Charles Dickens: Harte/Schwere Zeiten

  • Charles Dickens' Roman "Hard Times" erschien 1854. In ihm setzt sich der Autor anhand der Geschicke der Hautpfigur Stephen Blackpool und zahlreicher Nebenhandlungen mit den Folgen der Industriellen Revolution auseinander. Der Roman gilt als eines seiner schärftsten sozialkritischen Werke.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

    Einmal editiert, zuletzt von finsbury ()

  • Pünktlich zum 15. 11. eröffne ich die Leserunde.
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    Giesbert Damaschke
    JMaria
    Lost
    Steffi
    finsbury.


    Meine Ausgabe aus dem Insel-Verlag ist ein Taschenbuch und wurde 1986 veröffentlicht. Der Übersetzer ist
    Paul Heichen.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen,


    finsbury
    Danke schön für die Materialiensammlung, insbesondere die Links mit den Zusammenhänge zur Industriellen Revolution. Werde ich mir durchlesen.


    Ich lese die Übersetzung von Christine Hoeppener und habe die ersten zwei Kapitel mit der Gutenberg Übersetzung verglichen und heute morgen mir den Originaltext vorgenommen.


    Gutenberg finde ich etwas gelungener, manche Wörter bei Hoeppener finde ich holprig, wer kennt schon den Begriff "kleine Kruken" -'little pitchers', 'kleinen....Krüge' (Gutenberg). Gutenberg macht jedoch aus der Sissy Jupe, eine Cili, dafür macht die Hoeppener aus Sissys Vater einen Zirkusreiter der in der Manege reitet, Gutenberg einen Reiter in einer Reitertruppe und zähmt Pferde in einem Ring... Im Endeffekt hebt sich das alles auf, es gibt bei beiden Vor- und Nachteile.


    Den Titel finde ich besser in der Übersetzung "Harte Zeiten" im Gegensatz zu "Schwere Zeiten", da 'hart' mehr beinhaltet, Redewendungen, Beschreibungen.


    Dickens benutzt in den Personenbeschreibungen Bezeichnungen die Härte aufweisen, statt Stirn ist es eine Stirnmauer, Augen wie geräumiges Kellergeschoß mit von Mauern überschatteten Höhlen, ein hart geschliffener Mund, der " Nachdruck" auf Stimme und Haar, vermittelt ebenfalls Härte.... Die strikte Lehre von "Tatsachen" bezeugt Härte....


    Die Vergleiche mögen Dickens manchmal etwas verunglücken, aber seine Absicht dahinter, finde ich interessant.



    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Die Übersetzerin in meiner Reclam-Ausgabe ist Ulrike Jung-Grell, und sie hat auch Anmerkungen und ein Nachwort geschrieben.
    Dem Sprecher der Gaukler Mr. Sleary legt die Übersetzerin einen deutschen Slang über, der zu Glück das Lesen nicht merklich hemmt. Mir sagt das nicht viel, ein guter Vorleser könnte daraus aber den Figurencharkter deutlich betonen, nehme ich an.
    Im Nachwort wird betont, dass "Schwere Zeiten" eine Ausnahmestellung in Dickens Werk hat, weil hier seine Art der humorvollen Schilderung fehlt und tatsächlich finde ich in den ersten Kapitel einen bitteren Sarkasmus, in dem eine Portion Wut auf diese Kultur der reinen Nützlichkeit zu spüren ist. Was hätte wohl Dickens zu der Architektur des Bauhauses oder zu IKEA-Möbeln gesagt und was dazu, dass man auch mit klarer Linienführung Unnützes und trotzdem Fantasieloses erzeugen kann? Moderne Zeiten: Fakten, Fakten, Fakten und Dickens stellt diesem Credo die natürlichen Bedürfnisse der Kinder entgegen entgegen, und so möge uns auch etwas von den Resten unserer kindlichen Fantasiewelt durch den Roman führen.

  • So, ich hatte noch einiges andere zu tun, aber nun konnte ich wenigstens die ersten drei Kapitel lesen:
    Die Übersetzung von Paul Heichen finde ich gewöhnungsbedürftig. Ich weiß, dass sich Dickens manchmal ziemlich extremer Vergleiche und Metaphern bedient (danke für deine aufschlussreichen Hinweise, Maria), aber Herr Heichen addiert dazu noch einen barocken Satzbau, von dem ich nicht so recht glaube, dass das der Dickensschen Syntax entspricht. Allerdings beherrscht Heichen unsere Sprache umfassend und es fängt an, mir Spaß zu machen. Der Übersetzer der Gutenberg-Ausgabe heißt übrigens Carl Kolb.
    Eine Kostprobe aus der Mitte des zweiten Kapitels, der ebenfalls mit Metaphern der Härte und Erbarmungslosigkeit geschilderte Schulaufsichtsbeamte (?) greift in das Geschehen ein, Version nach Heichen:


    Der dritte Herr trat jetzt einen Schritt vorwärts. Ein gewaltiger Mann, der alles am Schnürchen hatte, war er; ein Diener des Staats; in seiner Weise (und in der meisten anderen Leute Weise auch) ein erklärter Boxer, immer im Drill; immer bei der Hand mit einem System, das sich in die Universalkehle nach Art einer Gewaltpille hinunterzwängen ließe; immer mit dem großen Maule am Gitter seiner Kanzlei und augenblicks bereit, ganz England gegen sich in den Kampf zu fordern.


    Nun die Version von Carl Kolb:
    Der dritte Herr trat jetzt vorwärts. Er war ein tüchtiger Mann im Knuffen und Schlagen; ein Regierungsbeamter. Nach seiner Weise (und auch in der der meisten Leute) ein erklärter Boxer. Immerfort in Übung, immerfort mit einem Plane bei der Hand, die Kehle von aller Welt wie ein Arzneikügelchen abzuwürgen, posaunte er ständig vor den Schranken seines Bureaus aus, daß er bereit sei, es mit »ganz England« aufzunehmen.
    Quelle: Projekt Gutenberg


    Und das englische Original:
    The third gentleman now stepped forth. A mighty man at cutting and
    drying, he was; a government officer; in his way (and in most other
    people’s too), a professed pugilist; always in training, always with a
    system to force down the general throat like a bolus, always to be heard
    of at the bar of his little Public-office, ready to fight all England.

    Quelle: Projekt Gutenberg


    Eigentlich passt keine der Übersetzungen, die von Kolb ist vielleicht schlichter, die von Heichen sprachgewaltiger. Gerade die Stelle mit dem Hals und der Pille: Da sind beide völlig unterschiedlich: Heichens passt wohl (bei meine mangelhaften Englischkenntnissen) vom Bezug her besser, allerdings überlädt er und dichtet dazu.

    Bin gespannt auf eure Übersetzungen.


    Lost, du hast ganz Recht: Hier ist bisher kein Dickensscher Humor zu sehen, nur bitterer Sarkasmus, aber doch ziemlich treffend, selbst in seiner Überzogenheit. Und es greift einem ein wenig ans Herz, wenn man sich diese Kinder vorstellt, die sich nichts vorstellen dürfen. Gerade für uns Leseliebhaber eine ganz unerträgliche Vorstellung!

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich lese die Amazon-Fassung auf dem Kindle und bin derzeit bei Kapitel 8. Die Übersetzung scheint mir etwa holprig; störend sind auch die häufig überflüssigen Anmerkungen, die in der recht schlampigen E-Book-Fassung mitten im Text stehen.


    Gutenberg macht jedoch aus der Sissy Jupe, eine Cili,


    das geht schon in Ordnung - Sissy ist wohl im Englischen die Abkürzung für "Cecile". In der Übersetzung wird der Name ein wenig zu "Cecilie" eingedeutscht und mit "Cili" abgekürzt. Passt scho’ ;-)


    Problematischer ist es da imho schon, dass Mr. Slearys Sprachfehler - bei Dickens plagt ihn ein Asthma-induziertes Lispeln und jedes "s" ist ein "th" - in der Übersetzung durch ein "T für S" wiedergegeben wird. Das ist praktisch unlesbar.


    Mal zum Vergleich:


    Original:


    Zitat

    ‘Thquire!’ said Mr. Sleary, who was troubled with asthma, and whose breath came far too thick and heavy for the letter s, ‘Your thervant! Thith ith a bad piethe of bithnith, thith ith. You’ve heard of my Clown and hith dog being thuppothed to have morrithed?’


    Gutenberg/Kindle:


    Zitat

    »Tquire«, sagte Sleary, der an Asthma litt und dessen Atem für den Buchstaben S zu dick und zu schwer war. »Ihr Ergebenter. Dat it in der Tat ein tlecht Getäft, tehr tlecht. Tie werden wohl gehört haben, dat man vermutet, mein Clown mit teinem Hunde wären durchgebrannt?«


    Also das finde ich jetzt nicht sonderlich gelungen. Und ich war froh, als Mr. Sleary wieder abtrat (aber wenn ich das richitg sehe, taucht er später wieder auf ;-))


    Es ärgert mich auch, dass die Kapitel keine Titel haben und die Gruppierung in drei Abschnitte aufgehoben ist. Vielleicht geh ich meinem E-Book mal zu Leibe und korrigiere das in der Datei.


    Zum Roman selbst: Bislang liest sich das alles in allem als boshafte und eher mit groben Strichen gezeichnete Satire; auch wenn man keine der Inhaltsangaben gelesen hat, kann man schon jetzt erkennen, dass aus Louise und Tom nichts werden und der großmäulige Mr. Bounderby übel aufschlagen wird. Dickens lässt den nicht straflos so rumschwadronieren ;-) (Gibt's bei Dickens eigentlich einen unganehmenen/miesen Charakter, der am Ende nicht seine "gerechte Strafe" bekommt?)


    Von der Industrialisierung habe ich bislang allenfalls kleine Ahnungen bemerkt, aber lt. Kindle habe ich auch gerade mal 16% gelesen ;-).

  • Im ersten Buch ist das Wesen der Industrialisierung eher aus Nebenbemerkungen ersichtlich. Da ist von den Fabriken als unbeleuchtete und beleuchte Kathedralen die Rede und es gibt ja auch diesen unwirtlichen Handlungsort Coketown.
    Mach einen kurzen Sprung in das erste Kapitel des zweiten Buchs, hier geht Dickens die Folgen der Industrialisierung in seine Zeit frontal an.

  • Hallo zusammen,


    finsbury, du hast den Übersetzer der Gutenberg Ausgabe entdeckt, Carl Kolb, fein - denn ich hatte mich schon gefragt, wie man das herausfinden könnte.


    Also, mir machen die Beschreibungen der Figur außerordentlich Spaß, wenn z. B . Dickens Mrs Gradgrind nur eine Stufe einer Idiotin entfernt beschreibt. Böse. Böse! Schon der Namensteil Grind erinnert an eine Verkrustung !


    Und hier mal der Vergleich zum unteren Textabschnitt, übersetzt von Christine Hoeppener:



    Eine Kostprobe aus der Mitte des zweiten Kapitels



    Jetzt trat der dritte Herr vor. Ein Mann, dessen Stärke war, alles im voraus fix und fertig zu haben; ein Staatsbeamter; auf seine Art ( und auf die der meisten anderen Leuten ) ein ausgemachter Boxer; immer in Übung, immer mit einem System, das er der Allgemeinheit wie eine Pille aufzwingen wollte, immer an der Schranke seines kleines Staatsamtes zu hören, daß er bereit sei, sich gegen ganz England zu behaupten.






    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Ich bin nicht wirklich weit gekommen am Wochenende, daher kann ich zum Inhalt noch nicht viel sagen.


    Vielen Dank für die Kostproben der Übersetzungen !


    Ich lese im Moment noch die deutsche Gutenbergausgabe auf dem Kindle, von Carl Kolb übersetzt (danke, finsbury). Mich stört aber so manches daran, es klingt für mich so angestaubt, während das Original irgendwie schöner klingt. Vielleicht wechsle ich noch, mal sehen, ob ich mich daran gewöhne. Im übrigen finde ich auch die anderen Übersetzungen nicht gerade gelungener, Christine Höppner gefällt mir da noch am besten.


  • Im übrigen finde ich auch die anderen Übersetzungen nicht gerade gelungener, Christine Höppner gefällt mir da noch am besten.


    ja, soweit man das nach den Minivergleichen sagen kann, scheint Höppner die beste Übersetzung vorzulegen.


    Die Übersetzung von Kolb liest sich imho ziemlich holprig, ganz abgesehen von den technischen Fehlern der Ebook-Datei.


    Am Ende kauf ich mir dóch noch die Reclam-Ausgabe …



  • Das ist ja grausig zulesen.


    Christine Hoeppener übergeht hier den Sprachfehler und es heißt:


    "Werter Herr!", sagte Sleary, der an Asthma litt und dessen Atem für eine klare Aussprache viel zu dick und schwer ging.
    "Ihr Diener! Ein schlimmes Geschäft ist das. sie haben gehört, daß mein Clown und sein Hund abgetanzt sein sollen ?"...



    Zitat von "giesbert"

    Zum Roman selbst: Bislang liest sich das alles in allem als boshafte und eher mit groben Strichen gezeichnete Satire; auch wenn man keine der Inhaltsangaben gelesen hat, kann man schon jetzt erkennen, dass aus Louise und Tom nichts werden und der großmäulige Mr. Bounderby übel aufschlagen wird. Dickens lässt den nicht straflos so rumschwadronieren ;-) (Gibt's bei Dickens eigentlich einen unganehmenen/miesen Charakter, der am Ende nicht seine "gerechte Strafe" bekommt?)



    Ja, die Louisa scheint mir trotz einer gewissen Neugierde und "sich wundern" bereits apathisch, da sie von dem Großmaul Bounderby sich einen Kuss auf die Wange geben läßt.


    Das Lehren von Tatsachen, Tatsachen und ausschließlich Tatsachen! nimmt groteske Formen an in den Antworten der Kinder auf Fragen , z.b. was ein Pferd ist.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Tja, der November bietet mir leider nicht die ruhigen Lesestunden im grauen Dämmerlicht und abends. Aber dennoch: Ich stecke jetzt wenigstens in I,7.


    Maria und Steffi: Carl Kolb habe ich gefunden, indem ich bei Gutenberg in der Arbeitsleiste über dem Text auf den Button "Quelle" ging. Da ist dann so eine Art Textnachweis/Impressum.


    Ich denke auch, dass die wohl modernste Übersetzung von Christine Hoeppner am lesefreundlichsten ist. Inwiefern sie dem Dickensschen Englisch des 19.Jahrhunderts entspricht, scheint mir fraglich, aber mein Englisch ist zu schlecht, um Stilfragen zu beurteilen. Ich habe jetzt Geschmack gefunden an dem etwas geschraubten Deutsch meiner Übersetzung von 1890 und betrachte sie als lustiges Nebenkunstwerk.


    Zur Spiegelung der Industriellen Revolution im Buch hat ja Lost schon einen guten Hinweis gegeben. Das Kapitel I,5 "Der Grundton" bietet dazu einige sehr interessante Details. Im zweiten Absatz werden ganz viele Merkmale dieser Umwälzung verdichtet: Umweltverschmutzung von Luft und Wasser, Massenarchitektur der Arbeitersiedlungen und die ökonomische Stadtplanung, die Einzwängung in ein unerbittliches Zeitraster, das den Aufenthalt im Privaten durch die gleichgeschalteten Arbeitszeiten der Fabriken reglementiert, die Uniformität der Menschen in ihrer ärmlichen Arbeitskleidung, ihrem ungesunden und abgehärmten Aussehen und die allgemeine Zerstörung von Individualität in Lebensführung und Lebensablauf, das alles hat Dickens ganz genial in die Bilder dieses einen Absatzes gefasst.


    Ihr merkt mal wieder, mehr und mehr mausere ich mich zu einem Dickens-Fan, allerdings vor allem des späteren Dickens. So einen haben wir bei uns leider nicht.Und da verzeihe ich ihm gerne seine sentimentalen Anfälle, an der unsere Literatur ja auch durchaus reich ist, und die wir z.B. bei Jean Paul immer großzügig überlesen.


    Es ist auch bewunderswert, wie Dickens in diesem Roman bisher eben auch ohne diese Verkitschung auskommt. Aus Cilchens /Cecilias Abschied von der Kunstreitertruppe hätte der frühe Dickens wahrscheinlich eine dicke Weinschaumcreme gemacht, dem späten genügen ein paar Pinselstriche, die die ganze Hoffnungslosigkeit der Lage der Kleinen deutlich machen:


    Bei dieser Rede fasste er das Kind aufmerksam in sein starres Auge, hielt mit seinem anderen beweglichen Auge seien Kunstreitersippe unter Kontrolle, küsste das Kind, schüttelte mit dem Kopfe und führte sie Herrn Gradgrind zu, als hätte er es statt mit einem Menschen mit einem Pferd zu tun.
    Und dabei ist Mr. Sleary noch einer von den Gefühlsbegabten!

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Auch im zweiten Buch ist nichts von der Dickens'schen Fröhlichkeit zu spüren. Jedoch finde ich eine der Figuren, nämlich die Hausdame im Hause Bounderby in einem nahezu freundlichen Ton satirisch charakterisiert. Die Geschichte entwickelt sich zu einem Schicksalsroman. Die Industrialisierung ist mehr Hintergrund und wird nicht thematisiert. Irritierend ist für mich, wie Dickens ausweicht, wenn er Konflikte die über den persönlichen Bereich hinausgehen, anspricht (bisher wenigstens). So ist noch nicht erklärt warum sich die Weber in den Fabriken zusammenschließen und welche konkreten Ziele mit der Agitation verbunden sind, und denen sich Stephen Blackpool nicht anschließt. Er wird wohl zur tagischen Gestalt, der zwischen den Mühlsteinen von Herrschaft und Beherrschten zerrieben wird (und natürlich steckt ein Weib dahinter, u.a.).
    Dickens setzt hier wohl auf eine individuelle moralische Integrität und weniger auf die Bedeutung von Machtkämpfen zwischen den Klassen. Seine Position, was die Natur der Menschen betrifft, zeigt Dickens an den Kindern von Gradgrind. Trotz der streng utilitaristischen Erziehung und Bildung sind ihre "natürlichen" Anlagen stärker, wenn auch sie auch nicht die gleichen sind.


    Die Qualitäten der verschiedenen Übersetzungen interessieren mich nicht so sehr. Dickens schreibt Meineserachtens recht originelle Metaphern und sonst einen recht klaren einfachen Stil, für die sprachliche Feinheiten nicht so sehr von Bedeutung sind. Also nehme ich dazu auch keine Stellung und interessiere mich weiter zuerst für die Geschichte. Seine Figuren sind allerdings so klar umrissen, dass sie schnell durchschaubar und ihre Handlungsweisen und Rollen vorhersehbar werden.

  • Ihr merkt mal wieder, mehr und mehr mausere ich mich zu einem Dickens-Fan, allerdings vor allem des späteren Dickens. So einen haben wir bei uns leider nicht.Und da verzeihe ich ihm gerne seine sentimentalen Anfälle, an der unsere Literatur ja auch durchaus reich ist, und die wir z.B. bei Jean Paul immer großzügig überlesen.


    Es ist auch bewunderswert, wie Dickens in diesem Roman bisher eben auch ohne diese Verkitschung auskommt. Aus Cilchens /Cecilias Abschied von der Kunstreitertruppe hätte der frühe Dickens wahrscheinlich eine dicke Weinschaumcreme gemacht, dem späten genügen ein paar Pinselstriche, die die ganze Hoffnungslosigkeit der Lage der Kleinen deutlich machen:


    Genau finsbury. Im Vergleich zu Sue und dem,was wir heute in deutschen TV-Serien vorgesetzt bekommen, ist Dickens recht nüchtern, und was er an HerzSchmerz aufs Papier bringt, gehört zum 19.Jahrhundert wie das Korsett und die Porzelanpfeife und das Riechsalz. Eine anständige literarische Dame dieser Zeit hat ja mindestens einmal pro Woche in Ohnmacht zu fallen.

  • Zitat von "Lost"

    So ist noch nicht erklärt warum sich die Weber in den Fabriken zusammenschließen und welche konkreten Ziele mit der Agitation verbunden sind, und denen sich Stephen Blackpool nicht anschließt. Er wird wohl zur tagischen Gestalt, der zwischen den Mühlsteinen von Herrschaft und Beherrschten zerrieben wird (und natürlich steckt ein Weib dahinter, u.a.)....


    Auf Stephen Blackpool bin ich nun in I, 10 auch gestoßen. Ich befürchte auch, daß er zu den tragischen Figuren des "Stücks" wird. Mir kam die Erzählweise im 11 Kapitel, als Blackpool vor Bounderby steht, auch wie ein Theaterstück geschrieben vor, mit Regieanweisungen, wo jeder seinen Platz hat und wie zu agieren hat. Tragisch seine Worte:


    "Dann zeigen Sie mir um Gottes Willen das Gesetz, wo mir hilft!"


    Apropos Gott und Religion, die Bucheinteilung "Die Saat, Die Ernte und Das Aufspeichern" dazu noch der Anfang des Buches, erster Abschnitt übers Pflanzen von Tatsachen, erinnern an den Bibelspruch aus Galater 6,7 "...Denn was der Mensch sät, das wird er ernten."



    Buchanfang:


    "Was ich wünsche, sind Tatsachen. Lehren Sie diese Knaben und Mädchen nichts als Tatsachen. Nur Tatsachen werden im Leben verlangt. Pflanzen Sie nicht anderes ein, und reißen Sie alles andere mit de Wurzel aus. Den Geist denkender Lebewesen kann man nur an Tatsachen bilden, nichts anderes wird ihnen je von Nutzen sein. Das ist das Prinzip, nach dem ich meine eigenen Kinder erziehe, und es ist das Prinzip, nach dem ich diese Kinder erziehe. Halten Sie sich an Tatsachen, Sir!"




    Ich komme zu I, 13


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Wenn ich kurz darf:


    So einen haben wir bei uns leider nicht.Und da verzeihe ich ihm gerne seine sentimentalen Anfälle, an der unsere Literatur ja auch durchaus reich ist, und die wir z.B. bei Jean Paul immer großzügig überlesen.


    Ersteres ja. Bei Zweiterem bitte ich Dich, mich vom "wir" auszunehmen. :breitgrins:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Wenn ich kurz darf:



    Ersteres ja. Bei Zweiterem bitte ich Dich, mich vom "wir" auszunehmen. :breitgrins:


    Außerhalb des Themas:


    In unseren Leserunden zu JP haben wir meiner Erinnerung nach alle das Thema doch recht vermieden. Vielleicht irre ich mich, lese deshalb jetzt nicht alles dort nach.


    Bin jetzt am Anfang des Stephen Blackpool-Kapitels.


    Lost, Dickens beschreibt nicht die technischen Revolutionen, aber die utilitaristische Denkweise der Zeit ist eine Voraussetzung und gleichzeitig Ausfluss des erfolgsorientierten Denkens jener Epoche und wie ich oben schon schrieb, schafft er es in wenigen Zeilen, einen sehr tiefgehenden Einblick in die Folgen des Denkens und der technischen Entwicklungen zu geben.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Aktuell: Kapitel 12.


    In Kapitel 10 habe ich einen kleinen Zufallsfund gemacht bzw. eine Stelle gefunden, die Arno Schmidt ein paar mal benutzt hat. Da heißt es:


    Zitat

    Die Lichter in den großen Fabriken, die, wenn sie erleuchtet waren, wie Feenpaläste aussahen – wie die mit Luxus-Expreß-Reisenden wenigstens behaupten – waren sämtlich ausgelöscht, …


    Wir merken uns „Eisenbahn“, „beleuchtete (Textil)Fabrik“, „Feenpalast“ und lesen nun bei Schmidt („Rollende Nacht“ und anderswo - ich hatte es in den „Umsiedlern“ vermutet, aber da finde ich jetzt nichts)


    Zitat

    Aber sie rettete mich selbst, als ihr Blick zufällig aus dem Fenster fiel: »Also wie ein Feenpalast!«. Die Fabrik war nämlich schon jetzt, um halb Sechs, über und über erleuchtet, sah aus ihrer ernsten Front hundertäugig in die Winternacht, und ich dachte – dachte: ich mußte ja vorsichtig sein! – wie es wohl in einem Kopf aussehen möge, dem beim Anblick eines Textilwerkes das Wort ‹Feenpalast› einfiel: so eine darf nun auch wählen!


    Bingo.


  • So so, da hat sich also Arno Schmidt von Dickens inspirieren lassen. Hat Schmidt vielleicht auch Dickens ein Essay oder eine Radiosendung gewidmet?


    Mit kommen manche Stellen, besonders wenn es um Bounderbys Hausdame geht so vor, als hätte sich Dickens bei Wodehouse bedient. Das Problem mit der Kausalität mal außen vor.