März 2003: Émile Zola - Therese Raquin

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Steffi"

    Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich von diesem letzten Viertel des Buches halten soll - es hat mir nicht so gut gefallen wie der Anfang, da es sich immer nur um Schuld/Rache usw. dreht. Auch die Schlußszene war mir dann doch zu romantisch ...


    Mir ist es ähnlich ergangen. Der zweite Teil des Buches fällt, meiner Meinung nach, gegenüber dem ersten deutlich ab. Streckenweise fand ich es sogar langweilig und habe mich gefragte, ob Zola tatsächlich bis zum Schluss mit dieser seiner "Mordhysterie" so weiterfahren würde.


    Ist sonst noch jemandem aufgefallen, wie oft Zola, wenn er von Laurent und Thérèse spricht, das Wort "Mörder" gebraucht? Bestimmt drei Dutzend mal im Laufe des ganzen Romans... - Aber sie sind doch Mörder, wird man mir jetzt entgegen halten - ja, schon, aber dieses ständige penetrante darauf hinweisen hat mich seltsam gestört. Hatte Zola Angst, wir könnten für die Beiden ansonsten Mitleid oder sonst irgendwelche anteilnehmende Gefühle aufbringen? Das es nicht dazu kommt, dafür hat er ja schon selbst gesorgt... Überhaupt ist mir der ganze Roman ziemlich moralisch erschienen; zwei Menschen verstossen gegen ethisch-gesellschaftliche Regeln - Ehebruch, Mord - und die Strafe dafür folgt auf dem Fusse: Angst, Halluzinationen, Paranoia und schlussendlich Selbstmord. Nicht nur Madame Raquin, auch der Leser, darf sich entspannt zurücklehnen im sicheren Gewissen, dass das Böse wiedermal seiner gerechten und zwangsläufigen Bestrafung entgegen geführt worden ist.


    Liebe Grüsse


    riff-raff

  • Zitat von "riff-raff"


    Ist sonst noch jemandem aufgefallen, wie oft Zola, wenn er von Laurent und Thérèse spricht, das Wort "Mörder" gebraucht? Bestimmt drei Dutzend mal im Laufe des ganzen Romans... - Aber sie sind doch Mörder, wird man mir jetzt entgegen halten - ja, schon, aber dieses ständige penetrante darauf hinweisen hat mich seltsam gestört. Hatte Zola Angst, wir könnten für die Beiden ansonsten Mitleid oder sonst irgendwelche anteilnehmende Gefühle aufbringen?


    Hallo Raffaele,


    wenn ich mich recht erinnere, warst es doch gerade Du, der mal Thérèse als Opfer und nicht als Täter bezeichnete. Insofern denke ich, dass es gut war, dass Zola penetrant darauf hingewiesen hat: die beiden sind Mörder!


    Gruß von Hubert

  • Hallo zusammen,


    ich bin nun durch und finde auch, dass besonders das letzte Drittel eine Qual für den Leser ist. Ich wünschte mir wirklich das "Ende" herbei.


    Jetzt frag ich mich, ob Zola dies nicht genau so beabsichtigt hat.


    Trotzdem war für mich die "Trauerzeit" der Teil der mich am meisten fesselte.


    Ich denke mir Zola mußte eine Steigerung des Wahnsinns von Kapitel zu Kapitel bringen und 'Hut ab' m.M.n. hat er es konsequent durchgeführt.


    Mich würde es interessieren, ob er sich ein Schema des Wahnsinns vorher zurecht gelegt hat, dem er gefolgt ist.


    Deutlich war zu sehen, auf welche Weise Laurent und Therese nach Vergessen hungerten. Sogar Ausschweifung hatte nicht gefruchtet.


    Wie konnte die Donnerstagsgesellschaft nur so blind sein. Sie mußten doch zumindest den Dreck im Laden wahrgenommen haben, wenn schon nicht an den Personen. Alles vergammelte und war Unsauber.


    Erschütternd die Prügelszenen und das bewußte Töten des Kindes im Leib der Therese durch den Tritt von Laurent.


    Der Kater mit dem gebrochenen Kreuz.


    Die Mutter Raquin und der Hass in ihr, auch sie hatte am Ende nur noch den Trieb zu Überleben um das Ende der Mörder zu erleben.


    Steffi:
    ich war auch etwas überrascht, als sich die Beiden wie Liebende in die Arme warfen und dann gemeinsam das Gift tranken. Ich dachte eher, dass Therese ihm das Messer reinstößt.


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen!
    Hallo Hubert!


    Zitat von "Hubert"

    wenn ich mich recht erinnere, warst es doch gerade Du, der mal Thérèse als Opfer und nicht als Täter bezeichnete. Insofern denke ich, dass es gut war, dass Zola penetrant darauf hingewiesen hat: die beiden sind Mörder!


    Mein Mitgefühl ist eben grenzenlos... :smile: Selbst im schlechtesten Menschen suche ich noch das Gute, in der verwerflichsten Tat noch nach einer Entschuldigung. Und das nicht etwa, weil ich mich für einen besonders guten Menschen halte - im Gegenteil... "Nihil humani a me alienum puto." ("Ich glaube, nichts menschliches ist mir fremd.") Gerade auch im Verbrecher erkenne ich mich wieder... Vielleicht nicht die besten Voraussetzungen, wenn es darum geht zu richten - aber das sollen ruhig die anderen. Und den ersten Stein werfen auch.



    Liebe Grüsse


    riff-raff

  • Zitat von "riff-raff"


    Mein Mitgefühl ist eben grenzenlos... :smile: Selbst im schlechtesten Menschen suche ich noch das Gute, in der verwerflichsten Tat noch nach einer Entschuldigung. Und das nicht etwa, weil ich mich für einen besonders guten Menschen halte - im Gegenteil... "Nihil humani a me alienum puto." ("Ich glaube, nichts menschliches ist mir fremd.") Gerade auch im Verbrecher erkenne ich mich wieder... Vielleicht nicht die besten Voraussetzungen, wenn es darum geht zu richten - aber das sollen ruhig die anderen. Und den ersten Stein werfen auch.


    Hallo zusammen,
    hallo Raffaele,


    das hast Du jetzt so schön gesagt, dass man es fast hätte als Schlusswort stehen lassen können.


    Aber zumindest auf folgendes will ich noch antworten:


    ich bin nun durch und finde auch, dass besonders das letzte Drittel eine Qual für den Leser ist. Ich wünschte mir wirklich das "Ende" herbei.
    Jetzt frag ich mich, ob Zola dies nicht genau so beabsichtigt hat.


    Hallo Maria,


    ob beabsichtigt oder nicht, auf jeden Fall fand ich es beeindruckend. Mir ist es wie Dir und wahrscheinlich den meisten Lesern gegangen: Man sehnt das „Ende“ herbei und so geht es ja auch den Protagonisten, also das könnte schon beabsichtigt gewesen sein.



    Trotzdem war für mich die "Trauerzeit" der Teil der mich am meisten fesselte


    Und sicher ist dieser Teil, der am schwersten zu schreibende, einen Ehebruch oder einen Mord erzählen, das können viele, aber diese Gequäle und Gejammere, das erfordert schon einen Könner wie Zola.


    Wie konnte die Donnerstagsgesellschaft nur so blind sein. Sie mußten doch zumindest den Dreck im Laden wahrgenommen haben, wenn schon nicht an den Personen. Alles vergammelte und war Unsauber


    Das habe ich auch nicht verstanden und ich denke, da ist Zola ein Fehler unterlaufen. Eigentlich hätten die anderen sich mindestens mal äußern müssen über die Verwahrlosung der Wohnung, des Ladens und des Ehepaares.


    Liebe Grüsse von Hubert


  • Hallo zusammen !


    Maria schrieb:

    Zitat

    ch wünschte mir wirklich das "Ende" herbei.


    Jetzt frag ich mich, ob Zola dies nicht genau so beabsichtigt hat.


    Auf diesen Gedanken wäre ich nicht gekommen - ist aber sehr einleuchtend und auch raffiniert !



    Zitat

    Wie konnte die Donnerstagsgesellschaft nur so blind sein.


    Ich denke, das könnte mit dem Egoismus zusammenhängen. Jeder der Donnerstagsgäste hat sich gewünscht, dass alles so bleibt, wie vorher. Mitleid oder Aufmerksamkeit gegenüber den Zuständen war nicht angebracht - leider !


    Hubert schrieb:

    Zitat

    kam der Schluß für Dich überraschend?


    Nein, dass es in etwa so enden würde, darauf hat ja Zola hingearbeitet - aber dass sie sich dann noch in die Arme fallen ... war das eine Reminiszenz an die Romantiker ? Ich hatte mir auch einen kleinen Messerstich gewünscht :zwinker:


    riff-raff schrieb:


    Zitat

    Ist sonst noch jemandem aufgefallen, wie oft Zola, wenn er von Laurent und Thérèse spricht, das Wort "Mörder" gebraucht?


    Ich habe es als spannungserzeugendes Mittel gesehen, durch dieses geradezu Herausschreien des Wortes "Mörder" spitzen sich die Gefühle immer ein wenig zu.


    Nun frage ich mich noch, warum der Roman "Thérèse Raquin" heißt. Habt ihr sie als Hauptfigur empfunden, als Zentrum ? Sie hat meiner Meinung nach den gleichen Stellenwert wie Laurent.


    Gruß von Steffi

  • Steffi hat geschrieben:
    Ich hatte mir auch einen kleinen Messerstich gewünscht


    Ich hatte ja befürchtet, dass die Beiden, sich auch in der Seine ertränken, da war es mir so schon lieber.


    Gruß von Hubert

  • Zitat


    Nun frage ich mich noch, warum der Roman "Thérèse Raquin" heißt. Habt ihr sie als Hauptfigur empfunden, als Zentrum ? Sie hat meiner Meinung nach den gleichen Stellenwert wie Laurent.


    Gruß von Steffi


    Hallo zusammen
    Hallo Steffi


    mir ist aufgefallen, dass die ersten 10 Kapitel sich sehr stark mit Therese Raquin befaßt und sie enden auch immer mit einem Gedanken über sie. (Ich glaube im Kapitel 9 werden Laurent und Therese gemeinsam erwähnt).


    Auch fand ich Therese Raquin vielschichtiger ihn ihrem Wahnsinn und ihrer Entwicklung, nach der Erlösung. Als sie Madame Raquin Reue vorspielt ist sogar Laurent angewidert und obwohl er sich danach sehnt auch so zu sein, konnte er eine solche Heuchelei nicht vollbringen.


    Auch hatte Therese zuerst den Einfall mit der Ausschweifung. Laurent war von ihrer Raffinesse beeindruckt und dachte nun endlich würde er Vergessen können. Hat aber auch nicht funktioniert.


    Ich finde es passend, dass das Buch Therese Raquin heißt. Aber du hast zweifellos recht, Laurent nimmt einen großen Stellenwert in dem Buch ein.


    Zitat von "Hubert"

    Das habe ich auch nicht verstanden und ich denke, da ist Zola ein Fehler unterlaufen. Eigentlich hätten die anderen sich mindestens mal äußern müssen über die Verwahrlosung der Wohnung, des Ladens und des Ehepaares.


    ich denke auch, dass hier Zola zu sehr die Zeit gerafft hat. Die ganzen Ausschweifungen dauerten doch Tage, wenn nicht Wochen und in der Zeit wurde die Donnerstagsgesellschaft nicht erwähnt. Dann - Plötzlich war sie wieder da.


    Zitat von "Steffi"


    Ich denke, das könnte mit dem Egoismus zusammenhängen. Jeder der Donnerstagsgäste hat sich gewünscht, dass alles so bleibt, wie vorher. Mitleid oder Aufmerksamkeit gegenüber den Zuständen war nicht angebracht - leider !


    das hat Zola immer wieder dem Leser ins Gedächtnis gebracht. Aber mir war die Lücke (Ausschweifung) zu groß.
    Aber bequem und egoistisch waren sie 100%ig. "Alles ehrbare Leute" ;-)


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen!


    Hubert war so lieb, uns auf die verschiedenen Verfilmungen von Zolas Stoff hinzuweisen. Auf der Internet-Movie-Database (http://www.imdb.com/) habe ich jetzt gesehen, dass uns für kommendes Jahr eine erneute Verfilmung ins Haus bevorsteht. Es soll sich um eine Französich-Tschechisch-Amerikanische-Koproduktion handeln unter der Leitung eines gewissen Charlie Stratton. Allfällige Besetzungsnamen werden leider nicht genannt, der Drehbeginn soll aber noch diesen August erfolgen.


    Irgendwie würde mich eine filmische Umsetzung des Stoffes schon interessieren, wenn auch... - Ihr kennt vielleicht den Witz von den beiden Ziegen, die gemeinsam ein Drehbuch fressen... Worauf die eine: "Mmh, das Buch hat mir aber irgendwie besser geschmeckt..."


    Liebe Grüsse


    riff-raff

  • Hallo ihr Lieben,


    sorry, jetzt war ich einige Tage nicht mehr da und ich wollte noch an einige Punkte anknüpfen, die vor einigen Tagen geschrieben wurden. Ich lese mich gleich erst durch eure Diskussion.


    Was typisch für die Romantik ist, ist ja die Welt des Unbewussten, Irrationalen, Träumerischen, Märchenhaften, wie das riff-raff und Steffi ja schon gesagt haben. Besonders wurde die Figur der romantischen Ironie benutzt, also eine Methode zur kritischen Reflexion über das Gegebene, indem der Gegensatz zwischen Realem und Idealem / Irrealem bewusst wird. Bsp.: die Figur des Sandmanns wird in Hoffmanns Erzählung real und die Brillengläser, durch die Nathanael schaut, verändern seine Sichtweise, seine Wirklichkeitserfahrung. Vgl. Auch unter dem Suchwort : Ironie : http://www.uni-siegen.de/~ifan/ungewu/heft6/node13.html


    In Zolas Roman kommen zwar nicht-reale Gestalten vor (Camilles Geist), aber sie treten nicht in Erscheinung. Keine der beiden Hauptfiguren nimmt auf dem Wege der Kommunikation Kontakt zu Camilles Geist auf. Die Träume spielen eine große Rolle, indem sie das Schlafverhalten Thereses beeinflussen, aber der Roman bleibt in der Beschreibung der Handlung in der Wirklichkeit, soll heißen: es werden keine „Spukfiguren“, keine „phantastische Figuren“ oder „Märchenfiguren“ eingeführt. Es wird meines Erachtens keine Illusionswelt aufgebaut.


    Ich kenne von Edgar Allen Poe nur „Der Rabe“ und da ist es ja wirklich tierisch dunkel und schaurig.


    Zitat

    Steffi: „Einen Unterschied zu Zola sehe ich eigentlich nur dahingehend, dass das Motiv bei Poes Figuren meist irrational ist, während in "Thérèse Raquin" der Mord das Ergebnis kühler Kalkulation und Berechnung darstellt;“


    Hier habe ich noch eine Nachfrage: Ich stimme dir zu, dass Laurent seinen Mordplan kühl kalkuliert und darauf baut, bloß nicht entdeckt zu werden.
    Wie verraten sich die Mörder bei Poe? Geben sie es selbst öffentlich zu oder verraten sie sich ungewollt? Oder werden sie entdeckt?
    Was Laurent aber nicht will, ist eine öffentliche Bloßstellung seiner selbst. Einmal geht es ihm bei seiner Mordtat darum, nicht entdeckt zu werden.
    Im XXVI Kapitel kommt es dann zu Laurents Bloßstellung. (202 Reclam) Camilles Geist treibt ihn und Therese in den Wahnsinn. Beide lassen sich gegen ihren Willen Geständnisse entschlüpfen. Erst dadurch verraten sich beide bei Madam Raquin.


    Zitat

    Riff-raff: „Ein naturalistischer Roman muss ja nicht notgedrungen ein Verbrechen zum Inhalt haben, aber da es in "Thérèse Raquin" um Mord geht und hauptsächlich um die daraus resultierenden Folgen - "einer Art Mordhysterie" wie Zola das bezeichnet (Kap. XXII, Reclam S. 166) -, ... könnte man diese Beschäftigung mit der Nachtseite menschlicher Leidenschaften eventuell als "romantisch" bezeichnen?“


    Ein interessanter Gedanke: vielleicht ist hier auch so etwas wie ein Gegensatz verbunden. Diese Gedankenfigur hat Steffi ja schon angesprochen. Die „Mordhysterie“ als Merkmal der Romantik. Allerdings ist die Handlung der Ermordung triebgesteuert. Zola beschreibt keine schaurige Umgebung oder Situation, in der der Mord geschieht. Statt dessen handelt es sich eher um eine Herbst-Idylle auf der Seine in Paris. Camille hindert Laurent daran, mit Therese zusammen zu sein. Laurents Liebeslust wird durch Camille behindert. Es sind demnach auch ganz real nachvollziehbare Gefühle/Leidenschaften, die Laurent zu seiner kühl kalkulierten Tat bewegen. Das gehört eher zum Naturalismus, weil hier die Triebhaftigkeit, weniger die Hysterie und der Wahn dargestellt wird. Nathanaels Wahnvorstellung in E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ sind viel intensiver beschrieben, als Laurents Wunsch aus reiner Triebbefriedigung zu töten.


    Liebe Grüße Jana

    Wer nicht lachen kann, ist nicht ernst zu nehmen. (Thomas Bernhard: Der Untergeher)

  • Hallo ihr Lieben


    Zitat

    Steffi: „Ob es wirklich das schlechte Gewissen ist, das beide die schreckliche Schuld immer wieder erleben läßt ? Oder die Erkenntnis, dass sich im Prinzip an ihrem Leben nichts geändert hat ? Mir fällt es schwer, eine Erkenntnis zu suchen, ein Motiv, etwas das Zola uns mitteilen will. Momentan vermute ich, es gibt keine "Lehre", sondern "nur" einen Einblick“


    Ne, ich glaube auch nicht, dass uns Zola mit seinem Roman irgendeine moralische Lehre vermitteln will. Was ich aber denke, ist, dass Laurents Tat (Ermordung Camilles) ihm mindestens ein schreckliches Gefühl einbringt mit einer psychischen Störung (das Gespenst Camilles tritt Laurent gegenüber. Dieser Geist würde Laurent nicht erscheinen, wenn ihm seine Tat gleichgültig wäre.) Noch bevor Laurent den Mord ausführt, macht er sich keine Gedanken über die Folgen seiner Mordtat. Aber nach seiner Mordtat verändert sich Laurent.
    Es gibt Menschen, die kein Gewissen keinen Sinn für ein moralisches Gefühl haben. Doch von dieser Sorte ist Laurent nicht die ganze Zeit.
    Zu Beginn der Handlung, als er Therese kennen lernt, ist er ein rein triebgesteuerter Mensch. Nach seiner Tat verändert er sich. Er beginnt wieder zu malen: Camilles Gesicht taucht immer wieder auf. „Er (Laurents Freund) konnte ja nicht die furchtbare Erschütterung erahnen, die diesen Mann (Laurent) verwandelt ... Wahrscheinlich hatte sich im Organismus von Camilles Mörder ein seltsames Phänomen vollzogen. Es ist schwierig für die Analyse, bis in solche Tiefen vorzudringen.“ (191, XXV. Kapitel) Laurent macht eine Veränderung durch infolge der Mordtat. Hier ist es noch eine Veränderung, die sich durch seine Bilder ausdrückt. Später werden sich Laurents Handlungen gegenüber Therese ändern: er wird sie schlagen. Diese Handlungen kommen aber nicht aus dem Nichts, sondern folgen aus seiner Mordtat. „Mehr als zwanzig Mal gingen sie zur Tür des Polizeikommisariats ... Bald war es Laurent, der den Mord gestehen wollte ...“ (XXXI. Kapitel 252) Zum Schluss werden sich Laurent und Therese töten, gerade weil sie nicht mehr Camilles Geist ertragen können „... und bedachten das schmutzige Leben, das sie geführt hatten und auch künftig führen würden, wenn sie feige genug wären, weiterzuleben.“ (XXXII Kapitel 259)


    Im Lexikon wird der Begriff „Gewissen“ wie folgt erklärt: Das Gewissen bezeichnet ein das eigene Urteilen und Handeln wertendes (Mit-)Wissen. Im Gewissen nimmt der einzelne Distanz zu sich ein, um zu prüfen, auf welche Weise moralisch relevante Entscheidungen und Handlungen zustande gekommen sind. Je nachdem, ob diese Prüfung nach den zugrundegelegten Kriterien positiv oder negativ ausfällt, empfindet der einzelne ein „schlechtes“ oder „gutes“ Gewissen.“
    Was der Leser im Roman nicht erfährt, ist, ob sich Laurent mal in sein stilles Kämmerchen gesetzt hat, um über seine Mordtat nachzudenken. Was der Leser aber erfährt, ist der Verfall der beiden Hauptpersonen. Laurent sucht in der Leichenhalle nach Camille. Laurent geht es nicht gut, als er die Wasserleiche Camilles sieht. Laurent malt immer wieder Camilles Gesicht, als er anfängt als Maler zu arbeiten. Seine Mordtat an Camille verfolgt ihn. Das Verhältnis zwischen Laurent und Therese verändert sich auch. Laurent wird aggressiver gegenüber Therese, er schlägt sie, er schiebt ihr auch die Schuld an seiner Mordtat zu. Laurent will seine eigene Mordtat verleugnen, kann es aber nicht, weil der tote Camille eine zentrale Rolle in seinem Leben einnimmt. Deshalb bin ich ja auch der Ansicht, dass sich bei Laurent ja auch erst das Gewissen aufbaut. Je schlechter er sich fühlt, er will ja Therese bei der Polizei für den Mord anzeigen und Therese ihn, desto mehr erkennt er seine eigene Verantwortung für die Tat. Warum sollten sich beide, Therese und Laurent, sonst töten?


    Liebe Grüße Jana

    Wer nicht lachen kann, ist nicht ernst zu nehmen. (Thomas Bernhard: Der Untergeher)

  • Hallo zusammen !


    Maria:
    Danke für die Erläuterungen zur Stellung von Thérèse - du hast recht, sie ist wirklich die zentrale Figur - komisch, irgendwie war mir Laurent näher :entsetzt:


    Zitat

    „Einen Unterschied zu Zola sehe ich eigentlich nur dahingehend, dass das Motiv bei Poes Figuren meist irrational ist, während in "Thérèse Raquin" der Mord das Ergebnis kühler Kalkulation und Berechnung darstellt;“


    Das hatte riff-raff geschrieben; wie ich letzthin festgestellt habe, ist meine Erinnerung an Poe doch schon zu sehr getrübt, um einen Vergleich anstellen zu können :zwinker:


    Ob Thérèse und Laurent ein schlechtes Gewissen bzw. Schuldgefühle haben, diese Frage finde ich sehr schwer zu beantworten. Ich sehe aber beide eher als passive Gestalten, die von ihren egoistischen Gedanken und Wünsche getrieben werden. Aktiv setzen sie sich ja mit dem Mord nicht auseinander, eine Reflexion darüber gibt es nicht, Angst vor Entdeckung müssen sie nicht haben. Dass sie dann doch an ihrer Schuld zerbrechen, liegt wohl eher daran, dass die im Unterbewußtsein verankerten moralischen Prinzipien die Oberhand gewinnen. Man sollte nicht vergessen, dass es Zola ja nicht darum ging, komplexe Charaktere zu entwerfen sondern nur eine Seite eines Menschen. Als psychologische Studie finde ich den Roman sehr interessant und spannend - auch im Hinblick auf die damalige Zeit sehr modern !


    Gruß von Steffi

  • Hallo ihr Lieben,

    Zitat

    Steffi: Man sollte nicht vergessen, dass es Zola ja nicht darum ging, komplexe Charaktere zu entwerfen sondern nur eine Seite eines Menschen. Als psychologische Studie finde ich den Roman sehr interessant und spannend - auch im Hinblick auf die damalige Zeit sehr modern !


    Was nicht passiert, ist die bewusste und reflexive Auseinandersetzung mit der Mordtat. Aber unbewusst geschieht bei Laurent und Therese wirklich eine Menge, vielleicht kann man das mit einem Gefühl eines schlechten Gewissens gleichsetzen.
    Wenn ich gegen irgendwelche moralischen Grundsätze verstoßen habe, geht das meistens mit einem schlechten Gefühl einher. Deshalb bin ich auch auf den Begriff des Gewissens gekommen, wegen des schlechten Gefühls, dass Laurent und Therese ja umher treibt. Es gibt ja auch Menschen, die töten, ohne jemals anschließend ein schlechtes Gefühl zu bekommen. Von diesen Menschen unterscheiden sich ja Laurent und Therese, weil einige Veränderungen in ihrem Leben auftreten.
    Ich sehe den Schwerpunkt des Romans auch eher in dem psychologischen Bereich.
    Ich kann mir in der Hinsicht nicht helfen: ich denke die ganze Zeit an den Freud´sche ödipale Entwicklungsphase. Der Junge liebt die Mama, der Papa hindert den Jungen und das Gewissen entwickelt sich. Hier gibt es keinen Jungen, sondern Laurent. Therese ist die Mama und Camille ist der Papa, allerdings wird Camille getötet, aber ein schlechtes Gefühl entwickelt sich bei Therese und Laurent. Ödipus tötete ja auch den Papa.


    Nun ja, das ganze ist jetzt erst einmal nur ein Deutungs-Angebot, das nicht stimmen muss. Ich sehe den Schwerpunkt ebenso eher im psychologischen, nicht im sittlich-moralischen Bereich. Denn Laurent und Therese setzen sich nicht bewusst mit ihrer Tat auseinander.


    Liebe Grüße Jana

    Wer nicht lachen kann, ist nicht ernst zu nehmen. (Thomas Bernhard: Der Untergeher)

  • Hallo, ihr Lieben!


    Entschuldigt, wenn ich mich jetzt längere Zeit nicht zu Wort gemeldet habe, aber was "Thérèse Raquin" angeht ist bei mir so ziemlich die Luft draussen. Was aber nicht heissen soll, dass ich eure interessante Diskussion nicht eifrig - und mit Gewinn - mitverfolge; ich bewundere, wie ihr immer wieder neue Aspekte und Interpretationsschichten zutage fördert.


    Liebe Grüsse


    riff-raff

  • Hallo zusammen


    mir gehts wie riff-raff, besonders weil ich bei der "Gewissensfrage" für mich persönlich auf keinen grünen Zweig komme.


    Als beide sich Gedanken darüber machten, wie sie den anderen umbringen könnten, sahen sie darin die letzte Möglichkeit der Gefahr einer Entdeckung zu entgehen. Das zeigt mir persönlich, dass hier sich kein schlechtes Gewissen entwickelt hat.


    Sie fühlten sich schlecht - aber bedeutet das, dass sie ein schlechtes Gewissen haben? Ich weiß es nicht.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • Hallo zusammen,
    hallo Maria,


    auch mich beschäftigt noch die "Gewissensfrage".


    Ganz am Anfang dieses Threads hast Du mal folgendes gepostet:
    "Die Beschreibung hat mich an "Schuld und Sühne" erinnert." und in der Tat gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Romanen: Der zunächst gut motivierte Mord, der sich später als eigentlich sinnlos erweist, die "Gewissensbisse"? des/der Täter, das sich mehrmals "Fast-Stellen" usw.


    Raskolnikow hat sich schliesslich gestellt, Thérèse und Laurent nicht. Hatte Raskolnikow mehr Gewissen? Konnte ihm die Liebe Sonjas helfen, Zolas "Helden" hatten ja keine Liebe mehr?


    Übrigens ist Zolas Roman (1868) nur 2 Jahre nach "Schuld und Sühne" (1866) erschienen. Zola konnte "Schuld und Sühne" eigentlich nicht kennen. Gab es ein gemeinsames Vorbild? Beide hatten mal Balzac als Vorbild angegeben? Gibt es bei Balzac eine ähnliche Geschichte? Mal Frank fragen?


    Gruß von Hubert

  • Hallo ihr Lieben,


    bei mir ist auch so langsam aber sicher die Luft raus. Ich freue mich aber schon auf ein neues Projekt.


    Liebe Grüße Jana

    Wer nicht lachen kann, ist nicht ernst zu nehmen. (Thomas Bernhard: Der Untergeher)


  • Hallo zusammen
    Hallo Hubert


    gute Gedanken. Vielleicht lag es bei Raskolnikow auch neben der Liebe daran, dass er einen Glauben hatte bzw. zum Glauben fand und Therese und Laurent nichts dergleichen hatten? Daraus entnehme ich, dass Religion nichts in einem Naturalistischen Roman zu suchen hat.


    Wäre interessant zu erfahren, ob Balzac etwas ähnliches geschrieben hat.


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Jana"

    Ich freue mich aber schon auf ein neues Projekt.


    Ohne die Diskussion um "Thérèse Raquin" für gestorben zu erklären - es würde mich schon interessieren, wie eure weitere Pläne aussehen. Selbst starte ich dieses Wochenende mit meiner zweiten Leserunde: "Die Elixiere des Teufels" von E. T. A. Hoffmann. Welches Buch steht bei als nächstes auf dem Programm?...


    Und bedanken möchte ich mich auch noch... - Das war meine erste Leserunde und sie hat sich für mich als äusserst bereichernd und unterhaltsam erwiesen; ein ganz neues Lesevergnügen... Danke!


    Liebe Grüsse


    riff-raff

  • Hallo riff-raff
    Hallo zusammen,


    ich bin bei der offiziellen gemeinsamen Leserunde ca. um den 20.06.04 dabei, wenn es heißt: Thomas Mann - Königliche Hoheit.


    Zur Zeit machen Frank W. und ich eine kleine Balzac-Leserunde (Ursule Mirouet) im Allgemeinen Klassikerforum. War ganz spontan und der Thread sieht eigentlich auch garnicht nach einer Leserunde aus. Aber Spontanität muß sein *bg*


    Grüße von
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)