlass sind geprägt von der Unwirtlichkeit und Bedrohlichkeit der großen Stadt, vom Tod und seinen Erscheinungsformen, von Kriegsahnung und Abnormitäten aller Art. Bei der Lyrik gibt es aber auch immer wieder spätimpressionistische Liebes- und Landschaftsgedichte. Heym verbleibt in der Form traditionell im Versmaß und strengen metrischen Formen, dagegen sind seine Inhalte neu für die Lyrik jener Zeit. Er führt - zusammen mit anderen Frühexpressionisten - die moderne Großstadt mit ihrer industriellen Prägung, dem Gestank, dem Lärm und den ausgebeuteten Menschen als Thema in die Literatur ein. Auch sonst ist er sehr stark auf das Negative fixiert, und seine Gedichte sind voller Düsternis, aber auch Melancholie. Mystiker könnten darin eine gewisse Todesahnung sehen, es kann aber auch eine Revolte gegen ein ungeliebtes Jurastudium und einen strengen Vater sein, die ihn zusammen mit einer entsprechenden Veranlagung in diese Negativ-Fixierung getrieben haben. Die Gedichte entfalten trotz ihrer düsteren Themen eine große sprachliche Schönheit, viele davon haben mich fasziniert. Er benutzt neue, unverbrauchte große Metaphern, gerne auch aus dem spirituellen Schatz der alten Kulturen. Ein berühmtes Beispiel:


    Der Gott der Stadt (1910)
    Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
    Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
    Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
    Die letzten Häuser in das Land verirrn.


    Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
    Die großen Städte knieen um ihn her.
    Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
    Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.


    Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik
    Der Millionen durch die Straßen laut.
    Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
    Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.


    Das Wetter schwält in seinen Augenbrauen.
    Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
    Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
    Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.


    Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
    Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
    Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
    Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.
    Zitiert nach Der Gott der Stadt (1910) - Deutsche Lyrik


    Ist die Lyrik durch ihre Gebundenheit und durchgängige Melancholie trotz ihrer düsteren Themen von einer eigenartigen Schönheit, so gilt das nicht für die Prosa. Hier – zumindest in der Auswahl, die meiner Lektüre zugrunde liegt – herrscht meist nackte Gewalt. In „Der Irre“ wird ein Geistesgestörter aus der Anstalt entlassen und mordet sich durch auf dem Weg zu seiner Frau, die er so geprügelt hatte, dass er deswegen in der Anstalt inhaftiert wurde. „Jonathan“ ist ein Matrose, der nach einer Beinverletzung im Hospital liegt, von Schmerzen und Einsamkeit fast überwältigt, und dem man die kurzzeitig mögliche Kommunikation mit seiner Zimmernachbarin, diesen kleinen Hoffnungsstreif, aus „Heilungsgründen“ verbietet. Schließlich wird er nach Wundbrand amputiert und stirbt an deren Folgen und seiner Hoffnungslosigkeit. Die titelgebende Erzählung „Der Dieb“ ist inspiriert von dem im August 1911 erfolgten Diebstahl der „Mona Lisa“ aus dem Louvre und legt sie einem Mann zur Last, der unter religiösem Wahn in dem Bild die Verkörperung der Großen Hure Babylon sieht, die er vernichten muss. Heym hat nicht mehr erlebt, wie sich der Diebstahl im Dezember 1913 aufklärte.


    Das ist eine der beeindruckendsten (Wieder)begegnungen, die dieses Lesejahr mir gebracht haben. Ein schon in jungen Jahren extrem stilsicherer und wortgewaltiger Dichter, der uns intensive Bilder und Eindrücke geschenkt hat, die später in seinen Nachfolgern fortgewirkt haben. Wie schade, dass er so früh gehen musste und wie gut, dass er schon so früh so vollendet war!