Jakob Wassermann: Caspar Hauser

  • Danke, Volker für die Zusammenfassung des Textes von Golo Mann. Mir reicht das - zusammen mit dem Link, den Maria uns im Materialthread gegeben hat -, um mir ein Bild zu machen. Wir lesen ja Wassermann, nicht Golo Mann.


    Ich bin inzwischen im Kapitel "Botschaft aus der Ferne". Wie du, @Newman, schon nachzeichnest, geht es immer mehr darum, wie Caspar scheinbar seine Unschuld verliert, in Wirklichkeit aber immer mehr das Opfer seiner Umwelt wird. Sie beuten seine Unerfahrenheit aus, ziehen ihn zu sich herunter. Auch Daumer beutet ihn aus, und in dem Moment, wo er nicht mehr seinen idealistischen Erwartungen entspricht, schiebt er ihn ab.
    Passt übrigens bitter zu unserer Reaktion auf die Flüchtlinge: Nachdem wir uns nicht mehr in der Sonne unserer international wahrgenommenen "Menschlichkeit" sonnen konnten, nahmen wir sehr schnell das Lästige wahr, dass da genauso gemischte Menschen, wie wir sie selber sind, zu uns gekommen sind, dies ihnen aber, im Gegensatz zu uns selbst vorwerfen. Wobei Caspar ja auch noch zur Mitte des Buches ein extrem naiver und freundlicher Mensch ist, wenn man sich überlegt, was er bis dahin schon durchgemacht hat.


    Nach dem ersten Drittel nimmt der Kriminalfall Fahrt auf: Caspar wird verfolgt und schließlich Opfer eines Attentats. Wassermann deutet mit seiner Erzählweise zunächst immer nur an, dass Caspar ein Sprössling mit politischen Implikationen ist. Schließlich wird in Feuerbachs Brief deutlich, dass es hier um einen Erbfolgefall in einem Fürstenhaus geht.
    Die auktoriale Erzählweise gibt dem Leser viele Hintergründe an die Hand; Stark ist Wassermann immer dann, wenn er aus der Sicht Caspars auf die Umwelt sieht.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

    Einmal editiert, zuletzt von finsbury ()

  • Ich bin noch nicht so weit, habe eben erst "Caspar träumt" gelesen.
    Mir fällt sehr auf, wie berechnend sich Caspars Umwelt verhält, in dem Sinn, dass seine Mitmenschen ihm ohne weiteres unterstellen, selbst berechnend zu sein. Der Rittmeister von Wessenig behauptet, er habe einen Brief von Caspars Mutter, um seine Reaktion zu beobachten - ohne zu bedenken, dass er damit in Caspar eine Erwartungs auslöst, die nur in tiefe Traurigkeit münden kann. Auch dass die geschenkten Reitstunden ihm missgönnt werden, ist eine typische Verhaltensweise des Sozialneids (ich erlebe das selbst in meiner Umgebung - wenn etwa gutsituierte Leute herummosern, weil jemand einem Flüchtling ein Fahrrad schenkt oder ein Frisör Obdachlosen umsonst die Haare schneidet).
    Es ist übrigens gut, dass ich vor dem Lesen des Buches aus den kommentierenden Texten (die hier verlinkt wurden) erfahren habe, wie eng sich Wassermann an die dokumentierte Wirklichkeit gehalten hat. Ich dachte immer, das Buch sei eine Art exemplarischer Roman, also das meiste frei erfunden.


    Grüße von Zefira

  • Ja, ich wollte mich auch noch bei Finsbury fuer die Materialien bedanken. War sehr interessant, vor allem weil die eine antroposophisch angehaucht war und den Wassermann gerne dort gesehen haette. Zu Euren Bemerkungen zum Text koennte ich nichts hinzufuegen. Ihr macht das ganz grossartig. Ich staune immer. Danke fuer alles!

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

  • Danke für die Blumen, Volker :zwinker:. Dabei habe ich selber noch gar nicht alle Links gelesen ... .


    Ich bin inzwischen mit dem ersten Teil fertig und habe den zwielichtigen englischen Lord kennen gelernt, der böse Machenschaften mit Caspar vorhat. Auch wenn ich eher distanziert lese, tut es einem doch fast weh, wie diese naive Seele von einer Hoffnung und Beziehung in die andere geschubst wird, und letztlich geht es allen nur um Profit, kalte Pflichterfüllung oder persönliche Eitelkeit.


    Der wassermännische Caspar ist schon ein armes Schwein, egal was immer der echte Caspar Hauser gewesen sein mag.



    Der Literaturpapst Rolf Vollmann, dessen Bücher und Essays ich sehr mag, schätzt Wassermanns Caspar Hauser übrigens recht hoch ein: In "Die wunderbaren Falschmünzer" steht dazu:


    (...) einen ganz außerordentlich guten und klugen Roman; Wassermann hat die Quellen studiert, er bleibt ganz nah bei ihnen, er zitiert sie, und wo er selber schreibt, merkt man der wie von der Sache aufgezwungenen Ruhe seiner Sätze und seines ganzen Vorgehens die Erschütterung an, in die den jungen Autor dieser plötzliche Blick in die dokumentierte Realität von Leben zwischen Geschichte und Politik gestürzt haben muss. Großartig gelungen ist hier, wo schon die nicht erfundenen Personen in ein romanhaftes Geschehen verstrickt sind, auch einmal ihre Mischung mit fiktiven Figuren, sonst eine Crux derartiger Versuche: aber Wassermann, so gut wie nie zuvor und selten wieder danach, wandelt hier wie in Trance über alle Grate, von denen er von selber eigentlich stürzen müsste.


    Wobei ich mich frage, welche Personen mit wichtiger Funktion in der Geschichte eigentlich überhaupt ausgedacht sind. Bei einigen ist zwar der Name geändert, aber der Bezug auf die historischen Personen ist ganz eindeutig. Allerdins wird der Lord, der laut des Wiki-Artikels zwar recht wankelmütig war, bei Wassermann zu einem echten Verbrecher. Bin gespannt, wie weit sich hier der Roman von der dokumentierten Realität entfernt.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Mit Stanhope bin ich noch nicht viel weitergekommen. Er macht sich ja regelrecht an Caspar heran. Es gibt Hinweise, dass er im Auftrag einer anderen Person handelt, dann erscheint er doch wieder wie ein völliger Betrüger. Caspar setzt große Hoffnungen auf ihn, wird aber dann doch enttäuscht.


    Übrigens hatte ich die ganze Zeit über das Gefühl, dass Stanhope mir zuvor in diesem Jahr schon einmal begegnet ist. Und richtig: Er taucht in dem Roman 'Zeithain' von Michael Roes zum Thema Friedrich der Große und Katte auf...


  • Übrigens hatte ich die ganze Zeit über das Gefühl, dass Stanhope mir zuvor in diesem Jahr schon einmal begegnet ist. Und richtig: Er taucht in dem Roman 'Zeithain' von Michael Roes zum Thema Friedrich der Große und Katte auf...


    Dann muss es aber ein Vorfahr gewesen sein!


    Der historische Stanhope, der sich um Caspar Hauser kümmerte, schien zunächst ein aufrichtiges Interesse an diesem zu nehmen, fühlte sich aber später von ihm betrogen. Im historischen Fall wird in den Internetquellen nicht geschrieben, dass Stanhope in die angebliche Affaire bezüglich des Prinzen von Baden, der Hauser sein sollte, verwickelt war.


    Wassermann lässt bisher kein böses Haar an Hauser (bin fertig mit dem Kapitel "Anbetung der Sonne"). Alle weniger "netten" Handlungen und Verhaltensweisen Caspars werden aus seinen Umwelterfahrungen erklärbar, während die Historiografen aufzeigen, dass Caspar sehr wohl ein Hochstapler gewesen sein könnte. Wir lesen eben einen Roman, und da ist es ein vernachlässigter und frustrierter Mensch, dessen Schicksal ich durchaus mitleidig folge.


    Manchmal hat der Roman fast Jean Paulsche Qualitäten, gerade in dem oben erwähnten Kapitel, ist allerdings auch wie bei Jean Paul manchmal eine Gratwanderung zwischen der Unendlichkeit des Alls und Kitschelementen. Wobei ich glaube, dass sich Wassermann auch bei Stellen, die uns heute sehr kitschig anmuten, wie die Szenen, als Caspar vor der Fahrt nach Ansbach einige Zeit verschwunden ist und eben im obigen Kapitel, vielleicht auf Quellenmaterial beruhen, die kitschige Anmutung also nicht von Wassermann zu verantworten ist.


    Interessant, dass man früher zwei Reisetage für die Strecke Nürnberg - Ansbach brauchte, heute wäre das locker in einer Dreiviertelstunde erledigt.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Weil ich vor dem offiziellen Start schon etwas (geschummelt) voraus- gelesen hatte (ich waere sonst fuer Euch vermutlich zu langsam), beginne ich jetzt mit dem Kapitel Schildknecht. Bisher hatte ich, da meine Gedanken weitgehend mit den Euren parallel liefen, nicht das Beduerfnis, irgndetwas anzumerken. Jetzt erregt aber Finsburys Bemerkung ueber das Verschwinden Caspars vor der Fahr nach Ansbach meinen Widerspruchsgeist. Gerade diese Passage, die ich eben eine halbe Stunde gesucht, aber nciht wiedergefunden habe, finde ich besonders gelungen. Wie geschrieben, ich kann sie nicht wiederfinden, aber fuer mich ist es eine Schluesselstelle. Ich lese sie so: Caspar entfernt sich an diesem Wendepunkt aus allen Zwaengen und geht so weit in seinem Leben zurueck, wie es ihm moeglich ist, naemlich in den Turm in Nuernberg. Es ist eine Selbstvergewisserung. Die Begegnung mit den Kindern des Waechters laesst ihn ahnen, wie es haette sein koennen, wenn er unter "normalen" Umstaenden aufgewachsen und sich haette Entwickeln koennen. Dann der Gang in den Wald (denkt mal an Eichendorf) und die "Anbetung" des Baumes: Oh Baum....Das Ganze ist ja die erste wirklich selbstaendige Handlungsfolge. "Grosse" daran finde ich ausserdem, dass Wassermann nur die Tatsachen beschreibt, ohne zu psychologisieren und zu interpretieren als da waere: Caspar fasste einen Entschluss: Ich muss einen Weg finden, mir ueber mich klar zu werden....). Nach meiner Ennerung wird der ganze Ablauf von jemand anderem referiert (Im Briefkapitel?). Kommt die Stelle, wo der Buergermeister (?) schreibt, dass Caspar "Haltung" gezeigt habe, nach dieser Passage? Jedenfalls hat Caspar danach einen gefestigten Charakter, waehrend er vorher im Wesentlichen Objekt war. So etwa sehe ich das jedenfalls.

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

  • nochmal ich, Entschuldigung. Die oben beschriebene Stelle markiert m.E. tatsaechlich einen Wendepunkt: Caspar hat gemerkt, (ohne dass Wassermann das deutlich schreibt), dass aus mit ihm und dem Grafen und der weiten Welt nix wird. Nach dem Ausflug, bei dem er sich (etwas) Klarheit ueber seine Gefuehle und seine Stellung in der Welt veschafft hat, gibt er dem Grafen ohne Erklaerung den Ring zurueck (auch diese Stelle kann ich nicht wiederfinden, verflucht) und laesst sich letztlich (aeusserlich) widerspruchslos nach Ansbach verfrachten.

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

  • Ich stimme dir durchaus zu, Volker, dass das eine Schlüsselstelle ist und interpretiere sie auch genauso wie du. Sie wirkt sprachlich eben nur so, wie die Romantiker geschrieben haben, und 100 Jahre später ist das halt epigonal und anders, als Wassermann sonst hier schreibt. Aber der Vergleich mit Jean Paul birgt eben genau auch die Qualität des Ereignisses, die du oben ansprichst: Kaspar befindet sich hier in einem tiefen Erkenntnisprozess, das meinte ich mit der All-Anspielung.


    Bin kaum weiter gekommen, jetzt im Kapitel: "Joseph und seine Brüder".

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Schoen dass wir einig sind. In EINEM Punkt aber offenbar doch nicht(?). Ich fand die Stelle - die ich leider nicht wiederfinde - beim Lesen geradezu modern geschrieben. Er erklärt und erlaeutert ja nichts, sondern schreibt ganz sachlich, was war.
    Was mir danach besonderen Eindruck gemacht hat, ist die Schilderung der zwei Sellen in Quandts Brust. Das Kapitel - und andere - widerlegt m.E. auch die ziemlich negative Sicht von M. Reich- Ranicki auf Wassermann, der durchaus ueber Humor und Ironie verfuegt. Man muss dazu allerdings etwas zwischen den Zeilen lesen.

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.


  • Ich fand die Stelle - die ich leider nicht wiederfinde - beim Lesen geradezu modern geschrieben. Er erklärt und erlaeutert ja nichts, sondern schreibt ganz sachlich, was war.


    Hallo Volker!
    Die von dir gesuchte Textpassage befindet sich im Brief-Kapitel und dort im zweitletzten Brief "Binder an Feuerbach" In der Tat ist der Stil alles andere als "romantisch" oder gar "sentimental" wie finsbury schreibt, sondern betont sachlich und nüchtern, denn Binder berichtet, was ihm wiederum vom Gefängniswärter Hill über Caspar berichtet wurde. Diese Berichterstattung in der Berichterstattung ist per se wenig dazu angetan, Gefühlsduselei aufkommen zu lassen : ...kam der Gefängniswärter Hill zu mir und berichtete, der Hauser sei gestern mittag nach eins bei ihm erschienen und habe gebeten, ihm die Kammer zu zeigen, worin er einst gefangen gewesen usw"(dtv., Seite 258) Möglicherweise beziehst du dich,@ finsbury ,auf eine andere Stelle?

  • Danke, Gontscharow!, dass Du die Stelle gefrunden hast. Ich hatte es aufgegeben. x-mal habe ich das Briefkapitel durchgeguckt und den Brief von Binder nicht gefunden obwohl ich im Gedaechtnis hatte, dass ich nach dem Binder-Brief suchen muesste, aber ich habe ihn offenbar immer wieder uebersehen. Man will es ja nicht so gerne wahr haben, aber mit 80 ist man halt alt und da passiert wohl sowas.....Ich denke schon, dass Finsbury dieselbe Sache meint. Mir gefaellt, dass es hier unterschiedliche Meinungen gibt und schaetze die Beitraege von allen sehr. Es freut mich aber, dass Du mir hier beistehst, denn gerade zu dieser Stelle wolllte ich schon vorher etwas schreiben, habe es aber dann aus Traegheti des Herzens unterlassen. Dann war ich dankbar, dass Finsbury mich aufgeweckt hat. Deshalb Danke an Euch beide! Zefira, wann kommst Du denn aus Deinem Urlab zurueck? Deine Beitraege (zur Praesidentin) haben mir auch immer sehr gefallen.

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

  • Ich meine die gleiche Stelle, den Brief mit den Schilderungen von Hill und etwas weiter, wo es um den Friedhof und den Baum geht, vor dem Caspar niederstürzt und den er sozusagen anbetet. Aber ich rudere auch zurück: Nachdem ich die Stelle nochmal gelesen habe, sehe ich ein, dass sie keineswegs kitschig, sondern nur seltsam ist, aber so ist Caspar eben vermutlich auch historisch gewesen. Weiß jemand, ob die zitierten Briefe Originale oder Dichtung von Wassermann sind?

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich bin noch nicht so weit wie ihr, starte jetzt gerade mit dem letzten Kapitel des ersten Teils.
    Caspar hat gerade Stanhope kennen gelernt und es sieht so aus, als könne sich alles für ihn zum besten weden, aber ich weiß ja schon, dass daraus nichts wird.
    In der Caspar Hauser-Verfilmung "Jeder für sich und Gott gegen alle", die in meiner Jugend im Kino lief, war es so, dass Stanhope das Interesse an Caspar verlor, nachdem er ihn beim Stricken erwischt hatte. Das war für ihn eine "unzivilisierte Beschäftigung". Stanhope erschien in diesem Film, wenn ich mich richtig erinnere, reichlich gaga und irgendwie schmierig, wie ein alter Päderast.
    Ich finde die Lektüre sehr bedrückend, weil Caspar fast in jedem Kapitel, um es volkstümlich auszudrücken, eins auf den Deckel bekommt. Er tut mir so leid, deshalb komme ich nur langsam vorwärts.

  • Ja, Finsbury, die Frage, was zitiert ist und was Fiktion interessiert einen bei diesem Roman ganz besonders. Ich zitiere deshalb aus dem Text von Golo Mann, in der Hoffnung, dass man das darf (Newman). (der gesamte folgende Text ist original G.M., auch der zwischen den Bindestrichen, die Worte in Klammern und die ..... Puenktchen, sowie das und so weiter und so weiter. Anfuehrungszeichen im Originaltext habe ich allerdings weggelassen.):
    "Wassermann hat die gruendlichsten Studien gemacht.Er hat alle Quellen benutzt, die ihm nur irgend zur Verfuegung standen; die amtlichen Protokolle, - und wie wacker wurde im neuen Koenigreich Bayern protokolliert - , die Erinnerungen des Professors Daumer und des Pfarrers Fuhrmann, die Notizen und Briefe des Ansbacher Lehrers Mayer - er macht Lehrer Quandt daraus -, die Briefe des Freiherrn Tucher, der Raetin Behold, die in Wirklichkeit Frau Biberbach hiess, des Polizeileutnants Hickel und so weiter und so weiter.
    Von den Quellen machte er den allererstaunlichsten Gebrauch. Ganze Dialoge wurden uebernommen. Was ich, als ich es zuerst las, fuer Erfindung hielt, Caspars fruehen Schlosstraum zum Beispiel, oder seine klaeglichen Streitereien mit Lehrer Quandt, der ihm seine Lueglein vorhielt, und um welchen Kleinkram es da gegangen war, - An der Sache selbst ist ja wenig gelegen, aber Ihre fortgesetzte dreiste Behauptung laesst tief blicken....-, nicht einmal, sondern oft: kein Wort erfunden. Nicht erfunden die Worte des sterbenden Caspar: Gott wissen - Das ermuedete Haupt bittet um Ruhe - Geh jetzt bald fort aus dieser Lasterwelt - Ach, so abkratzen muessen in Schimpf und Schande - und noch mehr von solchen.
    Anderes wurde gebraucht, jedoch abgewandelt oder mit Zusaetzen versehen. Zum Beispiel gibt es wirklcih den widerlichen Brief der Raetin Behold (Klara Biberbach) an die Lehrerin Jette Quandt (Mayer), voller Gift und Galle gegen den Juengling seitenlang, zuletzt aber versichernd, ein Plaetzchen im Herzen der Schreibenden behalte er dennoch. Eingefuegt hat Wassermann die Hauptbosheit und Luege: Es sei so viel von Caspars innocence die Rede gewesen, sie koenne aber versichern, dass er sich ihrer Tochter auf das Unmissverstaendlichste zu naehern vesucht habe. Es sind diese Saetze, die, als Quandt sie seinem Zoegling hoehnisch zeigt, den Caspar, anfangs so sehr menschenglaeubig, mit dem Aufschrei : Ach diese Menschen, diese Menschen enteilen laesst....Dagegen trifft es zu, dass die Raetin spaeter durch einen Sprung aus dem Fenster endete."

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

  • Soeben habe ich "Joseph und seine Brüder" gelesen. Hier ist Caspar das anscheinend erste Mal konfrontiert mit den Tatsachen des Lebens - was mir etwas märchenhaft vorkommt, schließlich ist er ein junger Mann. Ich kann mich erinnern, dass in der Caspar-Verfilmung mit André Eisermann Caspars Staunen über seine erste ungewollte Erektion eingehend besprochen wurde.
    Quandt beweist, dass er ein Holzkopf erster Güte ist, da ihm offenbar jedes Gespür dafür fehlt, wie die Hausgeburt auf Caspar gewirkt haben muss. (Es ist interessant, dass im gleichen Kapitel Caspar das erste Mal für sich bemerkt, dass eine Frau auch geistige Gaben haben kann.)
    Ich wollte bemerken, wie die Szene, als Caspar über Josephs Geschichte in Tränen ausbricht, auf mich gewirkt hat. Ich weiß nicht, ob ihr "Heidi" kennt - das Original, nicht die schmalzigen Nachdichtungen für Kinder. Heidi, die in eine Großstadt versetzt fast zugrunde geht vor Heimweh nach den heimischen Bergen, hat immer wieder Verzweiflungsanfälle mit heftigen Tränenausbrüchen und wird dafür jedes Mal von der Gouvernante heftig wegen "grundlosen Geschreis" getadelt. Mich hat dieses Kapitel in Heidis Geschichte immer sehr bewegt, auch als Erwachsene noch, eigentlich noch mehr.
    Aber worüber weint Caspar eigentlich? Könnt ihr euch das vorstellen?
    Ich habe immer großes Verständnis für Josephs Brüder gehabt. (Natürlich nicht den Brudermord, aber die Eifersucht! Josephs Träume und die Bevorzugung durch den Vater, wie soll das anders wirken


    Edit, ich habe eben den Absatz noch einmal kurz angeschaut.
    Kann es sein, dass Caspar in erster Linie über die Trauer des Vaters weint, nicht über den Mord selbst? Denkt er an seine eigenen unbekannten Eltern?

  • Zefira, ich habe eher daran gedacht, dass er sich mit Joseph vergleicht, weil Stanhope ihm ja in den Kopf gesetzt hat, dass er von hoher Geburt sei und aus dynastischen Gründen sein Schicksal erleiden habe erleiden müssen, und er sich deshalb in Joseph sieht, der trotz aller seiner großen Gaben, nun von den Brüdern, also von der eigenen Familie, in den Brunnen zum Sterben verbannt.


    Volker, danke für die Auszüge aus Golo Manns Nachwort. Ich glaube, kleine Auszüge mit Quellenangabe darf man zitieren, das wird bei Buchbesprechungen doch ständig gemacht.
    Ich dachte mir schon, dass vieles direkt zitiert ist, das erklärt auch den vermeintlichen Stilbruch, der mir aufgefallen war. Die Geschichte mit dem Baum ist so ein typischer trivialer "Romantik-Sprech". Und in der Spätromantik tauchte Caspar ja auch auf.


    Zefira, ich kann dich gut verstehen, dass es dir manchmal schwerfällt weiterzulesen. Auch ich staune immer wieder über die Bösartigkeit der Menschen, vor allem, wenn es dafür überhaupt keinen Grund gibt, ihnen nichts weggenommen wird und es um jemanden geht, der ihnen eigentlich entweder leid tun oder egal sein könnte. 2015 habe ich das im Zusammenhang mit den Flüchtlingen oft erleben müssen, das ist eigentlich sehr ähnlich zu dem, was hier im Roman passiert.


    Selbst wenn der echte Kaspar Hauser ein Betrüger war, war er doch ein armes Schwein, denn dann ist er an seiner eigenen Lüge zugrunde gegangen.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • so, wie finsbury das sieht mit Joseph und Caspar habe ich das auch gesehen. Er sieht sich in Joseph. Aber meine Sympathie war - wie die Zefiras - immer auf seiten der Brueder. Ihr habt sicher J. u. s. Brueder von Thomas Mann gelesen(?), wenn nicht, unbedingt nachholen. Ein wuderbares Buch. Da kommt die Erwaehltheit und gleichzeitig das eingebaute "Bessere" so richtig schoen raus. Mit Eurer Empoerung ueber die Boesartigkeit der Zeitgenossen, bin ich nicht so ganz einig, obwohl dies zu zeigen ein Hauptanliegen Wassermanns war, wie haette er sonst den zweiten Titel die Traegheit des Herzens genannt. Selbst wenn ich an unsere "aufgeklaerte" Zeit denke, koennte ich mir vorstellen, dass Caspar noch vor 60 Jahren, also nach der Nazizeit, Hiebe wegen fortgesetzter Verstocktheit bekommen haette. Ich moechte auch mal sehen, ob jemand von uns bereit waere, ihn in seinen Haushalt aufzunehmen, egal mit welchen Hinter- oder Nebengedanken.

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

  • Ich habe es leider nicht gelesen ... habe eben mal auf A..on nachgeschaut, über 1000 Seiten. :traenennah: Ich nehme mir mal fest vor, es zu lesen, aber erst, wenn ich die Strudelhofstiege und den Mann ohne Eigenschaften fertig gelesen habe ...