Michail Bulgakow - Die weiße Garde

  • Ich stehe jetzt im 2. Teil und vor dem 9. Kapitel und muss einmal gestehen, dass ich große Probleme mit dem Roman habe, und zwar nicht alleine wegen des verwirrenden geschichtlichen Hintergrundes, der sich in ihm spiegelt, sondern vor allem wegen der Erzählweise Bulgakows. Man merkt dem Roman die gleichzeitige Konzeption als Theaterstück an, ein Stück allerdings, das in teils kleinste Einzelszenen zerrissen ist. Besser noch stelle ich mir das Ganze als Film vor mit schnellen Schnitten und nicht mit langen Einstellungen auf Menschen und Gesichter, wie ich es bevorzuge. Es gibt kaum eine innere Perspektive der handelnden Personen und keine Möglichkeit für den Leser seinen Blick auf einzelne Figuren zu fokussieren, da der Erzählerblick ständig wechselt.


    Ich stimme daher Reich-Ranicki zu, das er es schwierig fand, der Handlung zu folgen. Nicht zustimmen würde ich ihm, dass das Buch epigonal sei. Ich finde schon, dass Bulgakow hier einen eigenen Stil entwickelt hat, der außerdem sehr in die damalige Zeit paßt, aber es ist ein Stil, mit dem ich persönlich Probleme habe …


    Vergleiche mit dem heutigen Krieg finde ich nicht so angemessen: damals standen sich (mindestens) 5 Kriegsparteien gegenüber, die selber nicht genau wußten, wofür sie kämpften, noch weniger die Zeitgenossen, erst recht nicht wir heutigen Leser. Der Krieg heute ist dagegen einfach: es gibt einen Aggressor und einen Verteidiger, und der Aggressor macht es dem Verteidiger sehr einfach, sich für die richtige Seite zu entscheiden. Es wurde ja von politischen Kommentatoren schon gesagt, dass das was Putin tue ein „nation building“ für die Ukraine sei. Wenn man bisher noch Zweifel haben konnte, ob es eine ukrainische Nation überhaupt gibt, so wird es sie jetzt nicht mehr geben: Putin schmiedet sie gerade durch seinen Krieg.

  • nur kurz zur Aufklärung, wie ich das gemeint habe:


    Nicht die Voraussetzungen sind ähnlich, sondern Putin ist davon ausgegangen, dass die Ukraine an seiner Aggression zerfallen wird, dass die Menschen nicht mehr hinter ihrer Regierung stehen. Dass sich das aber heute ganz anders darstellt ist ja eindeutig. Ich glaube nicht, dass die Russen mit soviel Widerstand gerechnet haben, sondern eher mit einer Zerfahrenheit, die es damals 1918 auch gab und dass die Bevölkerung schnell umschwenkt.

  • Mit der Erzählweise komme ich bis jetzt ganz gut klar. An das Hin-und Herspringen der Perspektive hab ich mich ganz gut gewöhnt. Ich lese das Buch auch gerne, bis jetzt hatte ich noch keine Stelle, bei der mich das Buch genervt hat.


    Es stimmt schon, dass die Personen nicht so sehr beschrieben werden, es wird nichts psychologisiert. Die Personen werden hauptsächlich durch Handlungen beschrieben, es gibt keine Einblicke in die Gefühlswelten der Akteur:innen. Das könnte man auch als emotionale Ausgelaugtheit sehen. Drei Jahre Weltkrieg und dann noch Umstürze und Revolution mit folgendem Bürgerkrieg. Die Emotionen sind ausgegangen.


    Ich habe noch ca. 100 Seiten vor mir bis zum Ende und dann nochmal ca 60 Seiten alternativen Schluss.

  • Ich bin jetzt auch im zweiten Teil angelangt, wo anscheinend zunächst mal die Perspektive zu den Petljurow- Angehörigen wechselt.

    Mir gefällt Bulgakows Szeneriebeschreibung sehr: Der nächtliche Glanz des alten Gymnasiums als Militärquartier, die unheimliche Dunklheit des Terrassenparks setzt sich auch in meinen Augen zu einem expressionistischen Film, mehr als zu einem Theaterstück, zusammen. Aber dem Inhalt zu folgen ist nicht einfach, da hast du Recht, klaus.

    Und nicht nur, weil der Autor die Kenntnis de verwickelten politischen und militärischen Verhältnisse voraussetzt, sondern auch, weil er die Leser, zusammen mit seinen Romanfiguren, absichtlich verwirrt, wie an der Schlussszene des ersten Teils deutlich wird, als der Oberst verkündet, die Division habe sich aufzulösen, ohne dies zu erklären und erst nach Studzinskis empörtem Versuch, eine Verhaftung zu veranlassen, mit der Wahrheit herausrückt. Und wer jetzt eigentlich die drei waren, die in dem dunklen Park gewartet haben, ist mir nicht klar geworden.

  • Sehr modern, aber noch mehr verwirrend ist auch der ständige Wechsel der Zeitebene: Wir bewegen uns immer bis zur Nacht des vierzehnten auf den fünfzehnten Dezember, aber es wird häufig zurückgeblendet und das zusamen mit den immer neuen Figuren und Militäreinheiten gestaltet die Lektüre wirklich herausfordernd.

  • Ich bin jetzt im 16. Kapitel, also weit im 3. Teil. Die Geschichte von Turbins (des Älteren) Verletzung und der Hilfe, die er erfährt durch Geschwister, Freunde und vor allem durch eine Fremde (Julia), hat mich sehr berührt. Auch hier wechselt der Autor die Zeitebenen, finsbury, aber es erscheint einem ganz natürlich im Erzählablauf: Turbin ist plötzlich verletzt und hilfsbedürftig und der Leser möchte wissen, wo er die Verletzung sich zugezogen hat, dies wird im Anschluss in einer langen Rückblende erzählt. Das Gleiche ist der Fall bei der Schilderung des nächtlichen „Ganoven“überfalls, den der Hausmeister erfährt: erst klopft er aufgeregt bei den Turbins an, und im Folgekapitel wird beschrieben, was dem in seiner Wohnung vorausging.


    Diese Art der Modernität, die ein wenig mit dem Zeitablauf spielt, bereitet mir gar keine Schwierigkeiten. Aber im gegenwärtigen Kapitel, das in der Sophia-Kathedrale spielt, fühle ich mich wieder völlig orientierungslos. Der Leser hat es mit einer Polyphonie von Stimmen zu tun, bei der er nie weiß, wer jetzt gerade spricht. Eine anonyme Menschenmenge, ein „man“ scheint Akteur und Sprecher zu sein, und wenn man Glück hat, schält sich aus einer solchen Massenschilderung dann eine Einzelszene heraus.

  • Mittlerweile habe ich das Buch fertig gelesen. Beide Schlussvarianten. Wobei ich sagen muss, dass die Urfassung um ein paar Passagen verlängert ist, kleinere Nebenszenen gibt es noch.


    Die Petljuras werden endgültig vertrieben, die Bolschewiken "befreien" die STADT. Die Urfassung ist unredigiert und eventuell vom Verlag verkürzt worden, aber ich kann die Aussparungen auch verstehen. Sie tragen nichts zum Verständnis des Romans bei.


    Ich habe noch etwas im Netz recherchiert und eine sehr interessante Arbeit dazu gefunden. Da geht es darum, dass 2015 in Russland das Jahr der Literatur war, und bewusst alte Literaten herangezogen wurden, um das Ukraine-Bild in der Bevölkerung zu verunglimpfen. Die Propaganda wurde damals bewusst angeworfen.


    Das Pdf ist hier kostenlos herunterladbar:


    Michail Bulgakovs ukrainisches Lehrstück - Oleksandr Zabirko


    Kapitel 16 war interessant, weil aus der Sicht des Mobs auf der Straße geschrieben wird. Einer streut ein Gerücht und schon geht es wie ein Lauffeuer durch die Menge. Die Massen stürmen auf die Plätze und wollen den Helden Petljura sehen, behaupten wo er sei, was er mache, wissen aber eigentlich gar nicht von wem sie eigentlich reden. Dummes, blindes Gefolge gab es leider schon immer in der Geschichte. Leute jubeln jemandem zu, ohne zu wissen was die Intention der Person bzw. Gruppierung überhaupt ist.


    Amüsant fand ich, dass das erleuchtete Kreuz am Hügel von den Bolschewiken abgeschossen wurde und danach wie ein Schwert aussah, wie passend. Das Kreuz wurde durch das Schwert besiegt. Die Kirche auf Jahrzehnte ruhig gestellt.


    Ich habe das Buch gerne gelesen, die Familiengeschichte der Turbins und ihrer Freunde verfolgt. Was mir allerdings etwas gefehlt hat war, was sich in der STADT außerhalb des Turbinschen Radius abgespielt hat. Ich hätte gerne etwas über die aus Moskau und St. Petersburg geflohenen Eliten erfahren. Das waren ja wie die Turbins auch Monarchisten.

    Auf jeden Fall bin ich über weitere Werke von Bulgakow gespannt, für einen Debütroman eines Quereinsteigers fand ich ihn sehr gelungen.

  • Tja, ihr beiden seid mir sehr vorausgeeilt. Ich bin erst vor zwei Stunden von den Osterreisetagen zurückgekehrt, wo sowohl für das Lesen als auch das Schreiben kaum Zeit blieb. Und viele Tippfehler von dem Schreiben auf dem Tablet musste ich gerade erstmal korrigieren.

    Inzwischen bin ich genau vor der langen Rückblende, die wohl Turbins Verletzung erklärt und von der du, klaus, oben schreibst.

    Nach den ganzen Kampfszenen und verwirrenden Militär"possen" bin ich jetzt ganz froh gewesen, zusammen mit den Turbins und ihrem sehr aufmunternden Überraschungsbesuch Lariossik wieder in der gemütlichen, leicht schäbigen Wohnung zu sein. Trotz Turbins Fieberfantasienist es gut, dem Kriegsgeschehen für einen Moment entkommen zu sein und sich im übersichtlichen Familienkreis zu bewegen. Und wie Bulgakow hier wieder schildert! Er kann wirklich gut Atmosphäre erzeugen, welcher Art auch immer. Lariossik mit seiner Tollpatschigkeit ist eine Art Buffo-Figur, die ein wenig die Ängste der Geschwister um ihren älteren Bruder ablenkt. Er fühlt sich hier sicher und wohl, ein starker Kontrast zu dem im Wundfieber liegenden Alexej. Und mit seinen Ungeschicklichkeiten verschafft er einiges Ungemach, wie Nikolkas Handverletzung, wird aber dennoch als ein Zugewinn, auch von den Geschwistern, empfunden.

    Ich bin gespannt, welche Einsichten die Rückblende jetzt bringt.

  • Der Lariossik war wohl das einzig positive Überbleibsel vom Talberg-Clan.

    Dass einem manchmal das Leben dazwischenkommt ist ja klar und auch schön. Ostern war für mich eher Entspannung, drei Tage frei und viel Zeit zu lesen. Daher habe ich den Roman auch relativ schnell fertig gelesen.


    Das mit der Buffo Figur finde ich gut, ist der richtige Audruck dafür.

  • Auch ich bin inzwischen, das lange Osterwochenende zum Lesen nutzend, mit dem Roman fertig geworden. Meine etwas zwiespältige Bewertung hatte ich schon geschildert. Die Konfusion, die die Zeitgenossen angesichts der geschichtlichen Verläufe erlebt haben mußten, hatte sich für mich etwas zu sehr auf mich als Leser übertragen. Mein Wunsch, den Roman zu lesen, war nach der (partiellen) Lektüre von Karl Schlögels „Entscheidung in Kiew“ entstanden, das im Untertitel „Ukrainische Lektionen“ heißt, man könnte aber auch sagen „Ukrainische Impressionen“. Vielleicht habe ich den Roman benutzt, um mehr von diesen Impressionen zu erhaschen. Dazu war er aber m.E. nicht so recht geeignet.


    Was mich auf jeden Fall erstaunt, ist, dass mich ein Herr Putin und die häßliche Fratze, die er der Welt zur Zeit von Russland präsentiert, nicht davon abhält, mich mit russischer (oder russischsprachiger) Literatur zu befassen. Zumal viele der Schätze, die da noch warten, ja von Dissidenten stammt. So war es mit der deutschen Literatur auch einmal.

  • Was mich auf jeden Fall erstaunt, ist, dass mich ein Herr Putin und die häßliche Fratze, die er der Welt zur Zeit von Russland präsentiert, nicht davon abhält, mich mit russischer (oder russischsprachiger) Literatur zu befassen. Zumal viele der Schätze, die da noch warten, ja von Dissidenten stammt. So war es mit der deutschen Literatur auch einmal.

    Es wäre auch zu schade, wenn man sich von so einem Machtmenschen und seinen Verbrechen an der Menschlichkeit davon abhalten ließe, die kulturellen Leistungen der Russen aus dem Blick zu verlieren. Sie gehörten, gehören und werden wieder zu dem Konzert europäischer kultureller Leistungen gehören. Wir verurteilen doch nicht einen Dostojevskij, Tolstoj, Samjatin oder Bulgakow oder all die anderen sowie all die vielen Russen, die ebenfalls unter diesen Zeiten leiden, bloß ein größenwahnsinniger Diktator und seine fetten Maden ihre perversen Machtspielchen treiben.

  • Hundepark habe ich gelesen - noch vor Kriegsbeginn - und kann es empfehlen. Es dreht sich hauptsächlich um das Leihmüttergeschäft, das in der Ukraine boomt; man hat dort "Kunden" aus aller Welt, auch aus dem EU-Raum. Aber ich fand auch sehr interessant, wie dort das Milieu in der Ukraine beleuchtet wurde - große Teile der Erzählung spielen in Dnipro. Das Buch ist sehr spannend, die Handlung recht kompliziert und spielt auf mehreren Zeitebenen, wie ich das von der Autorin schon aus früheren Büchern kenne.

  • Seit gestern Morgen bin ich auch durch mit dem Roman, bei Gelegenheit werde ich noch die ursprüngliche Variante der beiden letzten Kapitel lesen, will mir jetzt aber nicht den Leseeindruck dadurch verwirren.
    Nachdem ich das Nachwort vollständig zur Kenntnis genommen habe, ist mir erst aufgefallen, wie viele Anspielungen ich überlesen habe. Meine Lektüre Dostojevskijs und Tolstojs liegt leider schon sehr lange zurück. Obwohl wir "Die Dämonen" vor ziemlich genau zehn Jahen hier in einer Leserunde gelesen haben, ist mir schon wieder soviel entfallen, dass ich Zusammenhänge nicht erkannt habe, die das Nachwort aufführt. Insofern war es durchaus erhellend.

    Das letzte Drittel des Romans hat mir am besten gefallen. Es zeigt zum einen mehr die Auswirkungen des Bürgerkrieges auf die einzelnen und die Familie, zum anderen schärft es gerade dadurch den Blick auf die einzelnen Charaktere.
    Die letzten beiden Kapitel sind ein rauschhafter Höllenritt durch wirklich Geschehenes und Delirien, es werden viele Dinge verschlüsselt und erst später klar, wie Nikolkas Auftritt als Bolschewist, und man meint manchmal durch ein Hieronymus Bosch- oder Goya-Gemälde zu streifen, so farbig und intensiv sind die Szenen herausgearbeitet.
    Die beiden Schlusskapitel in der Ur-Fassung sollen ja wohl Netze spinnen zu den beiden geplanten Folgebänden, die es dann nie gab. Deshalb will ich jetzt erstmal das furiose Ende der erschienenen Fassung sacken lassen.

    Auch ich danke euch für die interessante Leserunde, klaus und b.a.t. und dir letzterem für deine Anregung, diesen Roman zu lesen. Bisher haben mich alle Werke Bulgakovs, die ich gelesen habe, beeindruckt, wobei dieses das am schwierigsten zu lesende war, weil mir der geschichtliche Hintergrund und die zum Verständnis der vielen literarischen Anspielungen nötige Sicherheit in den russischen Klassikern fehlten.