Angeregt von der aktuellen "Dämonen"-Leserunde habe ich zu den "Aufzeichnungen ..." gegriffen, die ich den "großen" Romanen Dostojewskis immer noch vorziehe - nicht zuletzt, weil sie kürzer und konzentrierter sind und die Essenz des Autors wunderbar zusammenfassen.
Dieses seltsame und einflussreiche Werk schrieb D. noch vor „Schuld & Sühne“, „Der Spieler“, „Der Idiot“ und „Die Dämonen“. Möglicherweise dienten ihm diese „Aufzeichnungen ...“ als Startrampe für die folgenden Großwerke. Das psychisch deformierte Ich dieser Aufzeichnungen, dessen zynisches, beinahe schon krankes Genussempfinden, scheint von Poe („Der Geist des Bösen“) und Baudelaire („Die Blumen des Bösen“) beeinflusst.
„Jetzt aber lebe ich in meinem stillen Winkel und ziehe mich mit dem boshaften, wirkungslosen Trost auf, dass ein verständiger Mensch überhaupt nichts ernstlich werden kann, sondern etwas zu werden nur einem Dummkopf möglich ist. Ja, ein Mensch des 19. Jahrhunderts muss ein im höchsten Grade charakterloses Wesen sein; dazu ist er moralisch verpflichtet; ein charakterfester Mensch dagegen, ein Mann der Tat, ist ein in höchstem Grade beschränktes Wesen.“
„Der Genuss rührt hier gerade von einer besonders klaren Erkenntnis der eigenen Erniedrigung her, von der Empfindung, dass man bis an die letzte Mauer gelangt sei, dass diese Handlungsweise schändlich sei; aber doch eben nicht anders sein könne, dass man keinen Ausweg mehr habe und niemals ein anderer Mensch werden würde [...] Gerade in der Verzweiflung liegen die stärksten Genussempfindungen, besonders wenn man seine Rettungslosigkeit bereits sehr genau kennt.“
„Einen Menschen des unmittelbaren Handelns halte ich für den wahren Normalmenschen, wie ihn die zärtliche Mutter Natur selbst haben wollte, als sie ihn liebevoll auf der Erde erzeugte. […] Er ist dumm, aber vielleicht muss der Normalmensch auch dumm sein.“
Hier steht er bereits in früher Blüte: der Nihilist vom Stamme Zarathustras, der Übermensch Nietzsches, der Leutnant Glahn aus Hamsuns „Pan“, Colonel Kurtz aus dem „Herz der Finsternis“ sowie der Professor aus Joseph Conrads „Geheimagent“. Bedurfte es danach in Ds. Werk noch eines Raskolnikow? Eines Rogoschin? Eines Stawrogin? Sie alle sind grob, aber effektiv vorgezeichnet in dem namen- und identitätslosen Autor der „Aufzeichnungen ...“, der sich aus Gründen, die wir nicht erfahren, der Menschheit überlegen glaubt. „Kann denn ein Mensch, der zur Erkenntnis gelangt ist, noch irgendwelche Selbstachtung besitzen?“ Es blieb allerdings den Figuren der Nachfolgewerke vorbehalten, dieses Denken in Handlungen zu überführen.
Dies nur als Randbemerkung zur derzeitigen "Dämonen"-Runde.
LG
Tom