März 2003: Émile Zola - Therese Raquin

  • Hallo zusammen !


    Ich habe nun so in etwa die ersten 50 Seiten gelesen.


    Wie immer fesselt mich Zola schon von der ersten Seite an, auch wenn die Beschreibungen der elenden und feuchten, glasüberdachten Gasse und auch das bisherige Leben von Thérèse und ihrem Cousin fast etwas überstrieben klingen. Nein, ich meine nicht die äußeren Verhältnisse an und für sich, da kann ich mir, zumal ich schon zweimal in Paris war, das ganz gut vorstellen, dass es so etwas gab - aber die immerfortwährende Betonung des Elends und das Phlegma von Thérèse sind mir fast zu dick aufgetragen. Man merkt doch deutlich die Intention von Zola, diesen naturalistischen Stil ganz auszukosten.


    Gerade dadurch grenzt sich ja, so wie ich es verstanden habe, der Realismus vom Naturalismus ab und Zola erscheint mir da sehr konsequent. Der Mensch als Produkt seiner Umwelt und seiner sozialen Situation, ohne Hoffnung.


    Ich bin gespannt , was ihr davon haltet !


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    Frage: Habt ihr auch die Vorrede zur zweiten Auflage 1868 des Autors zu Beginn des Romans in eurem Buch?


    Zola schreibt gleich im 1. Satz:
    Ich bin harmlos genug gewesen, zu glauben, dieser Roman könne einer Vorrede entbehren.....


    auszugsweise heißt es weiter:


    ...Ich habe in 'Therese Raquin' Temperamente studieren wollen und nicht Charaktere....


    Ich hoffe, man versteht allmählich, daß mein Ziel vor allem ein wissenschaftliches gewesen ist....
    Man möge den Roman aufmerksam lesen, und man wird sehen, daß jedes Kapitel die Erforschung eines merkwürdigen Falles der Psychologie bedeutet. Mit einem Wort, ich habe nur einen Wunsch gehabt: in einem kraftvollen Mann und einer unbefriedigten Frau, die mir gegeben waren, das Tier zu suchen, sogar nichts weiter als das Tier zu sehen, sie in ein gewaltiges Drama zu stoßen und nun ängstlich genau die Empfindungen und Handlungen dieser Wesen aufzuzeichnen. Ich habe einfach an zwei lebenden Körpern die zergliedernde Arbeit vorgenommen, welche Chirurgen an Leichen vornehmen.


    Das Vorwort schockiert, findet ihr nicht? Mal sehen wie ich mit diesem Naturalismus zurecht komme.


    In den ersten 30 Seiten fielen mir insbesondere die Farben und die Anwendung von Licht und Schatten auf. Kaum ein Absatz wo dies nicht erwähnt wird.


    Überhaupt beschreibt der Autor sehr detailiert.


    Soweit von mir.


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Zola betont in seinem Vorwort zu Thérèse Raquin wiederholt, dass er beim Schreiben des Romans „vor allem ein wissenschaftliches Ziel verfolgt habe“ und sich dabei „der peinlich genauen Widergabe des Lebens anbefohlen“ habe, wie ein Maler, der ein Modell abzeichnet oder der Arzt, der eine Leiche seziert. Aus meinem Deutschunterricht weiss ich noch, dass die Naturalisten darauf aus waren, die Vorgehensweisen und Methoden der modernen Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Medizin usw.) auf die Literatur zu übertragen; oberstes Ziel war eine „Verwissenschaftlichung“ der Kunst, eine objektive Darstellung der Wirklichkeit. Schon damals habe ich mich gefragt, ob das überhaupt möglich sei.


    Selbst wenn Thérèse Raquin auf wirklichen Begebenheiten beruhte, und wer weiss, vielleicht wurde Zola von einer Randnotiz in der Zeitung dazu inspiriert... – gäbe man die gleiche Zeitungsnotiz zehn verschiedenen Autoren zur Vorlage, kämen nicht zehn verschiedene Romane dabei raus? Aber eins der Hauptkriterien für Wissenschaftlichkeit ist ja gerade das, dass man – bei einem chemischen Experiment zum Beispiel – unter gleichen Bedingungen und Umständen zu gleichen Resultaten und Schlüssen gelangt.


    Wenn ich zudem das erste Kapitel von Thérèse Raquin zu lesen beginne und dabei von einer gemeine[n] Dunkelheit“ sprechen höre oder dass die Passage du Pont-Neuf des abends „das unheimliche Aussehen einer wahren Mördergrube an[nehme]“... Wertet der Autor hier etwa nicht? Versucht er nicht den Leser in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken, in Zolas Richtung nämlich?... Wo bleibt da die vielgerühmte Objektivität frage ich mich.


    'Der Blues ist ein Stuhl', sagte einst John Lennon. Die Musik, die Lennon mit den Beatles machte war nicht dieser Stuhl – schon weil sie Weisse waren und aus England stammten –, es war ihre Version des Stuhls. So wie Thérèse Raquin Zolas Version der Welt darstellt.


    Bin bei Kapitel V angelangt und finde das Buch ungemein spannend.


    Gruss


    riff-raff

  • Hallo JMaria!


    Zitat von "JMaria"


    In den ersten 30 Seiten fielen mir insbesondere die Farben und die Anwendung von Licht und Schatten auf. Kaum ein Absatz wo dies nicht erwähnt wird.


    Ja, das mit dem Licht und Schatten ist mir auch aufgefallen, weiss es leider bloss nicht zu deuten oder für was sie stehen.
    Andererseit - sind Symbole in einem naturalistischem Roman nicht fehl am Platz? Ich weiss es nicht...


    Gruss


    riff-raff


  • Hallo zusammen
    Hallo riff-raff, Hallo Jana


    an dieser Stelle auch ein Hallo von mir, schön dass ihr mit macht :winken:


    vielleicht wäre "Prozesssymbol" der passendere Ausdruck und würde auch zu dem wissenschaftlichen Aspekt passen.


    zu den Farben fiel mir noch ein, dass Farben auch mit Temperamente in Verbindung gebracht werden kann.


    Ob es auf diesen Roman zutrifft, kann ich noch nicht beurteilen, ich bin ja noch nicht sehr weit. Doch wollte ich den Gedanken nicht verlieren.


    Bis dann
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo!


    Eine Frage... – Würdet ihr mit mir übereinstimmen, wenn ich den eigentlichen Beginn der Handlung in Thérèse Raquin mit dem Beginn von Kapitel V ansetze, als Camille eines Donnerstagabends Laurent in die Familie einführt? Die vier vorhergehenden Kapitel scheinen mir demgegenüber Beschreibungen oder Rückblenden darzustellen.


    Kapitel I würde man in der Filmsprache wohl mit „Establishing Shot“ umreissen. Ein Establishing Shot ist die jeweils erste Einstellung eines Film (während dem oft auch noch der Vorspann abläuft). Er zeigt meistens eine Landschaftsaufnahme oder den jeweiligen Ort des Geschehens. Durch den Establishing Shot soll der Ort (oder die Figuren) der Handlung vorgestellt und dadurch etabliert werden. Zola verengt dabei den Fokus zunehmend: Zuerst die Passage du Pont-Neuf in ihrer Gesamtheit, dann die Menschen auf der Strasse, dann die verschiedenen Ladenfronten und von dort auf das Kurzwarengeschäft der Raquins im Speziellen und schliesslich zu den Menschen im Laden selbst.


    Kapitel II-IV stellen Rückblenden dar: Kapitel II umreisst die Zeit der Raquins in Vernon, Kapitel III die Umsiedlung nach Paris und Pont-Neuf, Kapitel IV die regelmässigen Empfänge der Raquins am Donnerstagabend. Mit Kapitel V, in dem Camille seinen Arbeitskollegen Laurent nach Hause mitbringt, setzt dann die eigentliche Handlung des Romans ein.


    Ein weiterer Anhaltspunkt für diese These: Während der Beschreibung in Kapitel I vergeht überhaupt keine Zeit, in den Rückblenden werden mehrere Jahre auf wenigen Seiten zusammengefasst, aber in Kapitel V werden plötzlich mehrere Seiten auf die Beschreibung weniger Stunden – des Besuchs von Camille – verwendet. Das Erzähltempo verlangsamt sich also markant, meist ein untrügliches Zeichen für den Beginn der Handlung. Andere Hinweise bilden die Dialoge. Wir haben zwar auch in den vorhergehenden Kapitel vereinzelt direkte Rede, aber keine solche Häufung von Rede und Gegenrede wie in Kapitel V.


    Gruss


    riff-raff

  • Hallo zusammen !


    riff-raff schrieb:

    Zitat

    Würdet ihr mit mir übereinstimmen, wenn ich den eigentlichen Beginn der Handlung in Thérèse Raquin mit dem Beginn von Kapitel V ansetze,


    Ja, das habe ich auch so empfunden - allerdings war es mir in dieser Deutlichkeit nicht bewußt - danke für deine Zusammenfassung.


    Ab dem Kapitel V spielen auch die Farben und Atmosphärebeschrebungen weniger eine Rolle und Zola geht mehr zu den Menschen über. Vor allem laurent und Thérèse werden eingehend beleuchtet, nachdem ihr Verhältnis quasi vor den Augen von Camille und dessen Mutter begonnen hat.


    Maria schrieb:

    Zitat

    vielleicht wäre "Prozesssymbol" der passendere Ausdruck


    Dazu habe ich folgendes gefunden:
    eine bestimmte, definierte, wiedererkannte Form eines dynamischen Vorgangs, der als Verweis auf ein anderes Ereignis oder einen anderen Vorgang dient. Insbesondere Prozess- oder Zustandsänderungen. (Prozesssymbol)


    Eine interessante Idee - also Licht für positive Wendung und Schatten für negative Wendung oder für zwei Apekte des Temperaments einer Person ?


    Überhaupt kommt es mir immer mehr so vor, als ob Zola nur den dunklen Teil der Persönlichkeit darstellt. Habt ihr bisher etwas positives gefunden ? Naja, in dem Vorwort beschreibt er ja seine Intention, nur den animalischen Aspekt (= Triebe ?) aufzeigen zu wollen. Im Gegensatz dazu könnte man vielleicht auch die Farben, meist sind es doch Rot- und Gelbtöne des Anfangs sehen ?


    Gruß von Steffi

  • Hallo ihr Lieben!


    Ich glaube, ich sollte nicht an einer Lesung teilnehmen. Ich schreibe zu viel Text. sorry


    Erst einmal zu meiner ersten Leseerfahrung: Jetzt habe ich den Roman endlich durch, puh! – und, ehrlich gesagt, noch keinen wirklichen Zugang zu dem Buch. Was soll das? Am Ende dachte ich, na endlich, das sie das ... gemacht haben, wurde auch wirklich Zeit.
    Deshalb lasse ich mich jetzt auf eine intensivere Diskussion über den Text ein und lese mit euch den Text genauer.
    Vorab will ich aber noch einige Fragen formulieren, die mich auch interessieren:


    Wenn ich an den deutschen Naturalismus denke, dann fällt mir Gerhard Hauptmann: Die Weber ein, eine Studie über die Arbeitsbedingungen der Weber – das ist in Zolas Stück gar nicht der Fall. Statt dessen wird das Liebesleben einer armen Kurzwarenhändlerin beschrieben. Wo finden sich die naturalistischen Elemente in dem Roman, wo gibt es noch romantische oder ?realistische? Elemente? Nun ist natürlich Zolas Roman der erste naturalistische Roman, deshalb interessieren mich ja gerade die Elemente, die ihn zu einem naturalistischen machen bzw. welche Elemente weisen noch auf die vorherige Epoche zurück?


    Wie sah der reale (berufliche) Alltag der Frauen in der beschriebenen Zeit aus? Gab es schon Liebesehen – oder bestimmten die Eltern die Ehepartner? Wie sah es im Allgemeinen mit Trennung in der Verlobungszeit und in der Ehe aus? Diese Frage hängt eng mit dem jeweiligen Verhalten der beiden Hauptfiguren Laurent und Therese ab. Inwieweit konnten sie sich aufgrund der gesellschaftlich real gegebenen Konventionen anders verhalten bzw. mussten ihren Trieben/ Leidenschaften gehorchen?


    Das sind allerdings Fragen, die man zu Beginn des Textes noch nicht beantworten kann, sondern erst nach Beendigung des Textes. Ich wollte sie nur aufschreiben, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.



    Zu den Temperamenten schaut doch auch auf die Seite:
    Hier findet ihr eine ausführliche Darstellung der Temperamentenlehre aus der Sicht der Psychologie:
    http://www.uni-saarland.de/fak…he_temperamentenlehre.pdf


    Hier sind den verschiedenen Temperamenten Farben zugeordnet. Es ist eine Seite der Mediziner:
    http://tcm-arbeitskreis.uni-hd…edizinisches/typen1.shtml



    Zitat

    riff-raff schreibt: Aus meinem Deutschunterricht weiss ich noch, dass die Naturalisten darauf aus waren, die Vorgehensweisen und Methoden der modernen Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Medizin usw.) auf die Literatur zu übertragen; oberstes Ziel war eine „Verwissenschaftlichung“ der Kunst, eine objektive Darstellung der Wirklichkeit. Schon damals habe ich mich gefragt, ob das überhaupt möglich sei..


    Der Begriff der Wissenschaften zur Zeit des 19. Jahrhunderts ist ein etwas anderer als der des 20. Jahrhunderts. Richtungsweisend ist hier Auguste Comte und die Richtung des Positivismus zu nennen. Und im Endeffekt besagt der Positivismus nur, dass er ein konsequenter Empirismus sein will, d.h. dass er sein Hauptaugenmerk nur auf ausschließlich zu beobachtende Dinge legt. Auguste Comte beschäftigte sich daher auch intensiv mit den Methoden der Sozialwissenschaften und verlangte, dass alle Sätze aus Erfahrungsbegriffen, nicht aus mathematisch-logischen Begriffen zusammengesetzt werden.


    In einem schlauen Buch habe ich zum Thema Naturwissenschaften und Literatur folgendes gefunden:


    „In der Schrift Le roman expe´rimental (1880) hebt Zola die Synthese von Literatur und Naturwissenschaft, Kunst und Experiment hervor und konstatiert, (...) ,Der Romanschriftsteller muß wie ein Wissenschaftler den Menschen studieren. Er muß die den Menschen determinierenden psychischen, physischen und sozialen Mechanismen erforschen. (...). Wie in einer Versuchsanordnung sollen diese Faktoren (Vererbung und Milieu) im Roman zur Geltung kommen. Der Roman wird zum Experimentalroman.“ (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, dtv, Bd. 7, S. 37)


    Danke schön riff-raff! Du hast mich auf wichtige Dinge aufmerksam gemacht, als du die ersten Kapitel analysiert hast. So muss das auch laufen. :winken:


    (Das ist ein weiterdenken der These riff-raffs, nicht ein falsch verstehen. Riff-raff hat den Vergleich mit dem Establishing Shot benutzt, um die ersten Kapitel zu analysieren, stimmt das? nachfragen ist dann doch besser.)
    Dabei ist mir nämlich folgendes aufgefallen: Zola berichtet, erzählt in Rückblenden und Zola rafft die Zeit. Allerdings werden einzelne, für die gesamte Handlung wichtige Entscheidungen und Handlungen innerhalb 1 Tages entschieden und dieser 1 Tag wird dann auch relativ ausführlich beschrieben.
    Bsp.: (III. Kapitel) Acht Tage nach Camilles Hochzeit mit Therese kommt der junge Mann auf die Idee, nach Paris zu ziehen. Ein/zwei Tag später fährt seine Mutter nach Paris und besorgt dort den neuen Laden für Kurzwarenwäsche.
    (III. Kapitel) Innerhalb eines Tages verlässt die Familie Vernon und zieht noch am selben Tag nach Paris.
    Und der Hochzeitstag findet natürlich auch innerhalb eines Tages statt.


    Was somit in Opposition zueinander steht, sind diese einzelnen Tage, in denen entscheidendes für die Handlung passiert gegenüber der Zeitraffung. Durch diesen Gegensatz wird, meines Erachtens, die Öde und Langweiligkeit in Thereses Leben sehr deutlich. „Drei Jahre folgten die Tage einander, und einer war wie der andere; ...) (III. Kapitel)
    Was dadurch natürlich auch auffällt ist die nicht-lineare Struktur der Erzählung innerhalb der ersten 4 Kapitel. 1. Kapitel: Beschreibung der Passage du Pount-Neuf. Hier ist der Ort des eigentlichen Geschehens. 2. Kapitel: Darstellung der zentralen Figuren im Rückblick 3. Kapitel: Der Entschluss und die Umsetzung, nach Paris zu ziehen. Camilles und Thereses Heirat. 4. Kapitel: Leben in Paris. Das Treffen alter Bekannter an den Donnerstag-Abenden.


    Ich würde den ganzen Roman gerne mit dem Aufbau eines geschlossenen Dramas vergleichen. Dann verstehe ich die einzelnen Tage, in denen wichtiges für die Handlung geschieht, als Elemente der dramatischen Handlung.
    Dann würde ich den Roman nach folgendem Schema strukturieren:


    Einleitung:
    1./2. Kapitel: in Rückblicken und Berichten werden die Figuren und die Orte dargestellt.
    Ab dem 3. Kapitel beginnt die eigentliche Handlung: erst Camilles Wunsch mit seiner Ehefrau nach Paris zu ziehen sorgt für ein Zusammentreffen mit Laurent. Ab dem 3. Kapitel wird die Handlung linear aufgebaut, auch wenn Zola dort mit Zeitraffung arbeitet. Das zentrale Problem: Camilles und Thereses Heirat als absolute Ödnis ist dort schon eingeführt, denn jeder Tag gleicht dem anderen und Therese schmückt das gemeinsame Wohn- und Schlafzimmer nicht aus. Als sie Laurent liebt, verändert sie ihre Wohnung.
    (Ich möchte hiermit nicht riff-raff widersprechen. Wenn man Zolas Stück als Theaterstück aufführen würde, würde ich aus dem selben Grund wie riff-raff angegeben hat, mit dem 5. Kapitel die Handlung beginnen lassen.)


    Ab dem 5. Kapitel sehe ich durch das Auftreten Laurents ein erregendes Moment gegeben. Therese sieht Laurent und verknallt sich prompt in ihn. Diese Liebe beruht auf Gegenseitigkeit.


    (Jetzt gehe ich nur ganz grob über die Handlung hinweg!!!)
    Die Handlung nimmt an Spannung zu. Laurent und Therese treffen sich heimlich. Laurent schmiedet einen Mordplan (IX).
    Höhepunkt: Laurent führt diesen Plan aus (XI Kapitel). Die Liebe zwischen Laurent und Therese verändert sich. Sie distanzieren sich voneinander.


    Was dann einen zentralen Teil des gesamten Romans ausmacht, ist das Leben beider Figuren im Wissen darüber, dass beide Camille getötet haben. Das führt dann zum eigentlichen Schluss der Handlung.


    Was ich noch nicht kapiert habe, ist die Selbstverständlichkeit der Figuren, diesen Mord zu begehen und nicht mal darüber nachzudenken, welche Folgen das für beide haben kann.
    Beide Figuren (Laurent und Therese) handeln nur aufgrund ihrer Leidenschaft: Beide lieben einander, also treffen sie sich. Camille stört ihr Liebesverlangen, also muss er beseitigt werden. Am leichtesten ist die Tötung. Beide haben keine Angst davor entdeckt zu werden, beide machen sich keine Gedanken über ein mögliches schlechtes Gewissen. Und dann endet der Roman so, wie es meiner Ansicht nach vielen Menschen geht, die gegen ihr Gewissen gehandelt haben: Sie bekommen Schuldgefühle, zeigen Reue.


    Deswegen auch meine Frage nach dem beruflichen und sozialen Alltagsleben einer Frau in der jeweiligen gesellschaftlichen Zeit. War es damals üblich, dass Frauen mit einem „Langeweiler“, sprich Camille, verheiratet waren und sich einen Liebhaber wie Laurent wünschten? Einfachste, und im Endeffekt auch zerstörerischste Lösung: die Tötung des Ehemannes.

    Wer nicht lachen kann, ist nicht ernst zu nehmen. (Thomas Bernhard: Der Untergeher)

  • Hallo zusammen,
    hallo Jana !



    Zitat von "Jana"

    Jetzt habe ich den Roman endlich durch, puh! ...


    Die Idee des Gemeinsamen Lesens ist, dass alle Teilnehmer in etwa gleichschnell das Buch lesen und dass man bei interessanten Stellen seine Gedanken oder Einfälle niederschreibt um dann darüber aktuell diskutieren zu können.


    Natürlich kann man auch im nachhinein über ein Buch diskutieren, aber da man dann den Schluß, den Aufbau und die Entwicklung der Handlung bzw. der Personen schon kennt, sind auch viele Gedanken, die man zwischendurch hat, überholt, vergessen oder erklärt. Deshalb finde ich es schade, dass du schon so schnell fertig bist und uns deine Gedanken zwischendurch nicht mitgeteilt hast. (wahrscheinlich war es einfach zu spannend ? :zwinker: )


    Zum Beispiel hat Maria über Prozesssymbole gepostet und riff-raff über die Farben, so kann ich während des Lesens darauf achtgeben und meine Eindrücke diesbezüglich schildern. Hätten die beiden davon erst nach Ende der Leserunde berichtet, wäre mir dieser Aspekt entgangen.


    Zitat von "Jana"

    Inwieweit konnten sie sich aufgrund der gesellschaftlich real gegebenen Konventionen anders verhalten bzw. mussten ihren Trieben/ Leidenschaften gehorchen?


    Ich glaube nicht, dass die sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe einen Einfluß auf die Geschichte haben sollen. Thérèse und Laurent wollen nicht aus ihrem Leben oder ihrer gesellschaftliche Stellung ausbrechen, sie suchen nur die Möglichkeit ihre Triebe zu befriedigen. Inwieweit sie damit auch die Möglichkeit suchen, das tatsächliche Leben kennenzulernen, ist mir noch nicht klar.


    Was ist überhaupt das tatsächliche Leben - diese Frage stellt man sich ja fortlaufend; genügt es, einen Platz innerhalb der Gesellschaft einzunehmen oder wird man zufrieden, wenn man seine Triebe auslebt ? Zola zeigt hier zwei Extreme und manchmal erinnern mich die aufgeworfenen Fragen an Dostojewskis "Verbrechen und Strafe", wobei hier natürlich der geistige, intellektuelle und religiöse Aspekt (bisher) völlig außer Acht bleibt.


    Zola will ja keine sozialen oder gesellschaftlichen Mißstände anprangern, wie später in vielen Büchern der Rougon-Maquart-Reihe. Ihm geht es nur um die eine Seite einer Person und die Mechanismen dieser animalischen Seite. Eher unwichtig scheint mir, in welchem Milieu sie leben und wie diese animalische Seite geweckt wird.


    Bei Thérèse kommt sie letztendlich zum Vorschein, weil sie unzufrieden ist, weil sie emotionell verkümmert und ihre sexuellen Bedürfnisse nicht befriedigen kann, Laurent ist ebenfalls unzufrieden, er konnte den Ansprüchen seines Vaters und der Gesellschaft nicht genügen und ihm sind seine Triebe - Essen und Frauen - der einzige Lebensinhalt.


    Zitat von "Jana"


    Therese sieht Laurent und verknallt sich prompt in ihn. Diese Liebe beruht auf Gegenseitigkeit.


    Geht es wirklich um Liebe. Es ist nicht Liebe, die Thérèse und Laurent zusammentreibt sondern, wie Zola schon in seinem Vorwort beschreibt, der Trieb des Menschen. Genau diesen Aspekt, sozusagen der tierische Anteil, will er untersuchen und darstellen. Es gibt dafür viele Textbeispiele : Der Akt vollzog sich stumm und roh. ... durchrasten glühende Leidenschaftskrämpfe von einer unheimlichen tierischen Wildheit, ...
    dann die Nachahmung der Katze und schließlich der Höhepunkt als Camille Laurent ein Stück Fleisch ausbeißt :entsetzt:



    Ich komme nun zum 14. Kapitel. Bin gespannt, was ihr von den verschiedenen Reaktionen auf den Mord haltet (typisch männlich, typisch weiblich ?).


    Gruß von Steffi

  • Hallo ihr Lieben :winken:


    Jetzt versuche ich mich auch eher an einer etwas detailierteren Analyse des Textes.


    Obgleich Paris (aus Sicht der Postkarten und der TV-Filme) eine so schöne Stadt ist, beschreibt Zola so wenig Orte und Plätze (obgleich es mit Sicherheit viel mehr Plätze in Paris gäbe). Alles spielt nur an wenigen Stellen: Und diese Plätze und Orte sind noch so düster und langweilig gehalten. Es gibt aus meiner Sicht nur eine Ausnahme: die Fahrt der dreien zur Seine im XI. Kapitel. Da gibt es sogar einen Ort, der eher einem Paradies ähnelt, der aber wiederum nicht ganz ohne eine gewisse Todesnähe und Melancholie auskommt. Alle drei gehen an einem Sonntag, die Sonne scheint warm, nach Saint-Ouen und finden auf einer Insel eine angenehme Lichtung. Hier ruhen sie sich aus. Aber hier passiert nicht nur etwas angenehmes, sondern auch etwas brutales.
    Also:

    Zitat

    Steffie: Überhaupt kommt es mir immer mehr so vor, als ob Zola nur den dunklen Teil der Persönlichkeit darstellt. Habt ihr bisher etwas positives gefunden ? Naja, in dem Vorwort beschreibt er ja seine Intention, nur den animalischen Aspekt (= Triebe ?) aufzeigen zu wollen.


    In der Hinsicht kann ich da von seiten der Menschen wirklich nur den dunklen Aspekt sehen, wie du schon sagtest.
    Vielleicht müsste man da jetzt so einen Farbvergleich machen. Wer bekommt welche Farbe zugeordnet? Hier wären dann die Natur, der Mensch und die Stadt/Kurzwarenladen zentrale Elemente für diesen Farbvergleich.


    Besonders wäre dann ein Vergleich des Menschen mit der Natur wichtig.
    Ich vermute mal, dass die Natur farbenprächtiger, als der Mensch (und die Stadt?) beschrieben wird.
    XI. Kapitel S. 75 Reclam-Ausgabe:
    "grüner Grasteppich", "abgefallene Blätter bildeten am Erdboden eine rötliche Schicht", "kupferfarbenes Gewölbe der sterbenden Blätter"
    die Figuren hingegen werden nicht mit natürlichen Farben verglichen (S. 77)
    Thereses Gesicht war von "matter Blässe", (als Vorausdeutung: ) Camilles weißter, toter, in den Falten der Röcke ertrunkener Kopf usw.


    Mir ist aufgefallen, dass viele Plätze der Natur, Lebewesen und Pflanzen farblich weiter beschrieben werden. Bei den Menschen ist das eher weniger der Fall. Da kommen eher so grobe Farbangaben zur Sprache wie (XII.Kapitel, S. 89: Fahrt mit der Kutsche) Reglos und stumm saßen sie in der Dunkelheit, der grelle Schein einer Gaslaterne oder S. 73 Laurents und Thereses Blicke treffen sich: "Für einen AUgenblicks Dauer waren ihre dunklen, glühenden Blicke einander begegnet." (Ende X. Kapitel)


    Vorausdeutungen:
    In dem Text befinden sich viele Elemente, die schon auf das Ende hinweisen, so, als hätten die einzelnen Figuren eine gewisse Intuition, wie die Handlung ausgehen könnte.
    Therese vergleicht den Kurzwarenladen in Paris mit einer Gruft.
    Laurents Portrait verweist ja auch auf weiteres.
    Zeit:
    Es ist doch auffallend, dass Zola bestimmte Ereignisse herausgreift und gerade die werden innerhalb kürzester Zeit erledigt, während gerade die anderen Tage in einer gewissen Gleichmäßigkeit dahin plätschern. Die Zeit spielt sowie so hier eine große Rolle. Aus der groben Erinnerung habe ich das Gefühl, das Zola das im Laufe der Handlung öfter macht: Zeiten, die dahin plätschern im Gegensatz zu zentralen Ereignissen, die konzentriet und punktgenau analysiert werden.


    Liebe Grüße Jana

    Wer nicht lachen kann, ist nicht ernst zu nehmen. (Thomas Bernhard: Der Untergeher)

  • Hallo ihr Lieben,
    hallo Steffi :winken:


    tja, da bin ich wirklich über das Ziel hinausgeschossen und 10 meter vom zielpunkt entfernt gelandet.
    ich wusste nicht, dass jeder leser ungefähr auf dem selben Lesestand sein sollte, wenn über das Buch diskutiert wird.


    Auf der einen Seite war es schon spannend, weil ich gerne das Ende der Handlung kennen wollte, auf der anderen Seite fand ich die Handlung so absolut abwegig, so unglaubwürdig, dass ich absolut froh war, als ich endlich den Text zu Ende gelesen habe. Was ich daran abwegig finde, ist, dass Laurent und Therese so handeln, wie sie handeln. Ich meine jetzt das XI. Kapitel. Deshalb wundert es mich nicht, dass sie so ein schlechtes Gewissen hinter her haben. Das ist doch meiner Ansicht nach eine logische Schlussfolgerung aus den Handlungen im XI Kapitel. Warum muss man darüber so viele Worte verlieren?


    Vielleicht mache ich damit etwas, was jetzt noch nicht ansteht. Ich bewerte die beschriebene Handlung aufgrund ihrer moralisch-sittlichen Glaubwürdigkeit. Und diese Glaubwürdigkeit sehe ich für mich noch nicht gegeben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Menschen so leichtgläubig und unbedacht diese Tat (XI. Kapitel) ausführen.


    Für mich ist das auch der erste Zola und ich kenne noch nicht seine Vorstellungen und Funktionen, die die Literatur ausmachen sollen. Vielleicht steckt da ja für die Zeit des 19. Jahrhunderts ein wesentlicher Fortschritt in der Darstellung und Analyse des Menschen als (in diesem Beispiel) stark triebgesteuertes Wesen.


    Vielleicht war es im alltäglichen Leben so, dass jede Frau und jeder Mann sehr vernunftbetont und nach bestimmten Konventionen und Regeln leben musste. Die eigenen Triebbedürfnisse wurden missachtet und unterdrückt. Wenn dem so sein sollte, finde ich den Text Therese Raquin von Zola revolutionär. Er macht dann genau auf diese Missstände aufmerksam, indem er die Triebe, das Lustempfinden betont, analysiert, beobachtet usw. Das würde auch erklären, warum Zola so stark für seinen Text Therese angegriffen wurde.
    In diesem Zwiespalt stecke ich nun. Aber ich lasse mich gerne noch auf weitere Einzelheiten ein.
    Für mich ist Literatur, wenn sie hochwertig sein soll, auch immer eine Auseinandersetzung mit den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen. Literatur kann dann einen eigenen, alternativen Denk- und Lebensraum schaffen. Deswegen ist für mich Literaturbesprechung nicht nur die Besprechung bestimmter Strukturelemente des vorliegenden Textes, sondern auch immer - ein bisschen - Auseinandersetzung mit der gegebenen gesellschaftlichen Situation. (Führt das jetzt zu weit?)


    Zitat

    Steffie: Ich glaube nicht, dass die sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe einen Einfluß auf die Geschichte haben sollen. Thérèse und Laurent wollen nicht aus ihrem Leben oder ihrer gesellschaftliche Stellung ausbrechen, sie suchen nur die Möglichkeit ihre Triebe zu befriedigen.


    Ich denke auch wie du, dass die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse der beiden Hauptfiguren nicht unbedingt verantwortlich für ihre Handlungen zu machen sind. In erster Linie spielen wirklich ihre Triebe und Leidenschaften eine große Rolle.
    Nein, was ich meinte: Wenn ich den gesamten Text nehme und ihn mit den gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit, in der Zola gelebt hat, zu welchem Ergebnis würde ich da kommen? Das habe ich in meinem vorherigen Absatz (vor dem Zitat) versucht auszudrücken.

    Wer nicht lachen kann, ist nicht ernst zu nehmen. (Thomas Bernhard: Der Untergeher)

  • Hallo!


    Habe soeben Kapitel XIII gelesen, wo beschrieben wird wie Laurent allmorgendlich auf dem Weg zum Büro ins Leichenschauhaus vorbei schaut, ob Camilles Leiche schon aus der Seine gefischt wurde... Ich muss gestehen, dass mir der Ekel mancher Kritiker vor dem Buch jetzt etwas verständlicher geworden ist. Da werden recht krasse – aber realistische – Szenen beschrieben.
    Interessant ist auch die Tatsache, dass zu Zolas Zeiten anscheinend namenlose Selbstmörder oder Opfer von Gewaltverbrechen zwecks Identifizierung öffentlich zur Schau gestellt wurden. Sogar Minderjährige konnten einen Blick darauf werfen und laut Zola nutzten das „Scharen von Halbwüchsigen [...] Jungen von zwölf bis fünfzehn Jahren“ um erstmals den nackten Körper einer – toten!... – Frau zu sehen. Zola lapidar: „In der Morgue [frz. Leichenhalle] haben die jungen Lümmel ihre erste Geliebte.“ Vermute – angesichts der plastischen Schilderung von Wasserleichen und Selbstmördern – , Zola selbst wird diesen Ort auch das eine oder andere Mal persönlich aufgesucht haben.

  • Zitat von "Jana"


    Vorausdeutungen:
    In dem Text befinden sich viele Elemente, die schon auf das Ende hinweisen, [...] Laurents Portrait verweist ja auch auf weiteres.


    Ja, genau!... Es sind Stellen über die man beim ersten Mal unbemerkt hinwegliest, weil ihre volle Tragweite sich einem erst rückblickend oder beim zweiten Lesen erschliesst.


    Die Stelle im VI. Kapitel als Laurent Camille porträtiert lautet wörtlich:


    „[...]wider seinen Willen hatte er die fahlen Tönungen seines Modells übertrieben, und Camilles Gesicht ähnelte dem grünlichen Aussehen eines Ertrunkenen.“


    Das „Aussehen eines Ertrunkenen“... Jetzt – im Nachhinein – wird uns deutlich, dass Zola hier (VI. Kapitel) bereits den Ertrinkungstod Camilles ( XI. Kapitel) vorweg nimmt.


    Der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette führt für solche Stellen den Begriff „Vorhalt“ ein. Seine Definition lautet folgendermassen:
    Im Gegensatz zur Prolepse, die per definitionem explizit ist und etwas antizipiert, soll der Vorhalt bloss eine Erwartung wecken. Sie findet ihre Bedeutung erst später [...] Im Unterschied zum Vorgriff (Prolepse) ist der Vorhalt also im Prinzip, an seiner Stelle im Text, nur ein "unbedeutender Keim", den man kaum wahrnimmt und der als Keim erst später, und zwar retrospektiv, erkennbar wird. (Gérard Genette: „Die Erzählung“, UTB-Verlag, 1998.)


    Mit zunehmender Leseerfahrung ist es möglich, diese Stellen schon bei einem ersten Lesen zu erkennen, was sich manche Autoren zunutze machen; sie ködern den Leser mit falschen Vorausdeutungen und führen ihn somit in die Irre. Besonders beliebt ist das in Kriminalromanen.
    Hält der Autor seine Leser für so clever, dass sie sich von falschen Spuren nicht mehr verlocken lassen, dann schraubt er das Spiel einfach eine Ebene höher und ködert den Leser mit falschen falschen Spuren, die in Wirklichkeit aber echte Vorausdeutungen sind, usw.


    Gruss


    riff-raff

  • Hallo!


    Mir hat die Beschreibung sehr gefallen, wie Madame Raquin ihren kränklichen und eigentlich nicht lebensfähigen Sohn Camille dem Tod förmlich abgetrotzt hat; so oft, dass sie das Gefühl hat ihn nicht ein-, sondern gleich mehrmals zur Welt gebracht zu haben. Ihr Schmerz, als sie von seinem Tod erfährt, ist mir recht nahe gegangen.


    Überhaupt ... wenn man bedenkt wie lange es dauert, bis ein Mensch erwachsen ist, wie viele Klippen und Unwägbarkeiten es zu meistern gilt und dann genügt oft ein Augenzwinkern – und aus, vorbei... Das erscheint mir dermassen unverhältnismässig, das ist geradezu empörend...


    Wollte man böse sein, könnte man sagen, die ganze Schuld liege bei Madame Raquin. Wäre Camille ein Tier gewesen, er hätte schon angesichts seiner rein physischen Ausstattung nicht lange überlebt, dafür hätte schon die natürliche Auslese gesorgt (surviving of the fittest). Wie viel Leid hätte vermieden werden können... Ich denke dabei hauptsächlich an Thérèse, die am meisten darunter hat leiden müssen im Dunstschein des kranken Camille aufzuwachsen (so sehe ich Thérèse auch weit mehr als Opfer als Täterin). – Aber was soll’s... schliesslich kann man Madame Raquin keinen Vorwurf machen das getan zu haben, was jede Mutter für ihr Kind getan haben würde.


    Gruss


    riff-raff

  • Hallo zusammen


    Zitat von "Steffi"

    - aber die immerfortwährende Betonung des Elends und das Phlegma von Thérèse sind mir fast zu dick aufgetragen. Man merkt doch deutlich die Intention von Zola, diesen naturalistischen Stil ganz auszukosten.


    guter Gedanke, der mir half einen Schritt zurück zumachen und das ganze mit Abstand zu betrachten, denn für mich war trotz der Vorrede Zolas, Therese's Phlegma, ihr Desinteresse ihre neue Umgebung zu verschönern, nicht verständlich.

    Zitat von "Steffi"


    Gerade dadurch grenzt sich ja, so wie ich es verstanden habe, der Realismus vom Naturalismus ab und Zola erscheint mir da sehr konsequent. Der Mensch als Produkt seiner Umwelt und seiner sozialen Situation, ohne Hoffnung.


    Ich komme erst zum 10. Kapitel, aber ich sehe hier auch eine strenge Linie, die Zola verfolgt.


    Zitat von "riff-raff"

    Mir hat die Beschreibung sehr gefallen, wie Madame Raquin ihren kränklichen und eigentlich nicht lebensfähigen Sohn Camille dem Tod förmlich abgetrotzt hat; so oft, dass sie das Gefühl hat ihn nicht ein-, sondern gleich mehrmals zur Welt gebracht zu haben. Ihr Schmerz, als sie von seinem Tod erfährt, ist mir recht nahe gegangen.


    bisher gab es nicht viele Szenen die mir nahe ginge, aber die von dir erwähnte hat mich auch seltsam berührt.



    danke für die schönen Gedanken.
    Hinzufügen würde ich noch, dass in der ersten Kapiteln auch Stimmungen mit Farben in Verbindung gebracht werden.


    z.B. wenn die Donnerstagsgesellschaft kommt, sieht Therese alles durch einen gelben Schleier. Das würde ich mit Ohnmächtigkeit deuten.


    Als dann Lorenz auftauchte, sieht sie Rot. (= Leidenschaft).


    Zola baut m.E. alles um Therese auf. Die ersten 10 Kapitel enden auch immer mit Therese. Lorenz denkt zwar er agiert, doch er reagiert eigentlich nur auf Therese.


    In der Vorrede schreibt Zola, dass er Temperamente studieren wollte, nicht Charaktere.... den Naturtrieb hebt er hervor.


    Habt ihr bemerkt, dass er dazu Vergleiche hernimmt wie:
    -Laurent der Bauerssohn mit dem Stiernacken
    -Therese hat afrikanisches Blut das plötzlich wie wild erwacht.


    greift er hier nicht doch zu einem sozialen Hintergrund, das prägte und nun erwacht?


    Steffi, danke dass du den Begriff "Prozess-Symbol" erklärt hast. Sorry, Jana - das hatte ich versäumt.


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Zitat

    riff-raff: Wollte man böse sein, könnte man sagen, die ganze Schuld liege bei Madame Raquin. Wäre Camille ein Tier gewesen, er hätte schon angesichts seiner rein physischen Ausstattung nicht lange überlebt, dafür hätte schon die natürliche Auslese gesorgt (surviving of the fittest).


    Der Gedanke mit der natürlichen Auslese ist super. Denkst du da eventuell an Darwins Lehre?


    Ich merke jetzt, wie gut mir das mehrmalige Lesen des gesamten Textes tut. Ich verstehe jetzt, glaube ich, Zolas Ansatz "in den Gegebenheiten eines kraftvollen Mannes und einer unbefriedigten Frau das Tier aufzuspüren" (Vorwort).


    Da ist ein Figurenvergleich meiner Ansicht nach wichtig, um zu sehen wie sehr Laurent und Therese eigentlich nur durch ihre Triebe und Bedürfnisse zu Handlungen motiviert werden.
    Reclam, S. 37, Kapitel V Laurent ist ein absoluter Faulpelz. Seine Handlungen werden durch seine Triebe und Gelüste bestimmt. Als sein Vater ihn nicht mehr finanziell unterstützt und Laurent "am Horizont die Not aufsteigen sah, hatte er angefangen, nachzudenken. (...) er würde keinen einzigen Tag ohne Brot in Kauf genommen habe ..." Also verabschiedete er sich von seinen Malerambitionen und wurde Avokat. Zu Beginn war Therese für ihn auch eine leicht zu habende Frau, für die er kein Geld bezahlen musste. (VI. Kapitel)


    Bei Therese liegt es nur ein wenig anders. Bevor sie Laurent kennen lernte, befand sich Therese in einem immer gleichen einschläfernden Trott. Ihre eigentlichen Triebbedürfnisse hatte sie unterdrückt. Ihre Mutter war die "Tochter eines Stammeshäuptling" (S.49, VII. Kapitel) Therese hatte ihre Instinkte und wollte ebenso durch die Gegend pirschen.
    Thereses Leidenschaft und ihre Triebe werden durch den ersten Kuss, den sie mit Laurent austauscht, geweckt. (S. 47, VII Kapitel) "Ihr Körper wurde zur Leidenschaft geweckt."
    Und dann sind Laurent und Therese nur Leidenschaft und Trieb. Als beide in ihrem Ehebett sich miteinander verlustieren, gehorchen sie ihren Instinkten und Laurent wird versteckt, als Madam Raquin das Zimmer betritt. Bei beiden meldet sich im Anschluss daran nicht die Vernunft oder irgendein Anstandsgefühl. Keiner gesteht Camille das "Fremdgehen", den "Betrug" ein. Auch als Laurent Camille tötet, weiß der Leser nur: "vor Angst zitterten ihr (Therese) beim Gehen die Knie" (S. 79, XI. Kapitel) Nach dem Anschlag auf Camille, wird Therese ohnmächtig "ihre Nerven gaben nach". An Land angekommen, in einem Bett in einem Gasthaus liegend fürchtet sich Therese "in einem Anfall den Mord zu gestehen" (S.90, XII. Kapitel) Therese denkt hier nur an ihre eigene Leidenschaft mit Laurent zusammen zu sein. Ihr schlechtes Gewissen oder gar die Vernunft spielt hier keine Rolle.


    Zitat

    riff-raff: Wie viel Leid hätte vermieden werden können... Ich denke dabei hauptsächlich an Thérèse, die am meisten darunter hat leiden müssen im Dunstschein des kranken Camille aufzuwachsen (so sehe ich Thérèse auch weit mehr als Opfer als Täterin).


    Klar ist Therese als Kind leider, leider, leider von Madam Raquin abhängig und leider, leider, leider erhalten Thereses Leidenschaften bei der Madam nicht so viel Aufmerksamkeit, wie sie sollten. Dennoch ist Therese (auch wenn du das in deinem Beitrag zurecht!!!! überspitzt geschrieben hast) leider kein Opfer, sondern eine Mittäterin, die über die Folgen ihrer Leidenschaften (Beseitigung ihres Ehemannes durch Mord) nicht nachdenkt.


    Das Interessante an den Figuren Laurent und Therese ist ja, dass beide sehr leidenschaftliche und durch ihre Triebe gesteuerte erwachsene!!! Menschen/Figuren sind. Eigentlich könnte man davon ausgehen, dass Erwachsene auch verzichten können müssten bzw. die Folgen ihrer Handlungen mitdenken müssten. Das scheint mir aber bei Laurent und bei Therese nicht wirklich der Fall zu sein.


    Liebe Grüße Jana
    [/quote]

    Wer nicht lachen kann, ist nicht ernst zu nehmen. (Thomas Bernhard: Der Untergeher)

  • Hallo zusammen,


    hoffentlich seid ihr mir nicht böse, wenn ich mich hier zu Wort melde, ohne mitzulesen. Natürlich verfolge ich eure sehr interessante Diskussion, weil ich den Roman ja auch lesen will, nur im Moment nicht die Zeit finde. Aber jetzt bin ich auf eine Aussage gestoßen, die mich dazu bewogen hat, doch sofort mal in das Buch zu schauen und auch meine daraus entstandene andere Sicht zu äußern:


    Zitat


    Wollte man böse sein, könnte man sagen, die ganze Schuld liege bei Madame Raquin. Wäre Camille ein Tier gewesen, er hätte schon angesichts seiner rein physischen Ausstattung nicht lange überlebt, dafür hätte schon die natürliche Auslese gesorgt (surviving of the fittest). Wie viel Leid hätte vermieden werden können... Ich denke dabei hauptsächlich an Thérèse, die am meisten darunter hat leiden müssen im Dunstschein des kranken Camille aufzuwachsen (so sehe ich Thérèse auch weit mehr als Opfer als Täterin). – Aber was soll’s... schliesslich kann man Madame Raquin keinen Vorwurf machen das getan zu haben, was jede Mutter für ihr Kind getan haben würde.


    Zunächst mal glaube ich, dass Camille als „Tier“ wahrscheinlich länger überlebt hätte, als Thérèse als „Tier“. Camille war ja kein Krüppel oder sonst wie behindert, sondern nur kränklich und das ist auch im Tierreich so, dass Tiermütter sich um kränkliche Tiere besonders kümmern, insbesondere wenn keine Geschwister da sind. Eine Auslese beginnt ja erst, wenn von mehreren Geschwistern nicht genug Fressen für alle da ist. Ein Kleintier ohne Mutter, wie Thérèse, hat aber in der Regel keine Überlebenschance. Dass das „Vatertier“ ein Tierkind zur Tante bringt und diese es dann pflegt, ist m.M. nach humanes Verhalten, kein animalisches.


    Die Aussage Thérèse sei mehr Opfer als Täter halte ich für gefährlich. So könnte man jeden Mord entschuldigen. Die Tatsache, mit einem kränklichen „Bruder“ aufzuwachsen, kann nicht als Entschuldigung dienen, diesen später zu töten.




    Durch den Hinweis, dass der Romananfang an einen Filmanfang erinnert, habe ich mal nachgesehen ob das Buch schon mal verfilmt wurde. Und tatsächlich, Thérèse Raquin ist zwischen 1911 und 1960 fünf Mal verfilmt worden. Einmal mehr als der meistverfilmte deutsche Roman (Effi Briest).
    (Einen Link zu einer Liste aller Zola-Verfilmungen habe ich im Forum „.......Chronik“ zusammen mit anderen Links gepostet?).


    Gruß von Hubert

  • Zitat von "Hubert"

    Hallo zusammen,


    hoffentlich seid ihr mir nicht böse, wenn ich mich hier zu Wort melde, ohne mitzulesen. Natürlich verfolge ich eure sehr interessante Diskussion, weil ich den Roman ja auch lesen will, nur im Moment nicht die Zeit finde. Aber jetzt bin ich auf eine Aussage gestoßen, die mich dazu bewogen hat, doch sofort mal in das Buch zu schauen und auch meine daraus entstandene andere Sicht zu äußern:


    Hallo zusammen
    Hallo Hubert


    nein, ich finde es gut, dass du dich meldest. Ich denke über die diversen Anschauungen intensiv nach und mir war nicht ganz wohl bei dem Gedanken der natürlichen Auslese. Den Trieb, die Begierde nur im wissenschaftlichen Aspekt zusehen, ist für mich sehr schwierig. Das kannst du dir bestimmt vorstellen.


    Obwohl ich das Gefühl habe, dass es Zola auch nicht immer so gelingt, wie er es im Vorwort schreibt. Aber ich kann den Finger nicht drauf legen.


    Ich finde er erliegt einigen Klischee's, wenn man diese wegnimmt (die Bauernherkunft, das afrikanische Blut) - was bleibt dann?


    Auch die Äußerung zu Therese nachdem Kamill tot war und sie zu lesen begann, schreibt Zola in einem kurzen Satz: Sie wurde zur Frau , beschäftigt mich. Sie macht zum ersten Mal Bekanntschaft mit Ehre. Die Bücher geben ihr einen anderen Einblick der Situation, sie wird lebendiger und neigt nun zu Tagträume, nicht mehr zu Stumpfsinnigkeit.


    Was haltet ihr von der Wendung?


    Zitat


    Zunächst mal glaube ich, dass Camille als „Tier“ wahrscheinlich länger überlebt hätte, als Thérèse als „Tier“. Camille war ja kein Krüppel oder sonst wie behindert, sondern nur kränklich und das ist auch im Tierreich so, dass Tiermütter sich um kränkliche Tiere besonders kümmern, insbesondere wenn keine Geschwister da sind. Eine Auslese beginnt ja erst, wenn von mehreren Geschwistern nicht genug Fressen für alle da ist. Ein Kleintier ohne Mutter, wie Thérèse, hat aber in der Regel keine Überlebenschance. Dass das „Vatertier“ ein Tierkind zur Tante bringt und diese es dann pflegt, ist m.M. nach humanes Verhalten, kein animalisches.


    Die Aussage Thérèse sei mehr Opfer als Täter halte ich für gefährlich. So könnte man jeden Mord entschuldigen. Die Tatsache, mit einem kränklichen „Bruder“ aufzuwachsen, kann nicht als Entschuldigung dienen, diesen später zu töten.


    kurz: ich tendiere in meinen Gedanken in deine Richtung, nur kannst du es viel besser ausdrücken. Danke fürs "Einmischen" :winken:


    zu den täglichen Besuchen Laurent in der Leichenhalle wurde bereits ausführlich geschrieben. Ich fand es sehr erschreckend und ich war froh, diese Szenen hinter mir gelassen zu haben.


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo ihr Lieben,


    Zitat

    Auch die Äußerung zu Therese nachdem Kamill tot war und sie zu lesen begann, schreibt Zola in einem kurzen Satz: Sie wurde zur Frau , beschäftigt mich.


    Ich habe das Gefühl, dass Thereses Leidenschaft durch Laurent geweckt wurde und durch Camilles Tod wird ihre Vernunft geweckt. Die Leidenschaft zwischen Laurent und Therese nimmt direkt nach der Ermordung Camilles rapide ab, d.h. es gibt keine Leidenschaft mehr zwischen beiden. Dafür leiden beide an ihrem schlechten Gewissen.


    Verglichen mit der Entwicklung eines Menschen (sehr schematisch und skizzenhaft betrachtet), ist die Kindheit mit der Betonung der Triebe gleichzusetzen (also die Zeit, in der sich Laurent und Therese lieben) und das Erwachsensein mit der Zeit der Vernunft, des Gewissens usw. also die Zeit nach Camilles Tod.


    Liebe Grüße Jana

    Wer nicht lachen kann, ist nicht ernst zu nehmen. (Thomas Bernhard: Der Untergeher)