Man müßte sich erst einmal darüber verständigen, was "Bildung" denn so genau sein soll. Ein bißchen Überlebensgepäck ist es wohl schon. Also so ein gewisses Basiswissen über Geschichte und Kultur. Also wenn jemand glaubt, daß Jesus in Rom gekreuzigt wurde, der zweite Weltkrieg vermutlich im 18. Jahrhundert statt gefunden hat, Rußland Teil von China ist und so weiter dann sind solche Bildungskatastrophen, die es ja gibt, ich habe sie selbst erlebt, eine Form von Desorientiertheit, wo Menschen eigentlich völlig geschichtslos, völlig orientierungslos existieren. Und ein solches Leben, das vollkommen geschichtslos ist, außer vielleicht das man gerade noch weiß, wann Schalke zuletzt Meister geworden ist, möchte ich gewiß nicht führen.
Anderseits hat jeder das Recht, sich für das zu interessieren, was ihn interessiert. Wirklich essentiell ist für mich nur die politische und geschichtliche Bildung ( Politik, Religion, Länder, Kulturen), weder naturwissenschaftliche noch kulturelle Bildung halte ich für sonderlich wichtig.
Wenn jemand Beethoven für einen Barockkomponisten hält, ist das nicht sonderlich wichtig. Warum muß jemand, der sich nicht im geringsten für klassische Musik interessiert, solche Dinge wissen? Bildung im Sinne von Wissen halte ich für vollkommen unwichtig. Wichtig ist nur die Freude an der Sache. Systematische Bildungsaneignung halte ich für ausgemachten Quatsch. Bachs h moll Messe kenne ich etwa erst sein kurzem, dafür kenne ich die Sinfonien von Mjaskovski wesentlich länger. Und die sind bei Gott nicht schlecht, aber natürlich ist die Bildungslücke mit Bachs H moll Messe wesentlich größer. Jedenfalls sagt man es so.
Bildung im Sinne eines sich heraus bildenden Gefühls für Qualität halte ich schon für wichtig. Dagegen Bildung im Sinne einer höchst "systematischen" Annäherung an Kultur halte ich für ausgemachten Quatsch. Wer Goethe und Stifter nun mal nicht mag, soll es bleiben lassen, er kann auch Kafka und Jean Paul lesen.
Ich bin im übrigen ein großer Freund der klassischen Musik und habe sowieso den Eindruck, das Liebhaber der klassischen Musik, die sich oft unglaublich gut auskennen, trotzdem einen viel unverkrampfteren Umgang mit der Bildung haben, als Leute, die unbedingt auf Goethe und Schiller herum reiten müssen. Man muß aus Beethovens 5. ja auch nicht fließend zitieren können. Und dann macht es bei mancher Musik auch einfach nicht "Klick" - ja was will man da machen. Diese ganze literarische Bildung will es am besten jedem auf drei Stellen hinterm Koma beweisen, warum Goethes Faust unbedingt lesenswert ist.
Insofern definiert sich mein Bildungsbegriff sehr von der klassischen Musik her. "Anspruchsvoll" gibt es hier auch, aber sie definiert sich für mein Gefühl mehr in einem intensiven wiederholten und konzentrierten Zuhören. Deshalb hat die Musik für mich dies ungemein Schöne, daß bei keinem Thema Schaumschlägerei leichter ist als in der Musik und anderseits auch wieder schwerer als in der Musik. Das gefällt mir. Und das finde ich auch gerade richtig, das sollte für andere Dinge auch gelten.
Gruß Martin