August 2011: M. Frisch - Der Mensch erscheint im Holozän

  • Einige Seiten weiter gelesen.
    Auch ich erachte Geiser nicht als eindimensional oder schlichten Charakter. Er beobachtet sehr genau sich selbst und seine Umwelt. Mir kommt es so vor, als ob er dieses allerdings meistens technokratisch macht?


    Aber vielleicht gehen alte Menschen auch anders mit solchen Situationen um ... .


    Außerdem soll Geiser ja wohl gar nicht einen wirklichen Menschentyp verkörpern
    finsbury



    Warum sollte das altersabhängig sein? Erschließt sich mir noch nicht. Würde ein jüngerer Mensch anders agieren/reagieren? Oder liegt es an Frischs Alter, als er die Erzählung schrieb?
    Das mit dem Menschtyp ist interessant! Bin einmal gespannt, ob sich dazu im weiteren Hinweise finden lassen!


    josmar



  • Aus meiner Sicht wirkt Geiser sehr "wirklich".


    Ich frage mich, in wie weit Frisch eine Gegenposition zu Kafka einnehmen will. Bei Kafka sind ja die Protagonisten skurrilen und absurden Situationen und einer ebensolchen Umwelt ausgesetzt, in der sie sich behaupten und möglichst rational reagieren wollen. Geiser befindet sich auch in einer beklemmenden Situation, die jedoch vollkommen real vorstellbar ist. Sein Behauptungswille ist jedoch schwach, wenigstens in den Abschnitten, die ich bisher las. Das Reale bei Frisch führt also zu genau der Unabänderlichkeit und Bedrückung , wie es bei Kafka das Absurde tut.


  • Interessant finde ich allerdings, dass Frisch auf die Entstehung des Menschen sogar eingeht und zwar auf Seite 28, wenn er schreibt: Im Pleistozän erscheint nach bisheriger Auffassung der Mensch, die erdgeschichtliche Gegenwart spielt sich im Holozän ab.


    Dennoch ist der Titel des Buches ein anderer, stellt sich die Frage, was uns Frisch damit sagen will?


    Hallo Katrin,


    das könnte zum einen ein Hinweis auf die langsam beginnende Zersetzung des Geiserschen Denkvermögens sein. Auch könnte Frisch damit andeuten, wie wenig Relevanz Lexikonwissen für das praktische Denken und Handeln hat. Denn mal ehrlich: Wer hätte vor der Lektüre gewusst, dass der Buchtitel eine unhaltbare Behauptung enthält? Und selbst wenn man weiss, dass der Mensch nicht im Holozän (in der erdgeschichtlichen Gegenwart), sondern bereits im Pleistozän erschien: Ist das wichtig? Ich bleibe bei meiner These: Frisch demontiert unsere Fakten- und Wissensgläubigkeit. Angesichts einer feindlichen Umwelt versagt der moderne Mensch. Er ist, wie Herr Geiser, kaum noch in der Lage, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, wie man an der Auflistung der spärlichen Lebensmittelvorräte und an der Tatsache, dass Herr Geiser diese für ausreichend hält, sehen kann.


    LG


    Tom


  • Denn mal ehrlich: Wer hätte vor der Lektüre gewusst, dass der Buchtitel eine unhaltbare Behauptung enthält? Und selbst wenn man weiss, dass der Mensch nicht im Holozän (in der erdgeschichtlichen Gegenwart), sondern bereits im Pleistozän erschien: Ist das wichtig?


    Ich hätte es nicht gewusst, gebe ich gerne zu. Dennoch finde ich es interessant. Ob es allerdings wichtig ist? Nein.
    Jeder häuft doch in der einen oder anderen Weise unnützes Wissen zusammen, dass die Welt nicht braucht. So auch Herr Geiser.


    Katrin

  • Ich hätte es nicht gewusst, gebe ich gerne zu. Dennoch finde ich es interessant. Ob es allerdings wichtig ist? Nein.
    Jeder häuft doch in der einen oder anderen Weise unnützes Wissen zusammen, dass die Welt nicht braucht. So auch Herr Geiser.


    Katrin


    Wie schon angedeutet, für mich war diese merkwürdige Behauptung im Titel der eigentliche Anlass das Buch zu lesen. Ich halte den Titel auch für wichtig, auch wenn sich später das als falsch herausstellen sollte, denn ich werde bestimmt im Text nach einer Begründung suchen.


  • Das Reale bei Frisch führt also zu genau der Unabänderlichkeit und Bedrückung , wie es bei Kafka das Absurde tut.


    Diese Aussage kann man, glaube ich, auch auf andere Romane von Frisch übertragen (zumindest die, die ich gelesen habe). Die Protagonisten leben irgendwie in einer eigenen Welt und werden dann durch die Realität (die oft sehr absurd sein kann) aus der Bahn geworfen.


    Geiser kann nicht einfach abwarten, wie die Einheimischen im Dorf, bis das Wetter sich bessert, sondern reiht eine sinnlose Handlung an die andere. Das Ganze wird mit der Zeit immer fahriger und wirrer, sodaß mir dann auch Altersdemenz als Möglichkeit eingefallen ist. Er vergißt ja immer wieder, was er getan hat oder tun will.

  • Hallo,
    habe nun auch weiter gelesen.


    Zunächst zum Titel: Das Holozän begann laut Internetquelle vor ca. 11.000 Jahren v.u.Z.. Die Abtrennung der menschlichen Linie von unseren gemeinsamen Vorfahren mit den Menschenaffen und das Entstehen menschlicher Eigenschaften begann bereits vor 1.5 Mio. Jahren (z.B. Olson).


    Frisch selbst lässt später seinen Protagonisten das Pleistozän als Entstehungszeit angeben, aber ich glaube nicht, dass es eine bewusste Irreführung des Lesers ist, sondern dass mit dem Holozän das Auftauchen des Menschen als bewusstem Menschen mit der Möglichkeit zur Reflektion und Geschichtlichkeit gemeint ist.


    Nun habe ich etwas weniger als die Häfte des Textes gelesen und verstehe jetzt auch eure Kommentare zu Geiser besser.


    Vorher aber eine Frage: In meiner Werkausgabe steht auf Seite 219, das entspricht ungefähr der 12. Textseite:
    "Herr Weiser glaubte nicht an Sintflut."
    Ich denke, das ist ein Tippfehler, wollte aber nochmal mit euch vergleichen.


    Zu josmar und anderen:


    Ich denke schon, dass diese Erzählung viel mit dem Reflexionsstand alter, abgeklärter Menschen zu tun hat.
    Aus dem, was ich im Gespräch mit alten Menschen oft erfahren habe, entnehme ich, dass sich bei vielen eine Distanz zur Welt einstellt, ein Sichfügen in das von ihnen als unabänderlich Erlebte. So vergewissert sich auch Geiser seiner bzw. der Stellung des Menschen, des Weltausschnittes in dem er lebt, im Ganzen, bleibt aber gegenüber dem eigenen Schicksal zumindest bis jetzt ziemlich unberührt.
    Z.B. überlege ich, was er überhaupt isst, da er das ganze Eingefrorene und Angetaute den Dorfbewohnern geschenkt hat und vieles von den Konserven nicht essen mag. Die Katze Kitty muss hungern, das wird deutlich, doch wie es ihm in dieser Beziehung geht, erfahre ich auf den ersten fünfzig Seiten nicht.
    Inzwischen habe ich natürlich auch erlesen, dass Geiser seine Texte aus Büchern ausschneidet und anheftet, ein Verfahren, für das er sich selber ein wenig schämt und wobei er sich nicht ertappen lassen will. Dennoch finde ich auch weiterhin nicht, dass diese Texte und seine handschriftlichen Versicherungen zufällig sind. Sie orientieren sich an seiner Welt, der Entstehung der ihn beherbergenden Gebirgslandschaft, seiner Selbstvergewisserung bezüglich seines Gedächtnisses und seiner Leistung sowie an Umwelteindrücken, die er unmittelbar erlebt, wie dem Auftauchen der Feuersalamander in seiner Wohnung.
    Wenn ich schrieb, dass Geiser für Frisch nicht die Abschilderung eines realen Charakters bedeutet, sondern paradigmatisch sein soll, heißt das nicht, dass dieser Charakter nicht nachvollziehbar sein kann. Ich muss zur Zeit selbst miterleben, wie alte Menschen versuchen, sich ihrer selbst und ihrer Umgebung zu vergewissern und finde in diesem Text viel Entsprechendes, auch und gerade darin, dass sich diese Selbst- und Umweltvergewisserung immer loser gestaltet.


    finsbury

  • Heute wirklich in Kurzform, ich kann heute keine langen Texte schreiben. Ich habe großen Spaß, ein sichtliches Vergnügen, das kann meine Umwelt tatsächlich sehen, wenn ich das schmale Büchlein von Frisch lese. Ich stelle mir dabei vor, was Max Frisch wohl beim Schreiben dabei empfunden hat, erfreue mich dieser Gedanken, amüsiere mich gut - vielleicht geht es meinen Augen morgen besser, um mich erklären zu können, aber meine Freude wollte ich kurz loswerden. Ich mag Max Frisch :smile:


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

    Einmal editiert, zuletzt von Anita ()


  • Sandhofer hat im schweizer Forum etwas über das Buch geschrieben.


    Ach so, darauf läuft es hinaus, wirklich? Du (nein sandhofer) nimmst mir jetzt meine Freude, denn ich dachte es läuft auf die grundsätzliche Endlichkeit hinaus - Sinnlosigkeit, da eben doch alles vergänglich. Nun ja, ich lese dennoch entspannt weiter :zwinker:

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"


  • Frisch selbst lässt später seinen Protagonisten das Pleistozän als Entstehungszeit angeben, aber ich glaube nicht, dass es eine bewuste Irreführung des Lesers ist, sondern dass mit dem Holozän das Auftauchen des Menschen als bewusstem Menschen mit der Möglichkeit zur Reflektion und Geschichtlichkeit gemeint ist.


    Ich bin ja mal gespannt ob im Text noch mal vorkommt, warum das Buch dann diesen Namen trägt. Die Erklärung mit der Reflexion finde ich sehr gut. Das könnte natürlich eine Möglichkeit sein.




    Vorher aber eine Frage: In meiner WerkausgabE steht auf Seite 219, das entspricht ungefähr der 12. Textseite:
    "Herr Weiser glaubte nicht an Sintflut."
    Ich denke, das ist ein Tippfehler, wollte aber nochmal mit euch vergleichen.


    Ja, das ist ein Tippfehler. In meiner Ausgabe steht Herr Geiser (Seite 26).


    Katrin

  • Vergisst Herr Geiser jetzt schon was er selbst aufgeschrieben hat?


    Der Zettel von Seite 74, also die Blitzgeschwindigkeit, die Jungsteinzeit und die Verwandlung vom Menschen steht in genau gleichen Worten bereits auf Seite 35. Soll damit dargestellt werden, dass er schon vergässlich wird und sich einer Demenz nähert?


    Ansonsten scheint das Wetter immer stärker zu werden, immerhin rutschen jetzt schon die Hänge, auch wenn sich der Rest des Dorfes noch immer keine Sorgen macht. Aber Geisers Handlungen bleiben dennoch für mich nicht nachvollziehbar.


    Katrin

  • Ich habe das Büchlein heute beendet, enthalte mich aber noch eines letzten Kommentars, weil ich nichts vorweg nehmen will. Nur so viel sei gesagt: Es hat mich sehr beeindruckt.


    Bisher habe ich um Frisch, warum auch immer, einen großen Bogen gemacht. Das wird sich nun ändern.


    Katrin


  • Es hat mich sehr beeindruckt.


    Mich auch. Ein beängstigender Blick auf die existentiellen, das Menschsein infrage stellenden Bedrohungen im Alter, ein Blick frei von Libido-Kalamitäten ... :breitgrins: Well done, Mr. Frisch!


    Trotzdem mag ich diesen Autor nach wie vor nicht. Er langweilt mich einfach zu sehr.


    LG


    Tom

  • Hrn. Geisers Endlichkeit ist grundsätzlich. Wenn er nicht mehr ist, wer wird dann noch "Gott" denken - oder "die Welt"?


    Sehr schön, ja so dacht (und denk) ich auch, vielleicht gar der einzige der im Holozän erscheint :breitgrins: und habe meinen Spaß. In deiner Rezi kommt das aber nicht rüber, einzig das Autobiographische, wogegen sich Frisch gewährt hat, obwohl er es auch nicht abstreiten kann.


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • In deiner Rezi kommt das aber nicht rüber, einzig das Autobiographische, wogegen sich Frisch gewährt hat, obwohl er es auch nicht abstreiten kann.



    Es täte mir leid, wenn mein Posting so wirkt, als ob Frisch in Der Mensch erscheint im Holozän autobiografisch geschrieben hätte. Es ist ein sehr intimes Porträt eines Zerfalls, des Alterns, ja. Autobiografisch? Mag sein, aber solche Dinge interessieren mich in einem literarischen Werk nicht. (Ausser es stünde aussen am Buch von Autor autorisiert "Autobiografie" drauf ;) .)

    Ein beängstigender Blick auf die existentiellen, das Menschsein infrage stellenden Bedrohungen im Alter, ein Blick frei von Libido-Kalamitäten ... :breitgrins:



    Vor allem letzteres ist ein Genuss ... :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Auch beendet,


    zunächst zu Herrn Geisers Versuch, das Tal zu verlassen (?).
    Gerade weil diese Unternehmung vorher überhaupt nicht erwähnt wird, erhält sie eine besondere Stärke. Ohne irgend jemanden zu informieren, ja bedacht auf Verschwiegenheit, bricht Herr Geiser auf, ob nun um sein Tal zu verlassen oder nur einen Blick ins Nachbartal zu werfen, wird nicht deutlich artikuliert.
    Aber was für eine Beschreibung! Jeder, der gerne im Gebirge wandert, wird diesen Textabschnitt als Kabinettstück der Erzählkunst empfinden: Orientierung, (mangelnde) Versorgung und körperliche Reaktion werden dicht verwoben. Besonders der Abstieg im Dunkeln zurück ins heimatliche Tal ist sehr intensiv geschildert: Man ist wirklich dabei.
    Nach dieser heftigen körperlichen Anstrengung, die zeigt, dass Herr Geiser bisher durchaus noch von seiner Leistungsfähigkeit her Herr seines Schicksals war, folgt der Zusammenbruch.
    Wenn bisher sporadisch Wiederholungen in den handschriftlichen Zetteln vorkamen, werden diese nun stärker, die Themen scheinbar abgelegener. Aber dass sich Geiser besonders mit Erosion, mit dem Aussterben der Dinosaurier beschäftigt, weist ja auf sein Ende, die Erosion seines Geistes, dessen Absterben hin.
    Er verweigert sich nun völlig seinen Mitmenschen und möglicher Hilfe. Hat er bei seinem "Ausbruchversuch" noch aktiv mit der Möglichkeit gespielt, seine Situation zu ändern, lehnt er nun auch jeden Versuch ab, ihm zu helfen: er verschließt sein Haus, schüttet die neu gebrachte Minestrone weg, ja tötet sogar den Salamander und schließlich auch seine Katze Kitty --> Ein Versuch, tabula rasa zu machen?
    Als seine Tochter kommt, ist er schon längst das Opfer eines irreparablen Schlaganfalls, er nimmt nun nur noch passiv wahr.


    Eine tolle Erzählung!


    finsbury