August 2011: M. Frisch - Der Mensch erscheint im Holozän

  • Ich habe das Buch vor einigen Jahren gelesen und finde es ist, neben dem Gantenbein, Frischs schönste Erzählung. Freue mich darauf es wieder zu lesen. ich lese in der gebundenen Suhrkamp Auflage von 2001.

  • Hallo,


    Sir Thomas: Danke für die Eröffnung. Ich bin auch dabei und lese die TB-Ausgabe von Surhkamp von 2011.


    Meine Teilnahme ist einzig dem rätselhaften Titel geschuldet, und zu den drei Möglichkeiten diesen zu interpretieren, wie sie in Wikpedia beschrieben sind, könnte die die Neugier, die damit erzeugt wird, vielleicht eine vierte Möglichkeit sein.


    Meiner Gewohnheit flott zu lesen habe ich Zügel angelegt, weil ich diesen kleinen Max Frisch nur neben dem großen Max Weber in der Mangel haben werde.


    Habt ihr schon eine Vorstellung welche Zeit für dieRunde angemessen ist? Zwei Wochen vielleicht?

  • Hallo,


    ich lese ebenfalls die Suhrkamp Ausgabe 2011.


    Gerade habe ich begonnen mich einzulesen und war erstmal verwirrt. Mit lauter einzelnen unzusammenhängenden Sätzen habe ich nicht gerechnet, aber schon langsam ergibt das ganze Wirrwarr einen Sinn.


    Sehr interessant fand ich einen Satz auf Seite 17:
    Ob es Gott gibt, wenn es einmal kein menschliches Hirn mehr gibt, das sich eine Schöpfung ohne Schöpfer nicht denken kann, fragt sich Herr Geiser.


    Das war der erste Satz bei dem ich mal gestoppt habe um ein wenig nachzudenken. Dürfte also eine interessante Lektüre werden. Bevor ich weiterlese werde ich aber mal den wikipedia Artikel durchlesen um zu schauen welche Interpretationen Lost meint.


    Katrin

  • Herr Geiser baut einen Tempel aus Knäckebrot, der zusammenbricht. Herr Geiser systematisiert die Arten des Donners. Beides scheint mir mächtig sinnlos. Versucht hier jemand eine Ordnung in der sich auflösenden Dauerregen- und Gewitterwelt aufrechtzuerhalten?


    Die Erde war aber wüst und öde ...“ heißt es in dem Bibelauszug auf S. 17. Genauso öde, wie die „Bibliothek“ des Herrn Geiser, deren Beschreibung sich direkt anschließt. Dieser Mensch scheint ein überkorrekter und oberflächlicher Spießer zu sein, ein Technokrat, der die Welt systematisieren und nach seinen Vorstelllungen gestalten muss. Romane lesen? „Da geht es um Menschen …, um Seelen, um Gesellschaft ...“ (S. 16), damit kann Herr Geiser nichts anfangen. Großartig, wie Max Frisch mit wenigen Federstrichen diese Figur präsentiert!



    Sehr interessant fand ich einen Satz auf Seite 17:
    Ob es Gott gibt, wenn es einmal kein menschliches Hirn mehr gibt, das sich eine Schöpfung ohne Schöpfer nicht denken kann, fragt sich Herr Geiser.


    Das war der erste Satz bei dem ich mal gestoppt habe um ein wenig nachzudenken.


    Die Frage, ob es Gott nach dem Ende der Menschheit noch gibt, ist doch mindestens so sinnlos wie das Bauen einer Knäckebrotpagode. Mit der intellektuellen Fallhöhe des Herrn Geiser ist es nicht weit her, oder?


    LG


    Tom

  • Herr Geiser baut einen Tempel aus Knäckebrot, der zusammenbricht. Herr Geiser systematisiert die Arten des Donners. Beides scheint mir mächtig sinnlos. Versucht hier jemand eine Ordnung in der sich auflösenden Dauerregen- und Gewitterwelt aufrechtzuerhalten?



    Hier löst sich ja so manches auf. Der Garten, aber auch der Berg. Die Knäckebrotpagode, aber auch Herrn Geisers Lebensmittelvorräte. Herrn Geisers Beziehungsnetz.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Die Frage, ob es Gott nach dem Ende der Menschheit noch gibt, ist doch mindestens so sinnlos wie das Bauen einer Knäckebrotpagode. Mit der intellektuellen Fallhöhe des Herrn Geiser ist es nicht weit her, oder?


    Nach den ersten 20 Seiten im Suhrkamp TB stellt sich bei mir zunächst gar nicht die Frage, ob die Figur, die menschliche Zeichnung intelligent ist oder nicht. Ich stelle mir die Situation vor, die Menschen sitzen da fest, der Berg könnte ins Rutschen kommen und das Dorf verschütten ...


    Und da sitzt dann dieser Geiser seelenruhig, baut mit Knäckebrot, liest im Brockhaus und Bibel ... Also ich würde da andere Dinge tun! So viel Seelenruhe hätte ich nicht.


    Wenn man den Klappentext liest: ... die letzten Alltage eines Menschen, der begreift, dass er sich abhanden kommt und eingehen wird ins Unbewußtsein der Natur ... Und dieser Geiser dabei so ruhig bleibt, ist die Fallhöhe evtl. nicht hoch, aber naturverbundener als der heutige Mensch mit seinen Höhenflügen :zwinker:



    Habt ihr schon eine Vorstellung welche Zeit für dieRunde angemessen ist? Zwei Wochen vielleicht?


    Zwei Wochen, denke ich, ist okay. Werde meine Scheibchen auch darauf abstimmen.


    Übrigens lese ich nebenbei "Jetzt nicht die Wut verlieren" von Gleichauf, eine Bio über Frisch, ist zwar ziemlich vage gehalten, aber so wie ich aus den Zeilen schließen kann, gibt es nicht viele Fakten über den sehr verinnerlichten Max Frisch. Aber ich komme mit dessen Ansichten gut parat, den "Stiller" fand ich großartig!


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Wenn man den Klappentext liest: ... die letzten Alltage eines Menschen, der begreift, dass er sich abhanden kommt und eingehen wird ins Unbewußtsein der Natur ...



    Welcher verhinderte Theogymnast hat denn den Schwulst verfasst? Da ist weder Alltag noch ein Mensch, der begreift, noch ein Unbewusstsein der Natur. Vor allem letzteres ... Kann mir das jemand erklären?

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ja auch von mir einen "frischen" Gruß in die Runde.


    Ich habe gestern Abend begonnen und genüßlich die ersten 18 Seiten gelesen. Ausgabe Suhrkamp, 2011.
    Frisch ist einer der Autoren, zu denen ich immer einmal wieder "zurückkehre".
    Die Ausgangssituation finde ich schon interessant, ein Mensch, entfremdet seiner Umwelt, offensichtlich beschränkt auf wenige Dinge in seinem Umfeld. Die Frage, was ist/erscheint wichtig, was nicht. Eine kleine Antwort:"Es bleibt nichts als Lesen." Bin schon gespannt, wie es weitergeht.


    @ Sir Thomas, die Frage erscheint in der Tat sinnlos, wenn nur der erste Teil losgelöst betrachtet wird. Der Satz geht ja weiter. Im religiösen Sinne ist Schöpfung ohne Schöpfer (Gott) nicht denkbar. Für mich stellt sich, hier im Anklang zu Frisch, schon seit Jahren die Frage, ob diese Schöpfung eines Schöpfers bedarf bzw., ob diese Schöpfung der Winzigkeit des menschlichen Hirns bedarf. Aber das dürfte ein anderes Thema sein.


    Den wikipedia Artikel werde ich nicht sofort lesen, erscheint doch einige Hinweise zu enthalten.


    14 Tage sind für mich i. O.


    sandhofer; was ist ein Theogymnast; den Begriff habe ich noch nie gehört! :redface:


    josmar

  • Ich lese das suhrkamp taschenbuch 734, in der 3. Auflage von 1983. Da steht noch kein Schwulst auf der hinteren Einbandseite. Sondern:


    Die Erzählung »Der Mensch erscheint im Holozän« hat in ihrer Luzidität und formalen Eleganz etwas Klassisches an sich. ... Diese brillante Parabel von unauslotbarer Bedeutung ist ein Meisterwerk.


    Ist zwar ("brillante Parabel von unauslotbarer Bedeutung") auch Schwulst, aber doch gerade noch annehmbar, wie ich finde. Ist übrigens von der New York Times Book Review von 1980. Die Amis haben ja die Qualität dieses Werkleins lange vor den Deutschen erfasst. Reich-Ranicki versuchte es gar totzuschweigen.


    Ein Theogymnast ist ein Theosoph, der wie ein Gymnasiast in der Sprache herumturnt ... :breitgrins:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Nach den ersten Seiten kommt es mir vor, als würde Herr Geiser in einer Raumkapsel sitzen, die er nicht beherrscht. Mit seienr bestandsaufnahme reagiert er rational, mit der Knäckebrotspielerei eher hilflos oder im Bestreben eine die innere Panik zu bekämpfen. Im bleibt auch nur die Möglichkeit der Reflktion. Hilfe kann nur von außen kommen.
    Aber es sind nur die ersten Seiten, die mich auf diese Gedanken bringen.

  • Hallo zusammen,


    ich habe gestern zu lesen begonnen und es hat sich bei mir gleich das vertraute „Frisch-Gefühl“ eingestellt. Die Situation wird relativ nüchtern, sachlich betrachtet; trotzdem kommt es mir so vor, als ob Herr Geiser eine recht seltsame Sichtweise bzw. Wahrnehmung in dieser Situation hat. Bei andauerndem Regen in den Schweizer Bergen hätte ich vermutlich auch Angst, daß ein Erdrutsch stattfinden könnte, ich würde vermutlich aber ganz anders reagieren; schon allein die Vorräte im Haus, die er als ausreichend bezeichnet, wären für mich gar nicht ausreichend. Ich wäre vermutlich mit „Nahrungssuche“ beschäftigt :breitgrins:.


    Frischs Protagonisten sind für mich meist eher rätselhaft, weil sie oft ganz anders wahrnehmen oder reagieren, als ich es tun würde. Trotzdem geht eine gewisse Faszination von ihnen aus (z.B. Walter Faber in Homo Faber). Mal sehen, was Herr Geiser noch so zu bieten hat.


    Viele Grüße
    thopas


  • Frischs Protagonisten sind für mich meist eher rätselhaft ... (z.B. Walter Faber in Homo Faber).


    Ich würde sie eher "eindimensional" nennen.


    Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses.“ (S. 13) Denn: „Ohne Gedächtnis kein Wissen.“ (S. 14). Herr Geiser spürt den herannahenden geistigen Verfall – und bedauert nicht etwa die ihm drohende Entmenschlichung, sondern das Vergessen des eigentlich nutzlosen Wissens. Das sagt viel über sein Weltverständnis aus, das in dem kruden Satz „Wissen ist Macht“* zu gipfeln scheint. Wahllos häuft er ausgeschnittene Lexikonartikel an, um diesem Wissensverlust entgegenzuarbeiten. Er klammert sich störrisch an sein faktenorientiertes, wissensbasiertes Bewusstsein und merkt nicht, dass er damit nicht nur sein Lexikon, sondern im übertragenen Sinn seine ganze Welt zerstückelt und zerstört. Hat Max Frisch hier erneut den homo faber im Visier, den von falschen Vorstellungen geleiteten Möchtegern-Beherrscher der Welt? Ich denke schon – und lese mit grausigem „Genuss“, wie dieser Menschentyp sein letztes Spiel im Dauerregen der Tessiner Bergwelt vergeigt.


    Der Mensch erscheint …“ liest sich imo mit jeder weiteren Seite wie ein hochkarätiger Abgesang auf einen Grundpfeiler der westlichen Welt: die sog. Wissensgesellschaft.


    LG


    Tom


    * Weiß übrigens jemand, wer das gesagt hat? Ich meine es war Francis Bacon.


  • * Weiß übrigens jemand, wer das gesagt hat? Ich meine es war Francis Bacon.


    Wird Bacon zugeschrieben, ist aber dort nicht belegt. Zum geflügelten Wort wurde "Wissen ist Macht" durch (nein, nicht Lenin...) eine Rede Wilhelm Liebknechts vor Vertretern von Arbeiterbildungsvereinen.


  • Die Amis haben ja die Qualität dieses Werkleins lange vor den Deutschen erfasst. Reich-Ranicki versuchte es gar totzuschweigen.


    Warum? Weißt Du mehr darüber?



    Habt ihr schon eine Vorstellung welche Zeit für dieRunde angemessen ist? Zwei Wochen vielleicht?


    Bis Ende des Monats können wir locker durch sein - auch ohne große Hektik. Ich werde leider ab September nicht mehr viel Zeit für das Forum haben.

  • Hallo,


    ich muss mich richtig zwingen nicht Seite um Seite zu lesen, sondern das Buch immer wieder wegzulegen, damit ich nicht davonpresche.


    Ich finde Herrn Geiser einerseits ziemlich dämlich, andererseits eine unglaublich interessante Figur. Wie er versucht vollkommen unwichtiges Wissen nicht zu vergessen, ist ja fast schon manisch. Ich kann mir seine Stube richtig vorstellen, wie sie vollgeklebt ist mit den ganzen Ausschnitten die er wirklich wahllos zusammen treibt.


    Andererseits kann ich ihn sogar verstehen. Ich vergesse auch ungern Sachen und schmökere daher immer wieder gerne in Büchern und Lexika um Wissen aufzufrischen.


    Interessant finde ich allerdings, dass Frisch auf die Entstehung des Menschen sogar eingeht und zwar auf Seite 28, wenn er schreibt: Im Pleistozän erscheint nach bisheriger Auffassung der Mensch, die erdgeschichtliche Gegenwart spielt sich im Holozän ab.


    Dennoch ist der Titel des Buches ein anderer, stellt sich die Frage, was uns Frisch damit sagen will?


    Geisers Unruhe aufgrund des Wetters kann ich allerdings nicht nachvollziehen. Immerhin sind die anderen Menschen, die ebenfalls am Berg wohnen nicht so besorgt wie er es ist.


    Katrin

  • Hallo,


    konnte erst jetzt einsteigen und bin auch noch nicht weit gekommen. Die Erzählung entfaltet in der Tat einen eigenartigen Sog, obwohl sie zunächst aus so scheinbar unzusammenhängenden Mosaikstückchen besteht.


    Ich lese den Text in Band VII der Taschenwerkausgabe aus dem Suhrkampverlag, kann daher nicht Seitenzahlen angeben. Habe erst zehn Seiten gelesen und weiß daher nichts davon, dass Geiser seine Lexika und andere Nachschlagewerke zerschneidet.
    Mir erscheint Geiser gar nicht als eindimensional und beschränkt, eher weist er autistische Züge auf, dazu passt auch das Knäckebrothausbauen und seine Vergewisserung bezüglich des Goldenen Schnittes. Bisher finde ich auch, dass alle diese Texte, die da montiert sind, durchaus eine Bedeutung, real oder metaphorisch für Herrn Geisers Leben und das Geschehen haben: Der Goldene Schnitt kann als Metapher für die Suche nach der Sinnachse gesehen werden, die Ausschnitte zur Morphologie der Alpen ordnet das Geschehen des rezenten Murenabgangs in die viel größeren erdgeschichtlichen Zusammenhänge ein. Dazu passt dann auch die perspektivische Verengung auf neuzeitliche Murenabgänge, wie sie auf der elften und zwöften Seite dargestellt wird.


    Ich finde Geiser überhaupt nicht schlicht gestrickt, sondern sehr reflektiert dem Geschehen gegenüber, allerdings fast ohne praktische Schlussfolgerungen zu seinem eigenen Schutz. Aber vielleicht gehen alte Menschen auch anders mit solchen Situationen um ... .


    Außerdem soll Geiser ja wohl gar nicht einen wirklichen Menschentyp verkörpern.


    Werde sicher auch innerhalb von 14 Tagen fertig werden: Im Moment muss ich allerdings hauptsächlich noch anderes lesen.


    finsbury