Clarín: Die Präsidentin


  • schade, dass Ihr "versumpft" seid, ich habe bei Euch - nicht im Buch - mitgelesen und finde das, was und wie Ihr schreibt, arg interessant. Vor meinem Urlaub hatte ich die feste Absicht, das Buch ueber die Stadtbibliothek zu bestellen, aber die Zeit haette nicht gereicht und jetzt seid Ihr - trotz Versumpfen - schon zu weit....Guckt mal, dass Ihr wieder in die Puschen kommt.


    Aye, aye Sir!


    Ich nehme die Lektüre des 20. Kapitels wieder auf und stecke mitten in einer stadt-umfassenden Intrige gegen Don Fermín, einerseits von seinem Intimfeind, dem Archidiakon, gezielt geschürt und gesteuert, andererseits vom Devotionalienhändler und Alkoholiker Barinaga und dem Atheisten Don Pompeyo hochgekocht. Man wirft von seiten der letzteren dem Generalvikar und seiner Mutter Geldscheffelei vor, von seiten des Archidiakons und seiner Clique sowie nun auch von Don Alvaro Mesia, der zum Rivalen Don Fermíns mutierte, die Verführung der Präsidentin vor, wobei Don Alvaro nur auf die religiöse Verführung schaut, während der intrigante Archidiakon und seine Blase versuchen, Ana und Don Fermín ein wirkliches Verhältnis unterzuschieben.
    Eigentlich gibt es in diesem Roman keine sympathischen Typen, alle sind sie vollendete Egoisten und kreisen nur um ihre eigenen Interessen, was, wie ich finde, auch für Ana selbst gilt.


    Aber so sind wir Menschen halt auch :zwinker:. Ich denke, ein bisschen übertrieben fies sind einige dargestellt, aber nah an der Realität. Gerade dieses klerikale Klima und die Atmosphäre der Triebsublimierung steigern hier noch das intrigante Klima.

  • Inzwischen habe ich das 21. Kapitel, eine rechte Idylle beendet.
    Alle die bösen Intriganten sind in der Sommerfrische und so dürfen Don Fermín und Ana ihre platonische Beziehung unbeobachtet genießen. Noch glaubt auch der Generalvikar - und glaubt vor allem das zu müssen, um sich Anas Zuneigung zu erhalten - , das Ganze als ideale ethisch-religiöse Beziehung weiter gestalten zu können. Aber eine Szene bei Kommunikantinnen in der Kirche, die er scheinbar gönnerhaft, aber doch lustvoll betatscht, zeigt, dass da wohl noch andere Untertöne in die Beziehung mit Ana kommen werden.
    Der arme Ehemann tut mir leid: Ana legt ihm mystische Schriften zum Lesen hin, die ihm mit Höllenqualen drohen, was sie noch unterstützt. Er ist ja aber eigentlich der harmlose ältere Dilettant, der sich vor allem gerne mit allem möglichen Kram beschäftigt, ohne jemandem damit wehzutun. Sein Fehler war eben nur, eine junge leidenschaftliche Frau zu heiraten, obwohl er selber im Bereich der Libido nicht der agilste Fisch im Teich ist.


  • Das wird ja immer schoener. Bitte weiterlesen und -schreiben. Danke.


    Nun, es wird immer pikanter! Nachdem die Sommerfrischler in die Stadt zurückgekehrt sind, geht die Hatz auf Don Fermìn wieder weiter. Besonders perfide: Das Sterben des alten Devotionalienhändlers, den Fermíns Mutter geschäftlich ausgebootet hat und der seitdem den Generalvikar leidenschaftlich hasst, wird von den anderen Hassern begleitet: Kaum einer bringt ihm was zu essen an sein Sterbebett, aber alle rennen rum und erzählen, wie grausam Don Fermín den Alten ans Hungertuch gebracht hat. Sie kommen nur vorbei, um zu sehen, ob er nun endlich den Löffel abgibt und machen dann ein großes Geschrei, weil er, der das Sterbesakrament verweigerte, jetzt in nicht geweihtem Boden begraben wird.


    Es ist wirklich niemand sympathisch in diesem Roman: eine Festlektüre für jeden Misanthropen.
    Morgen berichte ich weiter, bin in der Lektüre auch schon weiter, hab jetzt keine Zeit mehr.


    Dass du, thopas, erst ab Mitte Oktober wieder weiterliest, hast du ja geschrieben, aber wie sieht's mit dir aus, Zefira? Jetzt, im letzten Drittel macht die Lektüre wieder viel Spaß, viel mehr als Madame Bovary. Clarín ist ein meisterhafter und richtig böser Satiriker.


    Morgen geht es um den Rosenmontagsball... .

  • Ich habe ein Stückchen weiter gelesen. Es wird sehr dramatisch. Die Präsidentin hat einen Faschingsball besucht und sich auch noch zu einem einzigen Tanz überreden lassen, ausgerechnet mit Alvaro. De Pas versteht das als persönliche Niederlage und nimmt es ihr heftig übel, was wiederum in ihr zum ersten Mal den Verdacht weckt, dass er recht ungeistliche Gefühle ihr gegenüber hegen könnte.


    Später hat sie ein schlechte Gewissen wegen dieses Verdachts ...


    Die Art und Weise, wie Clarín über de Pas' Sexualität schreibt, ist mir manchmal ein Rätsel. Da heißt es, dass die Begegnungen mit Ana seine Sinne aufwühlen und ihn zwingen, sich auf unehrenhafte Weise Erleichterung zu verschaffen, was ich zunächst als Onanie gedeutet habe. Dann kommen aber wieder Anspielungen auf seine Bedienstete Teresina. Passiert da also doch mehr, als dass er sie von seinem Frühstückswecken abbeißen lässt?

  • Ich bin durch. In den letzten Kapiteln passiert unheimlich viel, ein dramatischer Höhepunkt jagt den anderen und man kann nicht mit Lesen aufhören bis zum Schluss.


    Edit, das ist mir noch aufgefallen: Ein stilistischer Kunstgriff, der (mir persönlich) erstaunlich modern anmutet, ist es, Kapitel mit einem Dialog beginnen zu lassen, bei denen der Leser zunächst nicht weiß, wer spricht.
    Das erste Mal habe ich das bemerkt in dem Kapitel mit dem Faschingsball, wo es darum geht, was Ana zum Ball anziehen wird. (Da de Pas genau nachfragt, wie sie ihre Garderobe gestalten wird, nennt Ana ihn "Herr Naseweis", was ich ziemlich befremdlich finde, es passt irgendwie nicht zu ihrem Charakter, zeigt aber auch an, wie sich die Beziehung geändert hat.)

  • Also, ich habe mir fest vorgenommen, das Buch zu lesen so interessant, wie Ihr das schildert. Nun hatte ich aber gerade mangels "Masse" mich wieder in Schopenhauer verbissen (passt SEHR gut, denke ich) und mein Sohn hat mir dringend empfohlen, den Fall Maurizius von Wassermann zu lesen...Muss mal sehen, wie ich das nacheinander abarbeite. Soll ja (auch) Spass machen und mir nicht nur den Schaedel mit Finsburys Axt spalten - oder?

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.


  • Das ist Kapitel 22, wenn ich richtig mitgezählt habe? Da bin ich gerade dran. (Ich meine das Kapitel, das mit dem erhellenden Disput über Trunksucht, sowie den Zitaten aus der Zeitung beginnt.)


    An die Zitate aus der Zeitung erinnere ich mich nicht, aber es geht wegen Don Santos Barinagas Sterben um die Folgen der Trunksucht.



    Ich bin durch. In den letzten Kapiteln passiert unheimlich viel, ein dramatischer Höhepunkt jagt den anderen und man kann nicht mit Lesen aufhören bis zum Schluss.



    Beim Fall Maurizius würde ich auch mittun, da plane ich schon lange eine Zweitlektüre. (Noch lieber wäre mir allerdings der Christian Wahnschaffe).
    Ab November würde ich mich anschließen können.


    Und bei mir lagert noch der "Caspar Hauser" von Wassermann ungelesen. Den wiederum würde ich mitlesen :zwinker:.


    Aber jetzt muss ich erstmal hier zum Ende kommen.


    Ich bin noch ca. 90 Seiten vom Schluss entfernt, aber nicht, weil die Lektüre zäh wäre. Wie du auch schreibst, überstürzen sich die Ereignisse, Dramatik, Ironie verdrängen die langen reflexiven Szenen, was dem Roman sehr gut tut.


    Das mit den Dialogen habe ich gar nicht so bemerkt, dagegen ein anderes Prinzip. Clarín spitzt im Roman ca. dreimal die Handlung auf eine entscheidende Begegnung zwischen Ana und Fermín hin, stellt diese entscheidende Begegnung aber dann nicht dar, sondern kommt direkt auf die unmittelbaren Folgen zu sprechen.


    Dass Don Viktor tatsächlich impotent ist, stellt sich auf Seite 728 heraus. Auch Don Fermíns erotische Abenteuer werden immer deutlicher benannt. Vielleicht ist das auch ein Prinzip Claríns, gewisse handlungsentscheidende Prämissen erst ganz langsam aufzudecken.


    Schön ist auch die Stelle, wo es zwischen Ana und Don Alvaro endlich passiert:


    Zitat

    .. und gelangte an die angelehnte Balkontür. Er stieß sie auf.
    "Ana!"
    "O Gott!"


    Das war's. Schön auch, dass Ana ausgerechnet diese Wendung benutzt, die ihr ganzes vorheriges Verhalten auf den Kopf stellt und trivialisiert.
    Ach, ich hätte gar nicht gedacht, dass das Buch doch noch so viel Spaß macht.

  • Zitat

    Dass Don Viktor tatsächlich impotent ist, stellt sich auf Seite 728 heraus.


    Und nicht nur das - auch Alvaro ist nicht mehr so "leistungsfähig", wie anscheinend sein Ruf als Don Juan behauptet. Zumindest hat er seine liebe Not, seiner Leidenschaft für Ana nachzugehen und zugleich der Bediensteten Petra ein ernsthaftes erotisches Interesse vorzuspiegeln.
    Clarín schreibt hier in Wendungen, die einerseits zeitgemäß schamhaft andeuten (heutige Autoren wären da wesentlich deutlicher), zugleich weiß er diese Andeutungen mit herrlich ironischem Unterton vorzubringen.


    ps. Mit Zitaten aus der Zeitung meinte ich den Artikel über die Zustände im Frauenkloster. Die Zeitung heißt, glaube ich, "Alarm", quasi ein Gegenstück zur "Kreuzfahne".

  • Ich möchte noch etwas dazu schreiben, was mir nicht mehr aus dem Kopf geht:
    Wenn von "Saturnillo" Bermudez die Rede war, habe ich ständig Martin Schulz vor Augen gehabt! :breitgrins: :breitgrins:


    Schade übrigens, dass er nicht öfter vorkam (jetzt unabhängig von Martin Schulz). Im Nachwort zu meiner Ausgabe wird angedeutet, dass Clarín sich in Bermudez ein wenig selbst porträtiert habe.

  • erst mal bedanke ich mich bei Euch ganz herzlich, dass ich bei Euren wunderschoenen und interessanten Beitraegen mitlesen durfte. Ja, den Kaspar Hauser hatte mein Sohn mir auch schon empfohlen, ohne dass ich ihm gefolgt bin. Da waere ich auch dabeil. Start Anfang November wuerde mir auch passen.

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.


  • erst mal bedanke ich mich bei Euch ganz herzlich, dass ich bei Euren wunderschoenen und interessanten Beitraegen mitlesen durfte. Ja, den Kaspar Hauser hatte mein Sohn mir auch schon empfohlen, ohne dass ich ihm gefolgt bin. Da waere ich auch dabeil. Start Anfang November wuerde mir auch passen.


    Weiteres dann im entsprechenden Thread unter Lesevorhaben. Besonders schön, dass du auch dabei bist, denn durch dich sind wir ja erst auf Wassermann gekommen.


    Übrigens bin ich noch nicht fertig mit der Präsidentin. Ich befinde mich auf den letzten zwanzig Seiten, wo es wohl zum Duell zwischen Anas Ehemann und Liebhaber kommen kann.


    Sehr schön fand ich die Überlegungen Quintanars auf dem Jagdausflug, wenn sie dann auch später aus gesellschaftlichen Rücksichten und weil Fermín, seine Mutter und Petra dafür gesorgt hatten, dass Quintanar sein Gesicht wahren muss, obsolet werden.


    Vorher auf dem Jagdausflug mit Frígilis reflektiert Don Victor das Geschehen und kommt, wenn auch wohl eher aus Bequemlichkeit, zu den Schlüssen, die in einer toleranteren und weniger chauvinistischen Gesellschaft als richtig angesehen würden, dass er Ana genauso betrogen hat wie sie ihn, dass sein Strafen nichts mit ihm, sondern mit der Gesellschaft zu tun hat.


    Frígilis tut sein Bestes, um Don Victor von Schnellschüssen abzuhalten, hat aber keine Macht vor der Fama, die von Fermíns Anhang aufgehetzt wurde ... .


    Das Ende ist nahe (wie biblisch :zwinker:)

  • Das Ende ist ja schon komisch... . Gegen offene Enden habe ich ja nichts, auch wenn sie besser zu Kurzgeschichten passen, aber dieses??


    Don Fermín weist aus verletzter Eitelkeit die verwitwete Präsidentin, die nach Monaten der Krankheit und Isolation wieder zur Kathedrale geht, in der Hoffnung, ihren alten Bruder im Geiste wiederzugewinnen, brüsk zurück. Ana stürzt darauf und fällt in Ohnmacht, was den schleimigen Kirchendiener dazu veranlasst, ihre Ohnmacht auszunutzen und ihr einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Von diesem Krötenkuss erwacht die Hauptperson und der Roman ist zu Ende.


    Aber ... weiter gedacht ist das eigentlich ein nur konsequentes Ende. Die beiden eigentlichen Hauptpersonen erfahren die größtmögliche Desillusionierung - Fermín kann nicht über seinen Schatten springen, aber bleibt der Präsidentin dennoch verfallen, genauso wie bei Ana zeichnet sich ein verbittertes, einsames Leben mit gesellschaftlicher Ächtung ab, denn sicher werden die Vetustenser auch ihn wieder mit ihrer Abneigung verfolgen.
    Der Don Juan dagegen verschwindet unehrenhaft, nachdem er Anas Ehemann im Duell unnötigerweise getötet hat.
    Ihm gönnt der Autor keinen inneren Monolog, keine Schlussszene mehr.
    Wir erkennen daran, dass neben Ana, die trotz aller Sonderlichkeiten am meisten die Sympathie des Lesers zu verdienen scheint, auch Don Fermín zumindest unserer Aufmerksamkeit wert ist, denn er ist genauso ein Opfer seiner Lebensumstände wie Ana.


    Im Nachhinein muss ich sagen, dass der Roman zwar in den ersten zwei Dritteln für mich ein paar Längen hatte, aber insgesamt ein fesselndes Leseerlebnis war, für mich den Frauenromanen von Fontane viel näher als Flauberts Madame Bovary, denn mit dem Brandenburger teilt Clarín den sezierenden Blick auf sogenannte Gesellschaftsmenschen, wenn dieser bei Fontane auch eher humoristisch und persönlich, bei Clarín dagegen allgemein gesellschaftskritischer und satirisch bis sarkastisch ausfällt.


    Vielen Dank, thopas, dass du mich zum Lesen dieses Werkes angeregt hast und euch beiden für die interessanten Spotlights.

  • Mittlerweile bin ich bei Kapitel 20. Es geht voran :zwinker:.


    Das Kapitel mit der Herbst- bzw. Winterschilderung fand ich auch sehr gelungen. V.a. weil es bei uns auch ziemlich geregnet hat am Sonntag, da konnte ich gut mitfühlen.


    Ana ist mir ein Rätsel... Sie weiß wohl gar nicht, was sie will und scheint auch psychisch eher labil zu sein. Und wenn es dann gar keinen Ausweg gibt, wird sie einfach krank. Und ihr Mann ist eher genervt, wenn er seine Freizeitaktivitäten einschränken muss, weil seine Frau krank ist.


    Ich warte schon drauf, dass die Handlung endlich anzieht; momentan geht es ewig um den einzigen Atheisten in Vetusta.


  • Mittlerweile bin ich bei Kapitel 20. Es geht voran :zwinker:.


    Ich warte schon drauf, dass die Handlung endlich anzieht; momentan geht es ewig um den einzigen Atheisten in Vetusta.


    Wenn du diese Durststrecke überwunden hast, wird's aber wieder spannend. Wobei ich diese beiden Außenseiter, den Atheisten und den geprellten Devotionalienhändler, auch sehr witzig geschildert finde.