Auch Karamzin stellt sich vor

  • Hallo, liebe Klassikfreunde,


    auch ich möchte mich mit meinen Leseinteressen kurz vorstellen. Aufgewachsen bin ich in Erfurt, wo ich schon in der Kindheit und Jugend, in der Nähe von Weimar und Jena, mit der Literatur in Berührung kam: "Humanistenstätte", Wieland und Goethe in Erfurt, Wilhelm von Humboldt heiratete hier.


    Seit längerem befasse ich mich mit dem Gesamtschaffen des Schriftstellers, Dichters, Publizisten und Historikers Nikolaj Karamzin (1766-1826), des wichtigsten "russischen Europäers" vor Alexander Puschkin. Karamzin verkörperte geradezu in seiner Person für einige Jahrzehnte die Europa zugewandte Kultur im Zarenreich.


    Zur deutschsprachigen Literatur: ich lese immer wieder in Goethes Werken. Zuletzt nahm ich mir noch einmal "Dichtung und Wahrheit" vor.
    Jahrzehntelang in Berlin und Brandenburg tätig und wohnend, begleitete mich Theodor Fontane auf Wanderungen. Von ihm schätze ich besonders den vielleicht weniger bekannten kleinen Roman "Cecile", der im Harz und in Berlin spielt.


    Seit 1981 las ich immer wieder den "Nachsommer" von Adalbert Stifter und müsste schon "König" sein, denn Friedrich Hebbel versprach dem die Krone von Polen, der diesen Roman bis zum Ende lese, ohne dazu gezwungen zu sein. :zwinker:
    Arno Schmidt, der meinte, Stifter hätte zu den sozialen und politischen Themen seiner Zeit, wie der Revolution von 1848 und der Proletarisierung, Stellung beziehen müssen, geißelte den Autor der konfliktfreien Idylle als "sanften Unmenschen". Aber ich finde, dass in dem Roman eine tiefe Tragik anzutreffen ist.


    Von der DDR-Literatur schätze ich besonders Christa Wolf, Günter de Bruyn und Brigitte Reimann.


    Von den französischen Autoren - und damit soll es genug sein - ist Michel de Montaigne mein "Haus und Magenphilosoph". Wunderbar, wie er immer wieder seine Unzulänglichkeiten ins Spiel bringt und ausruft: "Was weiß ich". Jean Racine ist mein Lieblingsdramatiker, von Voltaire der "Zadig" der liebste kleine Roman, und Diderots "Jacques le fataliste" weiß, dass alles da oben auf der großen Rolle geschrieben steht. :zwinker:


    In der amerikanischen Literatur kenne ich mich nur ungenügend aus. Jetzt höre ich aber wirklich auf. Ich freue mich auf interessante Begegnungen und Gespräche - sie haben ja schon nach den ersten Beiträgen begonnen.
    Beste Grüße sendet aus der Lessing-Stadt Wolfenbüttel (wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich das Lessing-Haus)
    Karamzin


  • begleitete mich Theodor Fontane auf Wanderungen. Von ihm schätze ich besonders den vielleicht weniger bekannten kleinen Roman "Cecile", der im Harz und in Berlin spielt.


    Cecile mag ich auch ganz besonders gern! Faszinierend, wie Fontane seine Geschichten in Land-und Ortschaften verankert und wie detailgenau er die Schauplätze beschreibt: Thale, das Bodetal, die Rosstrappe, Quedlinburg …. Man könnte Landkarten mit Fontanes Romanschauplätzen erstellen bis nach Polen, Dänemark, Ungarn, Amerika



    ...las ich immer wieder den "Nachsommer" von Adalbert Stifter ... ich finde, dass in dem Roman eine tiefe Tragik anzutreffen ist.


    Ja, das finde ich auch. Übrigens gab es hier vor etwa einem Jahr eine Leserunde zu diesem Roman.



    Jetzt höre ich aber wirklich auf.


    Mach doch ruhig weiter ...

  • Herzlich Willkommen Karamzin.


    LG
    Anita oder "Königin von Polen"

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"


  • Herzlich Willkommen Karamzin.


    LG
    Anita oder "Königin von Polen"


    Vielen Dank auch Dir, Anita!


    Ich stimme Dir in Deinem Urteil über den "Nachsommer" zu. Wollen wir noch einmal dorthin in die Leserunde? Oder sollte sie besser als "abgeschlossen" betrachtet werden?


    Ich muss mich noch ein bißchen an den Umgang mit der Zeit für Diskussionen in diesem schon zehn Jahre existierenden Forum gewöhnen.
    Es kann ja sein, dass man Bemerkungen über einen Text, den man bemerkenswert findet, in einem Beitrag liest, der schon vor Jahren geschrieben wurde. Manche "Beiträger" von damals schreiben gar nicht mehr hier. Sollte man nun einen scheinbar "alten" Beitrag wieder hervorholen?
    Aber angesichts unseres 100-300jährigen Abstandes zu den klassischen Autoren ist das wiederum noch gar kein "Alter".


    Die organisierten Leserunden finden hingegen fast in "Echtzeit" statt, man liest, schreibt etwas im Forum und liest weiter.


    LG


    Karamzin

  • Hallo Karamzin

    Alte Beiträge wiederbeleben, ist durchaus erwünscht hier. Nur die archivierten Leserunden sind für weitere Beiträge gesperrt. Wenn noch kein anderer Beitrag zu einem Werk oder einem Autor existiert, kannst Du selbstverständlich selber einen eröffnen.

    Grüsse

    sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Jahrzehntelang in Berlin und Brandenburg tätig und wohnend, begleitete mich Theodor Fontane auf Wanderungen. Von ihm schätze ich besonders den vielleicht weniger bekannten kleinen Roman "Cecile", der im Harz und in Berlin spielt.


    Hallo Karamzin,


    auch von mir ein herzliches Willkommen im Klassikerforum. Demnächst beginnen hier zwei gemeinsame Leserunden zu kleinen weniger bekannten Romanen von Fontane:


    „L’Adultera“ am 20. Juli 2012


    http://www.klassikerforum.de/i…00.msg50519.html#msg50519


    und


    „Stine“ am 10. August 2012


    http://www.klassikerforum.de/i…01.msg50520.html#msg50520


    Wenn es dich interessiert, trag dich doch einfach als Teilnehmer dort ein. Auch wenn du die beiden Romane schon kennst, Fontane kann man auch zweimal lesen.


    Btw: Gerade startet eine Leserunde zu Charlotte Brontë: Der Professor


    http://www.klassikerforum.de/index.php/topic,4605.0.html

  • Hallo Karamzin,


    auch von mir ein herzliches Willkommen!


    Gern würde ich mich in dich hineinversetzen können, wie du im Nachsommer die Schönheit finden kannst, die du offenbar darin findest. Für mich ist dieser Roman in seiner (für mich) Holzschnittartigkeit und leblosen Statik das Gegenteil dessen, was ich in einem Roman suche: Lebensfülle, Mitempfinden, erzählerische Dynamik...


    der Nachsommer ist für mich ein meditativer Text, aber irgendwie kein Roman. Aber das gehört hier sicher nicht her... :winken:


    Viele Grüße


    Christian

    "Man träumt viel vom Paradies, oder vielmehr von verschiedenen, wechselnden Paradiesen, die doch alle verloren sind, bevor man stirbt, und in denen man sich selbst verloren fühlen würde." ("A la recherche du temps perdu")

  • Hallo,


    besten Dank auch Sandhofer, Montaigne, Lauterbach und Librerio für die freundliche Begrüßung!


    Fontanes "L'Adultera" und "Stine" habe ich gelesen, ich will mir das mit den Leserunden überlegen.


    Was Stifters "Nachsommer" betrifft, mag tatsächlich die biographische Situation eine Rolle gespielt haben, als ich gleichzeitig von drei verschiedenen Lesern gefragt wurde, ob ich schon diesen Roman kenne. Er wirkte auf mich beruhigend.


    Irgendwann wurde mir später klar, dass es kaum noch ein vergleichbares Werk in der Literatur geben dürfte. Goethes "Lehrjahre" entließen den Wilhelm Meister in einer Verwirrung und in den letzten Kapiteln mit für mich kaum entwirrbaren Rätseln. In den "Wanderjahren" herrscht bereits Aufbruchstimmung. Das Maschinenzeitalter war angebrochen, 1827 schnaubten die Dampfrösser, so dass schon nicht mehr der von Frankfurt her vertraute "Duft der Pflaume" wahrnehmbar war. Der Roman weist in vielem in eine neue Zeit. Goethe sieht seine Helden nach Amerika aufbrechen oder auf dem Kontinent ihren Garten bestellen - er selbst rüstet sich zu seiner letzten Reise.


    Dass der "Nachsommer" die Leserschaft derart spaltet, möchte ich mal ganz vorsichtig mit folgendem zu erklären suchen: es gibt Leserinnen und Leser, die von vornherein kritisch und analytisch herangehen.
    Und es gibt solche, die in einer angespannten Lebenssituation in der Literatur Trost suchen, zumal, wenn sie in großen Städten mit "beschleunigtem" Leben wohnen.


    Als ich 1981 den Roman das erste Mal las, lebte ich in der DDR und hatte kaum Hoffnung, die Alpen im Original sehen zu können. Der Zustand der Gesellschaft ließ ebenfalls kaum Hoffnung aufkommen. Da mir klar zu sein schien, dass sich in absehbarer Zeit keine Veränderungen vollziehen würden, lag die Vorstellung von "Entsagung" nahe.
    Man musste unter Umständen als junge Familie Jahre auf die staatliche Zuteilung einer Einzimmerwohnung warten. Risach indes hatte Zimmer, in denen nur ein Kunstwerk besonders zur Geltung kam, und Eustach wirkte in einer eigenen sauberen Schreinerwerkstatt, die anders aussah als eine Werkhalle der 1980er Jahre.


    "Rückwärtsgewandte Utopie"? (Utopien dürften zumeist rückwärtsgewandt sein) Auf der anderen Seite gibt es erstaunlich weitsichtige Passagen. Risach spricht über große geschichtliche Zeiträume und ahnt, dass eines Tages die Verständigung auf große Entfernungen hinweg in kürzester Zeit möglich sein könnte.
    Bis 1989 hatten wir jedoch keine privaten Computer. Hätte einem jemand gesagt, dass ich zwanzig Jahre später in so einem Medium, wie einem "Internet-Forum" schreiben und lesen würde, wäre meine Phantasie hoffnungslos überfordert gewesen.


    Beste Grüße


    Karamzin

  • Dass der "Nachsommer" die Leserschaft derart spaltet, möchte ich mal ganz vorsichtig mit folgendem zu erklären suchen: es gibt Leserinnen und Leser, die von vornherein kritisch und analytisch herangehen.
    Und es gibt solche, die in einer angespannten Lebenssituation in der Literatur Trost suchen, zumal, wenn sie in großen Städten mit "beschleunigtem" Leben wohnen.



    Ich verstehe jetzt nicht ganz, was Du damit meinst. Ich gehöre tendenziell zur ersten Gruppe. Und ich mag den stillen Koloss mit seiner ungeheuren Wucht - den "Nachsommer" lese ich so alle 3-5 Jahre mal wieder ... :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Und ich mag den stillen Koloss mit seiner ungeheuren Wucht - den "Nachsommer" lese ich so alle 3-5 Jahre mal wieder ... :winken:


    Dennoch wirst du ihn auch das nächste Mal aus anderen Gründen lesen wie ich. Ich liebe die Entschleunigung, du irgendwelche Wortklänge/Rhythmen :zwinker:


    Ich denke, es war damals wie heute eine ähnliche Zeit. Damals bedrohte die Technologie den Menschen zu überrollen, heute tun dies die Finanzwelten.


    War das 89 ein Schock für dich Karamzin? Ich bin ja aus dem extrem wirtschaftlich geschlagenen NRW, zwar in eine noch ärmere Gegend "Ostfriesland", aber wesentlich menschlicheres Umfeld, gezogen. Hier hat man noch Zeit, hier dauert alles etwas länger - auch Handwerker kommen heute oder eben erst morgen :breitgrins:, aber alleine das Lächeln an den Kassen im Supermarkt entschädigen den Schritt des Umzugs!


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"



  • Ich verstehe jetzt nicht ganz, was Du damit meinst. Ich gehöre tendenziell zur ersten Gruppe. Und ich mag den stillen Koloss mit seiner ungeheuren Wucht - den "Nachsommer" lese ich so alle 3-5 Jahre mal wieder ... :winken:


    Ich war da bei meiner Einteilung zu oberflächlich. Du kannst an den "Nachsommer" mit wachem Auge, analytisch herangehen, seine Stärken und Schwächen zeigen, und Dich zugleich immer wieder auf die Sprachgewalt einlassen.


  • Hallo Anita,


    seit 2006 hat es mich zur Arbeit nach Niedersachsen verschlagen. Ich habe hier sehr nette Kolleginnen aus Ostfriesland und höre gern den Klang ihrer Sprache.
    Bis 1989 kannte ich niemanden aus dem Westen Deutschlands näher, hatte keinerlei Westverwandtschaft.
    Das Frühjahr 1989 verbrachte ich in der Sowjetunion, als das ganze Land im Zusammenhang mit der ersten frei gewählten Volksversammlung im Aufruhr war und bisher unerhörte Dinge zur Sprache kamen. Schriftsteller ließen sich in diesem Frühjahr der Hoffnung vernehmen, wie nicht zuvor und nicht später.
    Der 4. November 1989 war für mich ein ganz großer, beeindruckender Tag. Ich kam gerade in Berlin zu dem Zeitpunkt auf den Alexanderplatz, wo sich an die 600.000 Menschen erstmals versammelt hatten, um die Paragraphen in der DDR-Verfassung über Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit einzuklagen, als Stefan Heym ausrief:


    "es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengedresch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit."
    ...
    "In der Zeit, die hoffentlich jetzt zu Ende ist, wie oft kamen da die Menschen zu mir mit ihren Klagen. Dem war Unrecht geschehen, und der war unterdrückt und geschurigelt worden. Und allesamt waren sie frustriert. Und ich sagte: So tut doch etwas! Und sie sagten resigniert: Wir können doch nichts tun. Und das ging so in dieser Republik, bis es nicht mehr ging."


    "Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen. Und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen, und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch. Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrecht gehen, das ist nicht genug. Laßt uns auch lernen zu regieren. " ... "Alle müssen teilhaben an dieser Macht.Und wer immer sie ausübt und wo immer, muß unterworfen sein der Kontrolle der Bürger, denn Macht korrumpiert. Und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut. "


    http://www.dhm.de/ausstellungen/4november1989/htmrede.html


    1793 hatte sich Georg Forster in Mainz eine Deutsche Demokratische Republik erhofft. Der Staat, der diesen Namen trug, konnte es nicht sein. Für ein paar Tage hatten wir um den 4. November das Gefühl, als könne es dennoch möglich sein, etwas Neues zu schaffen.


    Bekanntermaßen kam es 1990 ganz anders, als es sich die meisten vorstellen konnten. Es eröffneten sich neue Räume. Zugleich wurde sichtbar, dass wir uns in einem in vielem völlig fremden Staatswesen wiederfanden.
    Das waren einige Erinnerungen.


    Liebe Grüße


    Karamzin