Mai 2003: Balzac - Die Frau von 30 Jahren

  • Hallo zusammen,
    hallo Hubert


    Ich habe das Buch gerade fertig gelesen.


    Zitat

    Könnte es sein, dass einem nach „Moby Dick“ alles ein bisschen zu romantisch vorkommt?


    Damit hast du ganz bestimmt recht. :breitgrins: Für mich war es schon eine große Umstellung, von der rauhen See ins liebliche Frankreich. Ich glaube auch, daß mir der Anfang des Buches gar nicht so trivial vorgekommen wäre, wenn das vorherige Buch nicht "Moby Dick" gewesen wäre. Danke übrigens für die Erklärung der satirischen Aspekte im ersten Kapitel. Diese lassen es doch in einem anderen Licht erscheinen.


    Zitat

    Ich lese das Buch nicht als geschlossenen Roman, sondern jedes Kapitel, als eine abgeschlossene Erzählung oder Novelle, so wie sie auch entstanden sind und dann ist es erträglich.


    Mache ich genau so. Sonst wäre ich mit dem Buch überhaupt nicht zurecht gekommen. Die ersten drei Kapitel fand ich vom Stil her noch einigermaßen homogen, als aber dann im vierten Kapitel plötzlich ein Ich-Erzähler auftritt, war das zunächst schon irritierend.


    JMaria schrieb:

    Zitat

    Helene hat gerade verkündet, daß sie mit dem Fremden mitgeht. Ich kann das noch nicht nachvollziehen.


    Konnte ich auch nicht. Das ging etwas schnell. Ich hätte schon gerne gewußt, was sie an diesem Kerl findet. Vielleicht fand sie es zu Hause nur dermaßen unerträglich, daß ihr jedes Mittel recht war um wegzukommen. Hauptsache fort.


    Fast zu viel wurde mir aber die anschließende Seeräuber-Story. Was für unglaubliche Zufälle. Das konnte ich beim besten Willen nicht ernst nehmen.
    Auf dem Schiff schwärmt Helene ihrem Vater vor, wie glücklich sie mit ihrem Korsaren ist und wie menschlich und großherzig er sei. Vollkommenes Glück. Aber beim Wiedersehen in dieser Pension sagt sie auf dem Sterbebett zu ihrer Mutter: "Es ist kein Glück außerhalb der Gesetze möglich." Innerhalb der Gesetze aber auch nicht, wie wir von Julie immer wieder erfahren haben. Wo denn dann? Dann ist ja für Frauen überhaupt kein Glück erreichbar. Innerhalb der Gesetze sind sie "Sklavinnen", versuchen sie aber auszubrechen und außerhalb der Gesetze ihr Glück, ist ihnen das auch nicht vergönnt. Sollen sich also die Frauen am besten mit sechzehn Jahren umbringen, wie Helene das vorhatte, wenn sie sowieso keine Aussicht auf ein glückliches Leben haben? Hat Balzac das so gemeint?
    Dieser Gedanke scheint mir dann doch zu drastisch und im sechsten Kapitel kommt ein anderer Aspekt ins Spiel: Die Erziehung. Immer wieder wird Moina als "verzogenes Kind" bezeichnet. Sie ist kokett, tanzt ihrem Mann auf der Nase herum, hat einen Liebhaber (der auch noch zufällig ihr Halbbruder ist) und läßt sich von ihrer Mutter nichts sagen. Und sie ist glücklich. Moina, als geliebtes Vandenesse-Kind, wird von ihrer Mutter liberaler erzogen worden sein als die ungeliebte Helene.
    Das Ganze habe ich für mich jetzt so interpretiert, daß nicht die "Gesetze" am Unglück der Frauen schuld sind, sondern die Erziehung. Also die Gesellschaft, welche die Frauen dazu erzieht, innerhalb dieser "Gesetze" ihre Rolle zu spielen. Vielleicht wollte Balzac darauf hinaus; vielleicht liege ich mit meiner Interpretation auch völlig daneben. :rollen:


    Bin gespannt auf Eure Eindrücke.


    Viele Grüße
    ikarus

    "Der Umgang mit Büchern bringt die Leute um den Verstand" (Erasmus von Rotterdam)

  • Hallo zusammen !


    Hubert:


    Zitat

    Ich kenne das Diogenes TB nicht, gibt es da Anmerkungen?


    Keine direkten Anmerkungen aber ein Nachwort. dass allerdings mehr auf Balzacs Biographie und sein gesamtes Werk eingeht.



    Zitat

    Ich glaube auch, dass das oft zutrifft und kann mir auch vorstellen, dass es eine Beziehungsgrundlage sein kann. Aber als Ideal ist es doch nicht anzustreben, oder?


    Das Ideal einer Beziehung - wenn beide Partner glücklich sind. Womit wir ja wieder bei Balzac wären ...


    Ich habe den Roman gestern zu Ende gelesen. Und weil Hubert Moby Dick ansprach, beim Seeräuberkapitel ist mir richtig klargeworden wie gut Melville wirklich ist. Bei ihm war ich auf See, Balzac dagegen hat wohl auch etwas anderes im Sinn. Ich habe es nämlich mehr als Bühne empfunden, eine Art romantisches Theaterstück und ganz im Gegensatz zu dem Realismus der übrigen Handlung. Und so ist die persönliche Entfaltung ohne Konventionen auch nur ein Schauspiel, Helene macht sich selbst etwas vor und spielt, wie auch Julie, eine Rolle.


    ikarus schreibt:

    Zitat

    Dann ist ja für Frauen überhaupt kein Glück erreichbar.... daß nicht die "Gesetze" am Unglück der Frauen schuld sind, sondern die Erziehung. Also die Gesellschaft, welche die Frauen dazu erzieht, innerhalb dieser "Gesetze" ihre Rolle zu spielen.


    Traurig, nicht ? Aber das habe ich genauso empfunden.


    Was mich an dem Roman besonders irritiert, ist diese Verworrenheit, wohl durch die Entstehungsgeschichte bedingt. Es gibt so viele Gedanken und Ansätze, aber meistens werden sie nicht richtig zu Ende gebracht oder aufgelöst. Das macht allerdings das Lesen interessant.


    Jedes Kapitel, scheint mir, beleuchtet einen anderen Aspekt des Glücks, einen anderen Versuch/Ansatz glücklich zu sein - aber ich glaube, ich muß mir nochmal darüber Gedanken machen. Irgendwie hat mich gerade diese verzweifelte Suche Julies und Helenes nach dem Glück berührt.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen


    ich bin nun auch durch und ich verlasse die Geschichte etwas traurig.
    Vielleicht weil es keine Antwort gab, wo Frau das Glück finden kann?


    Ansonsten habt ihr eure Eindrücke bereits schön zusammengefaßt.


    Jedes Kapitel für sich stehend zu lesen, war ein angebrachter Rat, der sich als hilfreich erwiesen hat.


    Frage:
    Gegen Ende sagt Helene, daß sie lieber mit 16 gestorben wäre, wenn ihr Selbstmordversuch doch nur gelungen wäre. Ich glaube das muß ich im Laufe der Geschichte überlesen haben. Wißt ihr in welchem Kapitel Helene diesen Versuch gestartet hat?


    Hubert:
    gesamt gesehen, hast du mit deiner Einschätzung, daß der Dialog im 3. Kapitel Small Talk war, sicher recht.


    Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Balzac einiges im Text versteckt hält, nur komm ich nicht dahinter was.


    so richtig glücklich war Helene nur auf dem Schiff, weil diese begrenzte Welt ihr die Sicherheit gab, daß ihr Mann ihr immer nahe ist. Hätte sie in der gesellschaftlichen (gesetzlichen) Welt vielleicht tief in sich die Angst gehabt, daß ihr Mann sie betrügen könnte? Schließlich hat sie es ja erlebt, wie locker die Moral in diesem Kreis sein konnte.


    Er kann ohne mich nicht weiter gehen als vom Bug bis zum Heck


    Ihr Sterbesatz war durchbrochen und nicht zuende gesagt. Ich habe das Gefühl, daß die Mutter es Moina falsch interpretierte bzw. so wie die Mutter es genehm war.


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen,


    Das fünfte Kapitel „Die zwei Begegnungen“ war ursprünglich zunächst in 2 Teilen am 21.1.1831 „Die Bezauberung“ und am 28.1.1831 „Der Pariser Kapitän“ in der „Revue de Paris“ erschienen. 1832 wurde dann noch ein 3. Teil „Die Belehrung“ hinzugefügt. Diese spätere Hinzufügung ist m.M. nach entscheidend für die Beurteilung der „Piratenstory“. Habe ich aber noch nicht fertig gelesen und so will ich heute nur etwas zur 1. Begegnung bemerken.


    Die Bezauberung


    Nachdem ich erst abwarten wollte, wie weit ihr seit (ich habe ja erst heute erfahren, dass ihr schon alle fertig seit), habe ich in dem „Schauerroman“: - „Die Burg von Otranto“ gelesen. Und dann gestern abend noch mit dem 5. Kapitel bei Balzac weitergemacht. Und da hat es mich fast aus den Socken gehauen; zuerst habe ich fast gedacht, ich bin immer noch bei Horace Walpole, aber nein es war Balzac, aber genau im selben Stil wie Walpole und dazu noch das gleiche Personal:


    die ungeliebte Tochter (bei Walpolce heißt sie Mathilde),


    der etwas jüngere Sohn (bei Walpolce heißt er Corrado)


    der geheimnisvolle Fremde (Theodore) der auf geheimnisvolle Weise aus einem verschlossenen Zimmer herauskommt (in beiden Fällen hat ihn die Tochter, die sofort von dem Fremden bezaubert ist, herausgelassen, was aber der Vater nur ahnt. –


    Gut die Story geht dann etwas anders aus, aber mein Eindruck ist, Balzac wollte mit dieser Story in der „Revue de Paris“ zeigen, was diese englischen Schauerromanschreiber können (tatsächlich waren die eng. Schauerromane gerade ins franz. übersetzt worden und in Frankreich sehr populär), das kann ich auch und er hat nur die Story nicht ins mittelalterliche Italien verlegt, sondern als Erfinder des Realismus natürlich ins damalige „hier und heute“ und das ganze zwar im gleichen Stil, aber doch glaubhafter als die echten „gothic novel“ geschrieben.


    Kann das noch Zufall sein, dass ich ausgerechnet jetzt Walpole und Balzacs "Die Frau ..." zusammen lese?

    Jetzt bin ich sehr auf die Piratenstory gespannt ....


    Gruß von Hubert

  • Hallo Hubert !


    Erstaunlich, deine Begegnung mit Walpole und Balzac - und deine Beschreibung des Gothic-Szenarios gibt dem Beginn des Kapitels richtig einen Sinn. Insgeheim habe ich nämlich schon gegrübelt, ob die verschiedenen Teile/Kapitel jeweils bestimmte Stilrichtungen als Thema haben: der Anfang ist ja im Stil eines Liebesromans, die Piratenstory erinnerte mich an ein Theaterstück ... weiter bin ich mit meiner Theorie aber noch nicht gekommen.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen
    zu den verschiedenen Stilrichtungen, die im Roman zu finden sind, möchte ich nochmals Hafis Beitrag hervorholen:



    Hubert:
    ich staune auch manchmal, wie sich manche Bücher auf irgendeine Form verbinden. Mir ist das bei unserer Leserunden von "Effi Briest" aufgefallen. Ich erinnere nur an Foque: Undine!


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • macht ja nichts, dafür sind wir ja eine Leserunde und bei einer großen Runde, übersieht man leicht etwas. Spreche aus Erfahrung :breitgrins:


    LG Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Frank,


    ja, wirklich ein spannendes Thema: Die Gefühle. Die von Dir zitierte Stelle „Ist es nicht etwa ein Irrtum, zu glauben .....“ habe ich anscheinend völlig überlesen. Kannst Du mir ungefähr die Stelle im Buch angeben, damit ich nicht den ganzen Roman nochmals lesen muss? Inzwischen sind wir ja mit dem Buch durch, d.h. ich lasse es zur Zeit noch in meinen Gedanken nachklingen und beschäftige mich noch mit verschiedenen aufgeworfenen Fragen will aber demnächst mal ein abschließendes Fazit formulieren. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Du unsere Diskussion verfolgt hast, die ja in einem anderen Thread stattfand. Hier der Link dahin:


    http://www.klassikerforum.de/forum/viewtopic.php?t=314


    Vielen Dank, dass Du auf Deinen Seiten auf unser Forum hingewiesen hast. Ich hoffe, dass der Kontakt zwischen uns nicht einfach wieder abreißt, ich jedenfalls werde Deine Balzacseiten auch in Zukunft immer wieder mit Interesse besuchen.


    Gruß von Hubert

  • Hallo Hubert, gut dass ich nochmal reingeschaut habe. Also ich verfolge eure Disskusion sehr aufmerksam, habe allerdings das Buch nicht nochmal gelesen. Bei mir ist es schon einige Jahre her. So nun zur Textstelle. Ich beziehe mich auf die Übertragung von Ernst Sander. Auf der 4. Seite im 2. Kapitel: "Unbekannte Leiden" (bei mir Seite 151 der Ausgabe Wilhelm Goldmann Verlag 1998, Bd. III, 12 bändige Taschenbuchausgabe). Ich hatte ja eingangs schon mal erwähnt, das dieser Roman sehr viele philosophische Betrachtungen beinhaltet. Also danke nochmal. Wenn der Inhalt der Handlung manchmal nicht so rüberkommt, ihr findet hier sehr schöne Erörterungen. Alles gute, Frank.