Hier kann zum ersten Buch, erster Teil, Kapitel 1-19 und und zweiter Teil, Kapitel 20- 23 geschrieben werden.
Musil - MoE 1, 1 - 23
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finsbury
Hat den Titel des Themas von „Musil - MoE 1, 1-23“ zu „Musil - MoE 1, 1 - 23“ geändert. -
Nun will ich mal starten. Weit bin ich noch nicht gekommen, doch die ersten fünf Kapitel haben mich schon sehr beeindruckt.
Kapitel 1: Hier wird schon das gestalterische Prinzip der Ironie, auf das der Kindler-Artikel hinweist, an der Zeit - und Ortsgestaltung deutlich. Um die Zeit zu kennzeichnen, wird die meteorologische Lage eines bestimmten Augusttages genau erläutert, um dann als völlig durchschnittlich dargestellt zu werden. Auch Wien wird anhand seiner Bewegungsspuren von Transportmitteln und Menschen als scheinbar unverwechselbar dargestellt, aber ebenfalls direkt danach wieder generalisiert zu einem durchschnittlichen Handlungsort unter den großen Städten.
Ebenfalls werden scheinbar zwei Personen des Romans, Arnheim und Ermelinda Tuzzi eingeführt, um direkt wieder ihre Individualität zu verlieren und nur als pars pro toto zu fungieren.Kapitel 2: Wir folgen einem der oben genannten Bewegungsströme und gelangen zu einem gepflegten Garten mit einem kleinen Palais, der uns schon im Kapiteltitel als Wohnort des Mannes ohne Eigenschaften benannt wird. Dieser ist mit einer abstrusen Berechnung beschäftigt, die die Alltagsleistung eines durchschnittlichen Bürgers mit der eines kürzere Zeit stark körperlich Tätigen zugunsten des Ersteren vergleicht und daraus sogar eine vergleichende Aussage über Heldenhaftigkeit zieht, diese aber dann sofort wieder als unwichtig relativiert.
Kapitel 3 führt uns die Familie der Hauptperson, insbesondere den Vater vor, den Prototyp eines gesellschaftlichen Aufsteigers durch Fleiß und kluges Nutzen von Beziehungen. Ihm wird eine Echtheit des Verhaltens bescheinigt, die in der Übereinstimmung mit seiner Überzeugung besteht.
Kapitel 4 beinhaltet den Vergleich zwischen Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn. Soweit ich es verstanden habe, geht der Wirklichkeitssinn von dem Vorhandenen aus und arbeitet damit, während der Möglichkeitssinn sich bei jedem Gegenstand und jeder Situation davon inspirieren lässt, wie viele Möglichkeiten sich hier bieten, ohne eine von ihnen zu ergreifen. Ein solcher, vom Möglichkeitssinn geprägter Mensch wie unser Held Ulrich ist dann eher passiv und träumerisch, bildet eben keine klar umrissenen Eigenschaften heraus. Hier wüsste ich gerne, ob Musil an ein philosophischen Konzept und wenn ja, von wem, anknüpft.Kapitel 5 bildet Ulrichs Lebenslauf bis zu seinem zweiunddreißigsten Lebensjahr nach, als er von Auslandsreisen zurückkehrt und sich das kleine Palais als Wohnung einrichtet.
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Du bist ja schon weit gekommen
Ich werde am Sonntag oder Montag beginnen, ich möchte vorher noch mein Buch beenden.
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Wir haben ja alle Zeit, und mehr habe ich bisher auch nicht gelesen, weil ich auch noch ein paar parallele Lektüren habe. Vielleicht heute ein paar Kapitel ... .
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Ich schleiche noch nach, war bis gestern in Urlaub und muss auch vorher noch eine andere Lektüre beenden.
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Willkommen zurück, Zefira. Ich habe ja auch noch Nebenlektüren, auch für eine analoge Leserunde und ein Sach- und Lyrikbuch. Gehen wir es ruhig an.
Ich habe mittlerweile drei weitere Kapitel gelesen.
Kapitel 6: Passend zu seiner eigenen Unbestimmheit hat Ulrich eine Sängerin als Geliebte, die keine Ecken und Kanten äußerlich und charakterlich hat, gut schweigen kann und statuarisch aus der Zeit gefallen gut aussieht. Sie hört sich leider in seinen Ohren etwas zu gerne singen und ist vor allem sehr gefräßig, was sie mit einem modischen Habitus in Restaurationen verbinden möchte. Musil hat schon sehr lustige Einfälle. Ich fühlte mich an Ferreris "Das große Fressen" erinnert, wobei das Stilvolle mit dem Verfressenen dort genauso wenig funktioniert wie bei Leona, auch wenn sie es selber denkt.
Kapitel 7: Ein Exkurs in das Thema Gewalt, wieder völlig von hinten aufgezäumt. Anstatt, dass der Angriff auf Ulrich von seiner sozialen oder psychologischen Seite her aufgerollt wird, sehen wir den Überfall aus Ulrichs Sicht, der kaum auf den Raub- und Verletzungsaspekt eingeht, sondern das Ganze von der sportlichen Seite her analysiert und erkennt, dass er falsch reagiert habe. Aber zumindest lernt er in Folge dieses Überfalls in seiner Retterin seine neue - bisher noch namenlose - Geliebte kennen, die von dieser Coolness Ulrichs fasziniert scheint.
Kapitel 8, wohl ein Kernkapitel. Es geht um Kakanien. Ich Stiesel habe erst in diesem Kapitel erkannt, dass das oft im Zusammenhang mit dem MoE erwähnte Kakanien lautmalerisch für die K -K- Monarchie steht. Kakanien zeichnet ebenfalls eine große Unbestimmtheit aus, überall sieht der Erzähler eine mittlere Größe, bei der Armee, der Industrialisierung, der Regierungsform usw. Alles Gute hat auch seine andere Medaillenseite. Auch der kakanische Bürger ist ein komplexes, kaum greifbares Geschöpf mit bis zu zehn Charakteren, wobei der zehnte wieder aus jener Unbestimmtheit selbst besteht. -
Nun will ich mal starten. Weit bin ich noch nicht gekommen, doch die ersten fünf Kapitel haben mich schon sehr beeindruckt.
Kapitel 1: Hier wird schon das gestalterische Prinzip der Ironie, auf das der Kindler-Artikel hinweist, an der Zeit - und Ortsgestaltung deutlich. Um die Zeit zu kennzeichnen, wird die meteorologische Lage eines bestimmten Augusttages genau erläutert, um dann als völlig durchschnittlich dargestellt zu werden. Auch Wien wird anhand seiner Bewegungsspuren von Transportmitteln und Menschen als scheinbar unverwechselbar dargestellt, aber ebenfalls direkt danach wieder generalisiert zu einem durchschnittlichen Handlungsort unter den großen Städten.
Ebenfalls werden scheinbar zwei Personen des Romans, Arnheim und Ermelinda Tuzzi eingeführt, um direkt wieder ihre Individualität zu verlieren und nur als pars pro toto zu fungieren.Ein Tag im August, ein schöner Tag, ist in Wien immer ein Vorbote des kaiserlichen Geburtstags. 1913 ein Jahr vor dem ersten großen Krieg. Die Schlechtwetterfront droht schon Richtung Russland zu ziehen. Die Weltordnung in Kakanien (k.u.k. Monarchie) wird nicht mehr lange bestehen. Es wird der letzte Kaisergeburtstag sein, den er immer im Salzkammergut verbringt, wo auch Ermelinda Tuzzi veweilt. Das letzte Mal vor dem Krieg. Wien steht an der Wende zur Moderne. Lastwagen fahren auf den zu engen gepflasterten Straßen. Das system ist absolutistisch und der modernen Technik nicht so zugewandt. Noch passieren schwere Unfälle, aber die Technik ist am Vormarsch. Die Dame von Welt ist von der alten Welt. Sie beobachtet den verunfallten Mann und kann mit den fachspezifischen Aussagen über den Bremsweg nichts anfangen, aber es gibt für sie eine Erklärung damit gibt sie sich zufrieden.
Das erste Kapitel ist eine Art Standortbestimmung. "woraus bemerkenswerterweise nichts hervorgeht"
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So abstrus ist die Berrechnung gar nicht in Kapitel 2. Es wird gegenübergestellt, ob eine kurzfristige Einzelleistung einer kollektiven Alltagsleistung von Bürgern gleichzusetzen ist. Die ausdauernde Leistung der Bürger ist allerdings höher zu bewerten. Sie leisten für die Gesellschaft mehr als einer, der fünf Minuten am Tag Höchstleistungen erbringt.
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Vielen Dank für die interessanten Hinweise, @ b.a.t.. Man merkt, dass du den Roman mit deutlich mehr Hintergrundwissen angehst.
Mit "abstrus" meinte ich eher die Art der Berechnung und dass ihr Ergebnis gleich auf Heldentum angerechnet wurde.
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Wie an anderer Stelle schon geschrieben, hat mich der Anfang des Romans gleich in seinen Bann gezogen. Der erste Abschnitt mit genauen meteorologischen und astronomischen Ausführungen, die sich auf den letztlich geäußerten Satz „Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913“ eindampfen lassen, haben bei mir Lust und Neugier entfacht. Anderswo wird eben mit einem Allerweltssatz wie dem zitierten eingestiegen, hier kündigt sich gewissermaßen schon an, was zumindest die ersten Kapitel und (womöglich?) den Roman [auch] kennzeichnet: sehr genaue und dichte Beschreibungen, in langen, verschachtelten Sätzen, an denen ich gerne etwas verweile, weil sie auf mich komponiert (oder zumindest: äußerst durchdacht) wirken, nicht manieriert.
In Kapitel 5 „Ulrich“:
„Er wurde damals in dem vornehmen Gymnasium der Theresianischen Ritterakademie erzogen, das die edelsten Stützen des Staates lieferte, und sein Vater, erbost über die Beschämung, die ihm sein weit vom Stamme gefallener Apfel bereitete, schickte Ulrich in die Fremde fort, in ein kleines belgisches Erziehungsinstitut, das in einer unbekannten Stadt lag und, mit kluger kaufmännischer Betriebsamkeit verwaltet, bei billigen Preisen einen großen Umsatz an entgleisten Schülern hatte. Dort lernte Ulrich, seine Mißachtung der Ideale anderer international zu erweitern.“
„Es ist schon angedeutet worden, daß er Mathematiker war, und mehr braucht davon noch nicht gesagt zu werden, denn in jedem Beruf, wenn man ihn nicht für Geld, sondern um der Liebe willen ausübt, kommt ein Augenblick, wo die ansteigenden Jahre ins Nichts zu führen scheinen. Nachdem dieser Augenblick längere Zeit angedauert hatte, erinnerte sich Ulrich, daß man der Heimat die geheimnisvolle Fähigkeit zuschreibe, das Sinnen wurzelständig und bodenecht zu machen, und er ließ sich in ihr mit dem Gefühl eines Wanderers nieder, der sich für die Ewigkeit auf eine Bank setzt, obgleich er ahnt, daß er sofort wieder aufstehen wird.“
Die Spannung, die beim Kennenlernen seiner Geliebten nach dem Boxkampf (es war ja eine Schlägerei, die nachträglich mehrfach unter sportlichen Aspekten er- und geklärt werden will) auf der Heimfahrt in der Luft liegt, wird folgendermaßen beschrieben:
„Er fühlte etwas mütterlich Sinnliches neben sich, eine zarte Wolke von hilfsbereitem Idealismus, in deren Wärme sich jetzt die kleinen Eiskristalle des Zweifels und der Angst vor einer unüberlegten Handlung zu bilden begannen, während er wieder Mann wurde, und sie füllten die Luft mit der Weichheit eines Schneefalls.“
„(…) er bemerkte nun, daß seine Nachbarin das nicht im geringsten verstand, dennoch war der weiche Schneefall, den sie im Wagen verbreitete, noch dichter geworden.“
Die Suche nach dem Besonderen, Herausragenden, Genialen in einem Selbst, scheint mir bisher ein roter Faden zu sein – nicht nur die Hauptfigur Ulrich betreffend. (Das 9. Kapitel trägt den Titel „Erster von drei Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden“, die weiteren folgen in 10 und 11)
Ich habe vorhin das Kapitel “Jugendfreunde” gelesen, das mich besonders fasziniert hat. Mir imponieren Musils Beschreibungen sehr (hatte ich das schon geschrieben?), denen es gelingt, schwer Faßbares oder komplexe Verhältnisse prägnant in Worte zu kleiden. Wie er beispielsweise die langjährige Beziehung der nun verheirateten Jugendfreunde Walter und Clarisse in wenigen Seiten charakterisiert, auch über die Verbindung zur Musik, insbesondere der Wagners, finde ich in seiner Dichte und Klarheit schon bemerkenswert.
Da wird aus Walter, dem gleich auf vielen Feldern äußerst begabten jungen Mann, fasst so etwas wie ein Hochstapler, zumindest jedoch einer, der Clarisses Ansprüchen nicht mehr genügt. Walter ist sich dessen bewusst. Hier gefällt mir, wie die Leichtigkeit und das Mindergewicht (also aus geistiger Sicht) verknüpft werden, wie Walters streben nach wahrer Größe ihn immer kleiner werden lässt. (Diese Gegensätze sind mir nun schon desöfteren aufgefallen, z.B. im obigen Zitat mit der Bank).
"Obgleich er natürlich wie jedermann bereit war, an seine Erfolge als ein persönliches Verdienst zu glauben, hatte ihn doch sein Vorzug, daß er von jedem Glückszufall mit solcher Leichtigkeit emporgehoben wurde, seit je wie ein beängstigendes Mindergewicht beunruhigt, und so oft er seine Tätigkeiten und menschlichen Verbindungen wechselte, geschah es nicht bloß aus Unbeständigkeit, sondern in großen inneren Anfechtungen und von einer Angst gehetzt, er müsse um der Reinheit des inneren Sinnes willen weiterwandern, ehe er dort Boden fasse, wo sich das Trügerische schon andeute. Sein Lebensweg war eine Kette von erschütternden Erlebnissen, aus denen der heroische Kampf einer Seele hervorging, die allen Halbheiten widerstand und keine Ahnung davon hatte, daß sie damit der eigenen diente. Denn während er um die Moral seines geistigen Tuns litt und kämpfte, wie es einem Genie zukommt, und den vollen Einsatz für seine Begabung erlegte, die nicht zu Großem genügte, hatte ihn sein Schicksal still innen im Kreis zum Nichts zurückgeführt."
Auch in diesem Kapitel wird wieder auszuloten versucht, was das Genie ausmacht (man denke etwas zurück, an das geniale Rennpferd), woran man es bemisst, ob man Mangel an Begabung durch Fleiß und Willen wettmachen kann.
"Aber sie hielt Genie für eine Frage des Willens. Mit wilder Energie hatte sie sich das Studium der Musik anzueignen gesucht; es war nicht unmöglich, daß sie überhaupt nicht musikalisch war, aber sie besaß zehn sehnige Klavierfinger und Entschlossenheit; sie übte tagelang und trieb ihre Finger wie zehn magere Ochsen an, die etwas übermächtig Schweres aus dem Grund reißen sollen. In der gleichen Weise betrieb sie die Malerei. Sie hatte Walter seit ihrem fünfzehnten Jahr für ein Genie gehalten, weil sie stets die Absicht gehabt hatte, nur ein Genie zu heiraten. Sie erlaubte ihm nicht, keines zu sein. Und als sie sein Versagen merkte, wehrte sie sich wild gegen diese erstickende, langsame Veränderung in ihrer Lebensatmosphäre. Gerade da hätte nun Walter menschliche Wärme gebraucht, und er drängte, wenn ihn seine Ohnmacht quälte, zu ihr wie ein Kind, das Milch und Schlaf sucht, aber Clarissens kleiner, nervöser Leib war nicht mütterlich. Sie kam sich von einem Parasiten mißbraucht vor, der sich in ihr einnisten wollte, und sie verweigerte sich. Sie verhöhnte die wallende Waschküchenwärme, in der er Trost suchte. Es kann sein, daß das grausam war. Aber sie wollte die Gefährtin eines großen Menschen sein und rang mit dem Schicksal."
"Grausam" trifft es hier gut; für mich als Leser steckt in solchen kurzen Abschnitten ungeheuer viel. Kein Wort wirkt verschwendet oder zuviel, im Gegenteil, ich bewundere, dass es gelingt, in so wenigen Sätzen, so viel zu sagen. Für mich ist das bisher schon eine besondere Qualität des Romans, die ich aufgrund des Umfangs so nicht erwartet habe.
Die Jahrhundertwende vom 19. ins 20., der um sich greifende Wandel, gesellschaftlich, auch innerhalb der Generationen, ist bisher ein weiteres Thema des Romans. Sehr widersprüchlich und als "Ereignislein" im Kapitel 15 "Geistiger Umsturz" einzufangen versucht.
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Arg viel weiter bin ich noch nicht gekommen, bleibe aber bei meiner ersten Begeisterung. Insbesondere aus sprachlicher Sicht hebt sich das schon von vielen Romanen ab. Die Dichte des Romans zwingt mir dann auch seinen eigenen Rhythmus auf, dem ich bisher aber gerne folge.
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Da bist du ja schon weit vorausgeeilt, Krylow. Ich habe erst das 13. Kapitel abgeschlossen, stehe also noch vor dem von dir so gelobten Kapitel "Jugendfreunde".
Mir imponieren Musils Beschreibungen sehr (hatte ich das schon geschrieben?), denen es gelingt, schwer Faßbares oder komplexe Verhältnisse prägnant in Worte zu kleiden.
Das sehe ich auch so. Musil ist großartig darin, dem Leser mit treffenden Vergleichen und Metaphern sowie anschaulichen Adjektiven, Sachverhalte, Stimmungen, Beziehungen oder Trends zu veranschaulichen.
Beispiel aus Kapitel 13, als es darum geht, dass Sportler und sogar ihre Tiere in der Zeitstimmung zu Helden werden:
"Aber gerade da las Ulrich irgendwo, wie eine vorverwehte Sommerreife, plötzlich das Wort 'das geniale Rennpferd'" .Wunderbar, wie er hier den Trend in seinen Anfängen kennzeichnet. Oder kurz danach:
"und als er sich nun nach wechselvollen Anstrengungen der Höhe seiner Bestrebungen vielleicht hätte nahefühlen können, begrüßte ihn von dort das Pferd, das ihm zuvorgekommen war."Die Metapher und die gleichzeitig damit bewirkte Ironie, die Ulrichs hehre Anstrengungen, seinem Leben Bedeutung zu verleihen, damit verbindet, relativieren insgesamt die ernsten Ausführungen zur Kunst der Mathematik und dem Unterschied zwischen Rationalisten und emotional bestimmten Menschen und Denkrichtungen, zeigen aber gleichzeitig die Verletzlichkeit Ulrichs, der sein Streben lächerlich gemacht sieht.
Die Dreiteilung der Entwicklung Ulrichs (Kap. 9 -11) in seinen jungen Erwachsenenjahren könnte man fast als Anschauungsmaterial für Entwicklungspsychologie nehmen. Von dem Wunsch, einfach durch Stärke und Position seine Bedeutung zu manifestieren, über die rationale Arbeit bis hin zur grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den Funktionsweisen der Natur- und Ingenieurwissenschaften durch die Beschäftigung mit ihrer Grundlagenwissenschaft Mathematik durchläuft Ulrich mögliche Positionierungen in der und Anschauungen der Welt.Ansonsten kann ich bisher zu den Personen nur feststellen, dass Männer außer dem Vater bisher kaum vor und die Frauen als sehr passive und emotional labile Wesen (Kap. 12) schlecht wegkommen.
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Da bist du ja schon weit vorausgeeilt, Krylow. Ich habe erst das 13. Kapitel abgeschlossen, stehe also noch vor dem von dir so gelobten Kapitel "Jugendfreunde".
Bei bisher durchschnittlich ca. 3 Seiten pro Kapitel bin ich wohl nur ein paar Schritte weiter geschlichen.
Worüber ich öfter schmunzeln muss, sind die Parallelen zur heutigen Zeit, was die Beschreibungen der Umbrüche anbelangt, wie beispielsweise im Kapitel 16 "Eine geheimnisvolle Zeitkrankheit". Man könnte das wahrscheinlich auf jede Zeit der Veränderung in gewisser Weise anwenden, dennoch ist es immer wieder amüsant und auch ein bisschen beruhigend, dass sich die Probleme zu wiederholen scheinen, gleichzeitig aber auch beunruhigend, da man scheinbar nichts aus der Vergangenheit gelernt hat (oder jede Generation die Fehler der vorherigen aufs Neue begeht.)
Auch die Beobachtungen im 16. Kapitel sind wieder messerscharf und viele Sätze bieten sich für die Zitatesammlung an, mir gefiel der Absatz zur Dummheit besonders:
"So hatte sich also die Zeit geändert, wie ein Tag, der strahlend blau beginnt und sich sacht verschleiert, und hatte nicht die Freundlichkeit besessen, auf Ulrich zu warten. Er vergalt es seiner Zeit damit, daß er die Ursache der geheimnisvollen Veränderungen, die ihre Krankheit bildeten, indem sie das Genie aufzehrten, für ganz gewöhnliche Dummheit hielt. Durchaus nicht in einem beleidigenden Sinn. Denn wenn die Dummheit nicht von innen dem Talent zum Verwechseln ähnlich sähe, wenn sie außen nicht als Fortschritt, Genie, Hoffnung, Verbesserung erscheinen könnte, würde wohl niemand dumm sein wollen, und es würde keine Dummheit geben. Zumindest wäre es sehr leicht, sie zu bekämpfen. Aber sie hat leider etwas ungemein Gewinnendes und Natürliches. Wenn man zum Beispiel findet, daß ein Öldruck eine kunstvollere Leistung sei als ein handgemaltes Ölbild, so steckt eben auch eine Wahrheit darin, und sie ist sicherer zu beweisen als die, daß van Gogh ein großer Künstler war. Ebenso ist es sehr leicht und lohnend, als Dramatiker kräftiger als Shakespeare oder als Erzähler ausgeglichener als Goethe zu sein, und ein rechter Gemeinplatz hat immerdar mehr Menschlichkeit in sich als eine neue Entdeckung. Es gibt schlechterdings keinen bedeutenden Gedanken, den die Dummheit nicht anzuwenden verstünde, sie ist allseitig beweglich und kann alle Kleider der Wahrheit anziehen. Die Wahrheit dagegen hat jeweils nur ein Kleid und einen Weg und ist immer im Nachteil."
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Das 16. Kapitel habe ich nun auch beendet.
Das Kapitel über die Jugendfreunde (14) war tatsächlich interessant, allerdings von einer merkwürdigen Denke geprägt, von der ich noch nicht einschätzen kann, ob sie der des Autors entspricht. Das Ziel des Lebens ist es für die beiden Jugendfreunde und auch für Clarisse - damaligem Rollenverständnis zu Folge als Unterstützerin ihres Partners - gesellschaftlich anerkannte Bedeutung, ja Größe zu erreichen. In welchem Bereich ist eigentlich egal, Hauptsache besonders und bewundert. Das zeigt sich in Walther, indem er in allen vier Künsten begabt dilettiert und in Ulrich, der eher im zivilisatorischen als im künstlerischen Bereich das Besondere verkörpern will. Ulrich wird über die Unerreichbarkeit dieses Ziels zum Mann ohne Eigenschaften, Walther zur komischen, von der eigenen Frau verachteten Figur. Schlimm! Für mich ist dieses Kapitel mehr noch als die beiden folgenden ein Zeichen für die Hohlheit einiger Vorstellungswelten dieser Zeit um die Jahrhundertwende.
Der Erzähler kritisiert die Durchschnittlichkeit der letzten Jahrzehnte des 19.Jahrhunderts (15, Geistiger Umsturz), die nichts Eigenes schaffen und stattdessen die Meisterwerke der Antike trivialisieren, indem sie sie überperfektioniert und damit entseelt in ihre Epoche übertragen. Dennoch nennt er Nietzsche und Hebbel als Größen jener Zeit und vergisst darüber, dass andere Sprachen zu jener Zeit Großes geschaffen haben (Frankreich, GB in der Literatur) und es ja immerhin auch einen Brahms, einen Schumann, Bruckner, die jungen Richard Strauß und Mahler gegeben hat. Bei der bildenden Kunst kenne ich mit der zeitlichen Einordnung nicht so auf Anhieb aus, meine aber, dass der Impressionismus in diese Phase fällt.
Was du, Krylow über die geheimnisvolle Zeitkrankheit (16) schreibst, sehe ich genauso. Ich hatte ebenfalls die jetzige Zeit vor Augen, dachte aber auch daran, dass die meisten Generationen einiges davon wohl über die vorhergehende und die folgenden Generationen denken. -
Ich bin noch überhaupt nicht weit, erst am Anfang von Kapitel 8, "Kakanien", angekommen. Ich wusste nicht (oder hatte vergessen), dass der Begriff "Kakanien" von Musil geprägt wurde.
Auch die Sprachbilder gefallen mir ausnehmend gut.
Zwei Sätze hatte ich mir rausgeschrieben:
Auf Seite 22 über Leona: "In ihrem ausgedehnten Körper brauchte jeder Reiz wunderbar lange, bis er das Gehirn erreichte ..."
und auf Seite 30 das gleiche Zitat wie Krylow:
"... er bemerkte nun, daß seine Nachbarin das nicht im geringsten verstand, dennoch war der weiche Schneefall, den sie im Wagen verbreitete, noch dichter geworden.“
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Ich bin noch überhaupt nicht weit, erst am Anfang von Kapitel 8, "Kakanien", angekommen. Ich wusste nicht (oder hatte vergessen), dass der Begriff "Kakanien" von Musil geprägt wurde.
Auch die Sprachbilder gefallen mir ausnehmend gut.
Zwei Sätze hatte ich mir rausgeschrieben:
Auf Seite 22 über Leona: "In ihrem ausgedehnten Körper brauchte jeder Reiz wunderbar lange, bis er das Gehirn erreichte ..."
und auf Seite 30 das gleiche Zitat wie Krylow:
"... er bemerkte nun, daß seine Nachbarin das nicht im geringsten verstand, dennoch war der weiche Schneefall, den sie im Wagen verbreitete, noch dichter geworden.“
Ja, dass der Begriff Kakanien durch Musil berühmt wurde, wusste ich, aber mir ist auch erst in dem Kapitel klar geworden, wie er gebildet wurde.
Die beiden von dir ausgesuchten Zitate, zeigen, dass der Erzähler bei diesen ersten weiblichen Figuren im Roman das Weiche, Passive herausstreicht. Ganz anders wird es in Kapitel 14 mit der Jugendfreundin Clarisse, die eher das Gegenteil verkörpert, bebende Energie.Das 17. Kapitel erklärt zum ersten Mal (?) den Begriff "Mann ohne Eigenschaften" durch eine andere Person - als Ausdruck des eifersüchtigen Walthers für Ulrich, dessen Einflussnahme auf Clarisse er fürchtet. Er begründet das damit - wenn ich es richtig verstanden habe -, dass Ulrich alles analysiert, also in Einzelteile zerlegt, aber nicht das Wesen hinter den Dingen, Personen und Umständen sieht. Mit Clarisse ist Musil eine interessante Frauenzeichnung gelungen, die mich mehr anspricht als die bisherigen, mehr vegetativen Frauen. Clarisse ist voller Energie, Härte und Zielstrebigkeit, weiß nicht mehr so recht, wie sie mit ihrem ganz anders gearteten Ehemann klarkommen soll, was bis zur körperlichen Verweigerung geht. Bin gespannt, wie es mit diesem merkwürdigen Paar weitergeht.
Im 18. Kapitel lernen wir den Mörder Moosbrugger kennen, von dem sich Ulrich fasziniert zeigt, ein Mann mit einem besonders freundlich-patenten Auftreten, der dennoch Abgründe in sich hat, die er selber zu verstehen sucht, indem er sich der psychologischen Beurteilung entzieht und versucht, sich seine Taten durch seine Lebensbedingungen zu erklären, was dazu führt, dass er sich letzten Endes selbst in sein Todesurteil hereinreitet, da der Richter nicht bereit ist, hinter seine ungeschickten Formulierungen zu sehen.
Das letzte, 19. Kapitel des ersten Teils bringt einen Brief von Ulrichs Vater, der diesen ungefragt und reichlich übergriffig in das Amt der Organisation des 70. Thronjubiläums des alten Kaisers für das Jahr 1918 hereintreibt. Mal sehen, wie Ulrich damit umgehen wird. -
Nun bin ich mit den ersten 23 Kapiteln fertig. Zu Beginn des zweiten Teils (Kap. 20-22) beginnt nun die Schilderung der "Parallelaktion" (70. Thronjubiläum 1918) und der an ihr beteiligten Personen. Die Grafen Stallburg und Leinsdorf sind adelsstolze konservative Politiker im nahen Umkreis des Kaisers, die sich der Würde ihres Monarchen und ihrer Stellung so sehr bewusst sind, dass sie schon vom Aussehen her sich völlig assimilieren (Stallburg) bzw. sich gar nicht vorstellen können, dass andere Meinungen oder Weltbilder überhaupt existenzberechtigt sind:
[Leinsdorfs politische Anschauungen hatten]" aber ein außerordentliche Festigkeit und jene Freiheit eines großen Charakters, die nur durch die vollkommene Abwesenheit von Zweifeln ermöglicht wird. "
Und die dritte im Bunde ist schließlich Ermelinda Tuzzi, von Ulrich Diotima benannt, die ehrgeizige Frau eines Bürgerlichen, der im Außenministerium Karriere gemacht hat und dem Außenminister unmittelbar zuarbeitet. Sie ist ebenfalls an der Parallelaktion beteiligt. Sie ist weitläufig mit Ulrich verwandt, der sie aber bisher gemieden hat und eigentlich überhaupt nichts mit der Parallelaktion zu tun haben will. Dennoch wird er wohl da hinein gezogen werden.
Ermelinda ist aber im Moment gar nicht sehr an Ulrich interessiert, weil sie einem superreichen deutschen Industriellen - Dr. Paul Arnheim - begegnet ist, der sie aufgrund dieses Reichtums fasziniert (Kap. 23). In diesem Kapitel zeigt Musil wieder besonders seine Sprachkunst durch griffige Bilder bei der Charakterisierung:[Über Ermelinda] "Sie hatte in ihrer Mädchenzeit nichts gehabt als ihren Stolz, und da dieser hinwiederum nichts hatte, worauf er stolz sein konnte, war er eigentlich nur eine eingerollte Korrektheit mit ausgestreckten Taststacheln der Empfindsamkeit gewesen."
Ich mache jetzt erstmal Lesepause und warte mal ab, was von eurer Seite kommt. Sollte jemand über das 23. Kapitel in diesem Monat hinauslesen wollen, lese ich auch wieder weiter.
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Ich habe jetzt bis einschließlich Kapitel 19 gelesen, den ersten Teil also beendet. Ich komme nur sehr langsam, kapitelweise, voran und lese auch zwischendurch anderes.
Zwei interessante Figuren werden beschrieben, zum einen Clarisse (siehe oben, finsbury), zum anderen der Mörder Moosbrugger, der mit unbeschreiblicher Gewalt eine Prostituierte nicht nur tötet, sondern gleich auch noch verstümmelt.
Was die Zeitkrankheit anbelangt, stimme ich finsbury zu:
dass die meisten Generationen einiges davon wohl über die vorhergehende und die folgenden Generationen denken.
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Ich bin auch nur sehr langsam unterwegs, hab kaum Zeit zum Lesen derzeit. Ich merke aber immer wieder, dass ich déja vus habe. Die Anspielungen auf Nietzsches Perspektivismus und die Notizen die ich mir damals dazu an den Rand geschrieben habe tauchen wieder auf.
Bislang konnte ich mich zurückhalten und nicht zu "Menschliches allzu Menschliches" und Hegels "Phenomenologie des Geistes" greifen. Ich bin mir sicher, dass ich mich darin verliere und ich dann das nächste halbe Jahr nichts anderes mehr lese.
Die ersten 14 Kapitel habe ich durch, aber morgen geht es 16 Stunden mit dem Auto in den Süden,ich schleppe das Buch nun doch mit, werde es aber auch wie pengulina langsam lesen.
Ulrich ist in allen seinen Versuchen, in denen er herausragende Leistungen bringen wollte gescheitert. Seine Eigenschaften zum Wesentlichen und zum Ruhm sind nicht vorhanden.
Lokale Begebenheiten haben mich amüsiert. Die Theresianische Akademie gibt es ja heute noch. Ist eine Art Elitegymnasium in Wien. Die diplomatische Akademie ist auch am Campus der Schule. Dass er da rausgeflogen ist, ist nicht verwunderlich. Nur die besten gehen aus der Schule hervor und die meisten werden berühmt, wenn sie es darauf anlegen. Eigenschaftslos geht es dann leider nur noch in die Militärakademie. Das Habsburgerreich war aber eher berühmt für die strategischen Hochzeiten, weniger für die militärischen Errungenschaften. Gerade gegen Ende des 19. JH wurde ja schon ein großer Teil des Reichs in unnötigen Schlachten verloren. Viele der Beteiligten waren eigenschaftslose ähnlich wie Ulrich.
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Wie würdest du dieses "eigenschaftslos" definieren, @b.a.t? Da ich bisher kaum Sekundärliteratur gelesen habe und mir selber noch nicht richtig klar ist, was der Begriff bedeutet, wäre ich da für ein paar Anmerkungen sehr dankbar!
Auch über die Verbindung zu Nietzsche und Schopenhauer könntest du vielleicht etwas schreiben?! Von Nietzsche habe ich nur wenig, von Schopenhauer nichts gelesen.
pengulina, ich glaube, mit dem Moosbrugger werden wir uns noch mehr auseinandersetzen müssen, scheint eine wichtige Gestalt zu sein.
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Ja, das würde ich auch gern wissen. Es gibt ja mindestens ein ganzes Buch zu dieser Frage. Ich würde es zunächst mal einfach als konturenlos, beliebig, verstehen, aber es hat sicher noch mindestens eine andere Bedeutung.
Wie würdest du dieses "eigenschaftslos" definieren?
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Ich habe das eigenschaftslos darauf bezogen, dass er ja drei Versuche gestartet hat ein bedeutender Mann zu werden, aber alle drei Versuche sind irgendwie gescheitert, weil er nicht die dazu nötigen Eigenschaften besaß.
Zu Nietzsche und dem Perspektivisumus und die Umkehr davon kann ich gerne ein paar Zeilen schreiben, allerdings erst in den nächsten Tagen. Ich nehm das Buch ja mit in den Urlaub (anders als geplant eine ganze Büchertasche )
Heute Abend noch 16 Stunden Autofahrt und wenn ich danach wieder aufnahmefähig bin, scherib ich was dazu.