E.T.A. Hoffmann: Lebensansichten des Katers Murr

  • Gute Abend,


    ich bin in der letzten Woche leider kaum zum Lesen gekommen, die Kita hatte zu, weil 9 von 12 Erzieher*innen an Covid erkrankt sind. Somit war zwischen Arbeit, Kinderbetreuung und sonstigen Terminen nicht so viel Zeit.

    Ich bin im 2. Abschnitt und habe gerade die Szene mit Ulricke und den beiden Herren beendet. Murr in der Stadt im wahren Leben und völlig aufgeschmissen, hier hilft nun Ponto der Pudel.... Die Gedanken wie die Welt funktioniert bzw wie Ponto es erklärt und die Überlegungen des Kater zum kategorischen Imperativ fand ich faszinierend umgesetzt.


    Bis jetzt sind mir die Passagen mit dem Kater lieber auch wenn er mir oft arrogant ist. In die Szenen von Kreisler finde ich immer noch schwer hinein...


    Aber ich bin ja nicht ganz zurück und hoffe auf Lesezeit am Sonntag in der Sonne....

  • Keine Sorge, mir geht es momentan ähnlich und trotzdem macht es mir momentan viel Spaß, auch wenn ich nur wenige Seiten am Abend schaffe.


    Das Zurückblättern, von dem ich anfangs sprach, hat sich ja schnell erledigt, es sind ja doch zufällige Makulaturblätter, wie es im Titel heißt.

  • Der Murr-Erzählfaden ist fortlaufend, soweit ich erkennen kann. Der Kreisler-Faden nicht. Und das ist ja auch völlig einleuchtend, bedenkt man die "Entstehungsgeschichte" des Ganzen.


    Nachdem ich anfangs von diesem Fürstenhof sehr verwirrt war, hat es mir geholfen, in einem Online-Artikel über das Buch zu lesen, dass man diesen ganzen Hof letztlich als eine Art Theater verstehen muss, eiin Spielzeughof sozusagen - vielleicht ähnlich wie König Peters Hof in "Leonce und Lena". Das Ganze hat keine Bedeutung mehr, es funktioniert nur noch im Wege des "so tun als ob", und die Umgebung spielt mit - der Tassenprinz ist symptomatisch für das Ganze.

  • Der Murr-Erzählfaden ist fortlaufend, soweit ich erkennen kann. Der Kreisler-Faden nicht. Und das ist ja auch völlig einleuchtend, bedenkt man die "Entstehungsgeschichte" des Ganzen.

    Ja, der Murr-Faden ist natürlich fortlaufend. Ich hatte heute morgen gedacht, dass das auch die ersten Makulaturblätter betraf, aber das war Einbildung.


    Von Hoffmann habe ich zwei Ausgaben, einmal die des Winkler Verlags und dann die des DKV. Der Stellenkommentar ergänzt sich ganz gut. Insgesamt ist der des DKV umfangreicher, d.h. es werden mehr Stellen erläutert, wohingegen der des Winkler Verlags teilweise umfangreicher ist.


    Weitere Anmerkungen oder Interpretationen möchte ich erst lesen, nachdem ich mir selbst einen Reim auf das Ganze gemacht habe, von daher bleibt es bisher beim Blättern zum Stellenkommentar. Dort finden sich zu den Passagen, in denen Kreisler über seine Erziehung berichtet, interessante Parallelen zu Hoffmanns eigenem Leben, es sind also wahrscheinlich autobiografische Elemente ("derjenige Onkel, der mich erzog, oder vielmehr nicht erzog").

  • Gestern bin ich noch ein paar Seiten weitergekommen und muss sagen, dass mir das Buch bisher außerordentlich gut gefällt. Wie sich mit der Zeit aus den Makulaturblättern ein Bild Kreislers zusammensetzt, zuletzt beispielsweise die Entstehung seiner Liebe zur Musik – von Tante Füßchen bis Abraham Liscov – und sich dabei Überschneidungen zu Murrs Erzählung entpuppen (z.B. Meister Abraham) und allgemein die Rolle einzelner Personen aufhellt (z.B. die der Rätin Benzon), finde ich hervorragend komponiert.


    Sprachlich haben mir schon die Geschichten in Hoffmanns „Serapionsbrüder“ sehr gefallen, gleiches gilt für den Murr. Die einzelnen Episoden, die sich erst nach und nach erschließen lassen, sind fesselnd erzählt. Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht.

  • Am Wochenende habe ich den Murr ausgelesen und er hat mir insgesamt sehr gut gefallen. Die Struktur hat es mir dabei besonders angetan, also die Idee, die Biographie des Kreisler mittels der fragmentarischen Makulaturblätter, noch dazu nicht in chronologischer Reihenfolge, zu erzählen, fand ich sehr spannend. Daneben - oder vielleicht besser im Vordergrund - verläuft die chronologische Erzählung der Biographie des Katers Murr aus dessen Perspektive, die sich großteils als Bildungsgeschichte darstellt, ab und zu unterbrochen durch Geschichten des Pudels Ponto oder des Kater Muzius.


    Die beiden Biographien berühren sich kurz, gleich zu Beginn, als Meister Abraham Johannes Kreisler von seinem Fund und der Rettung während des großen Sturms berichtet und später, als er dem Kapellmeister das Tier übergibt, um für dessen höhere Bildung zu sorgen.


    Wesentlich komplexer und vielschichtiger als die Erzählung des Katers, ist die des Kreisler, nicht nur deshalb, weil sich erst nach und nach aus den Fetzen ein Mosaik ergibt, sondern auch, weil bestimmte Figuren wie im Buch beschrieben, als gespenstische Doppelgänger unterwegs sind und anderswo mysteriöse Duplizitäten vorkommen. Da tritt mit dem Maler Leonhard Ettlinger eine Figur auf, die Kreisler als sein Spiegelbild in den Tiefen des Flusses gesehen haben will (Abrahams verborgener Hohlspiegel), deren beider Charakter ähnlich scheint, so dass ich mich fragte, in welcher Beziehung sie stehen? Ettlinger wiederum hat eine spezielle Beziehung zu Hedwiga, die ihrerseits eine spezielle Beziehung zu Kreisler hat, der, nachdem Abraham ihm von dem elektrischen Schlag bei der Berührung Chiaras berichtet, dasselbe bei Hedwiga spürte.


    Und so geht das weiter mit der verschwundenen Angela, der vermeintlichen Tochter der Benzon und des Fürsten Irenäus, der Geschichte um Hektor und Cyprianus, in deren Mittelpunkt Angela steht. Abrahams geliebte Chiara bleibt verschwunden, auch da wieder die Duplizität der Ereignisse um Angela und Chiara.


    Nach und nach scheint sich der Nebel zu lichten, aber so manches Mal legt sich schnell wieder ein Schleier über die Angelegenheiten. Zu diesem Beziehungswirrwarr kommen noch die Abbrüche in den Makulaturblättern, mitten im Gespräch startend oder abreißend, die den Überblick erschweren. Ganz zum Schluß (also dem Ende des zweiten Bandes) erfährt man, dass der Namenstag der Fürstin bevorsteht und Meister Abrahm Großes vorhabe, also markiert das erste Makulaturblatt, das (bisherige) finale Ereignis, was man im letzten Blatt erfährt. Dazwischen könnten die Geschehnisse in chronologischer Reihenfolge erzählt worden sein (die Mühe habe ich mir noch nicht gemacht, das nachzuprüfen).


    Ich hatte jedenfalls noch Lust, nach der Lektüre in den einzelnen Makulaturblättern querzulesen, um ein paar Verbindungen nachzuschauen. Noch größere Lust hätte ich auf den dritten Band gehabt, der scheinbar schon in Hoffmanns Vorstellung erdacht und „nur“ noch zu Papier gebracht hätte werden müssen. Dann ist Hoffmann gestorben. Der Kater vorher auch, aber laut der Nachschrift des Herausgebers existierten „noch so manche Reflexionen und Bemerkungen“ aus der Zeit beim Kapellmeister.


    Mir gefielen die vielen Facetten des Kreisler, die, in einzelnen Anekdoten oder über die Wirkung auf andere Figuren (die Begegnung mit Julia und Hedwiga) und durch Erzählungen (die Geschichte Leonhard Ettlingers) rückgespiegelt, fein gezeichnet sind. Die Angst des Kapellmeisters vor dem Wahnsinn, sein eigenwilliger Humor, seine Liebe zur Musik usw.


    Die Rolle der Musik, auch der Figuren untereinander, lädt ebenfalls zur Nachbetrachtung ein (Julia, der Orgelbauer Abraham, Hedwiga, die Mönche ...)


    Die Biographie des Murr blieb insgesamt im Ton m.E. recht humorvoll und ist schon ein Kontrast zu den Kreisler-Fragmenten, wie auch die ganze Figur sehr gegensätzlich ist. Auf der einen Seite Kreisler, der recht oft zweifelt und zwischen Extremen schwankt (ewige Liebe – Leben im Kloster), auf der anderen der Kater Murr, dem es an Selbstbewusstsein so gar nicht mangelt, und auch wenn er ein wohl sehr schlauer Kater ist, ist er vom Genie entfernt oder muss noch irgendwas wachgekitzelt werden. Eine gehörige Portion Selbstbewusstsein des Murr täte dem Kreisler gut, eine Portion naturgegebenes, nicht erlernbares Talent des Kreisler, würde dem Murr gut zu Gesicht stehen, scheint mir.


    Es wäre interessant zu lesen gewesen, wie es weitergegangen wäre, da nun Murr bei Kreisler in die „höhere Schule“ gehen sollte, und wie die ganzen Geschichten um die bevorstehende Doppelhochzeit von Julia und dem zurückgebliebenen Ignaz, sowie Hedwiga und Hektor, verhindert worden wäre. Wahrscheinlich hätte man erfahren, was aus Chiara geworden ist. Und einiges mehr.


    Die Fantasiestücke mit den Kreisleriana habe ich noch nicht gelesen, was sicherlich irgendwann folgen wird. Ein bisschen werde ich mich noch mit dem Anhang beschäftigen und irgendwann das Buch (oder zumindest die Fragmente) wiederlesen. Dann fallen bestimmt noch weitere Details ins Auge.

  • Ganz zum Schluß (also dem Ende des zweiten Bandes) erfährt man, dass der Namenstag der Fürstin bevorsteht und Meister Abrahm Großes vorhabe, also markiert das erste Makulaturblatt, das (bisherige) finale Ereignis, was man im letzten Blatt erfährt. Dazwischen könnten die Geschehnisse in chronologischer Reihenfolge erzählt worden sein (die Mühe habe ich mir noch nicht gemacht, das nachzuprüfen).

    Ich habe das erste Makulaturblatt jetzt noch mal gelesen und daraus wissen wir ja, wie das Fest abgelaufen ist und dass Johannes Kreisler nicht erschienen ist. Immer wieder beteuert Meister Abraham "aber du fehltest - du fehltest, mein Johannes!"


    Jetzt muss ich den Anhang noch genauer studieren, irgendwo habe ich Stellen bezüglich Angela und Hedwiga gelesen, die eine Vertauschung durch die Benzon nahelegen. Die Rolle der alten Zigeunerin Magdala Sigrun könnte man auch noch mal überdenken.

  • Bei mir ist es ja nun schon drei andere Bücher her, dass ich das Buch gelesen habe. Mir haben sich auch die Kreisler Passagen mehr eingeprägt, als das Leben des Murr.


    Ich konnte aber nicht widerstehen und hab mir von Christa Wolf - Neue Lebensansichten eines Katers/ Juninachmittag bestellt.

    Das kleine Reclam Heftchen gabs leider nur noch antiquarisch, bin auch gespannt, wie sie den Murr rezipiert.


    Irgendwann im Laufe des Jahres möchte ich es lesen. Brauche noch etwas Abstand zu den Katzenartigen:)

  • Ich habe leider in den Kreisler-Abschnitten den Faden verloren - irgendwann von den Kloster-Szenen ab. Mir sind zwei andere Leseverpflichtungen dazwischen gekommen.
    Vermutlich wäre es jetzt vernünftig, einfach alle Kreisler-Kapitel nochmal zu lesen (die über Murr habe ich verstanden, das war ja auch nicht schwer), aber im Moment hätte es keinen Zweck. Ich werde es in ein paar Wochen nochmal probieren. Tut mir leid, dass ich hier gerade nichts beitragen kann.

  • Zefira, du hast ja schon sehr viel beigetragen, und wenn du derzeit weniger Zeit hast, macht das gar nichts. Das Buch gibts ja noch länger:) Lesen sollte ja Vergnügen und kein Zwang sein. Manchmal ist ein Schritt zurück so erholsam und bringt auch neue Blickwinkel.


    Whenever it fits you, ...

  • Ich mag Hoffmann eigentlich sehr, jedenfalls die kürzeren Texte. Bei meiner Vorliebe für Phantastica gehört der Sandmann zum Besten, das ich überhaupt kenne, ich kann ihn x-mal lesen und finde immer wieder Neues. In längeren Stücken überfordert er mich aber regelmäßig. In den Neunzigern habe ich die Elixiere des Teufels gelesen; kann mich zwar kaum an etwas erinnern, aber dass es unglaublich verwickelt war und alle Damen mehr oder weniger exaltiert, das weiß ich noch.

    b.a.t. , danke fürs Verständnis, ich habe jedenfalls wieder Lust auf Hoffmann bekommen. Vielleicht lese ich bei Gelegenheit "Kreisleriana" und versuche es danach nochmal mit Murr. (Die Murr-Kapitel werde ich dann aber weglassen, auch wenn mich alle Nachbarskatzen strafend angucken.)

  • Ich habe leider in den Kreisler-Abschnitten den Faden verloren - irgendwann von den Kloster-Szenen ab. Mir sind zwei andere Leseverpflichtungen dazwischen gekommen.

    Das macht doch nichts.

    Ich habe mir recht viel Zeit gelassen und nebenher gar nichts anderes gelesen. Mich haben diese mysteriösen Vorfälle aus vielerlei Hinsicht mehr und mehr fasziniert. Anfangs musste ich auch erst in die Geschichte reinfinden, fand es dann mit jedem Blatt zunehmend spannender, herauszufinden, wie sich die einzelnen Geschichten entfalten und die Rätsel auflösen. Mit Letzterem wird leider nur begonnen, aber dennoch sind so viele interessante Ebenen und Motive enthalten, mit denen man sich lange beschäftigen kann.


    Die Rolle der Erzähler, gerade des Biographen, der sich ja immer mal wieder zu Wort meldet, aber auch die des Murr, der ab und an vom Herausgeber ermahnt wird, trägt zur Spannung bei, wenn z.B. der Biograph seine Erzählung an einer wichtigen Stelle unterbricht.


    Ich habe mittlerweile auch ein paar Arbeiten zu Hoffmann und Murr im Speziellen überflogen, die diese Vielschichtigkeit besonders unter die Lupe nehmen.


    Zu den Figuren habe ich folgende Seite gefunden, die keine Wünsche offen lässt und sehr akribisch zahlreiche Informationen mit Belegstellen liefert. Auch im Nachgang sehr schön um die Geschehnisse noch einmal Revue passieren zu lassen:

    http://literaturlexikon.uni-saarland.de/index.php?id=3992