Jänner 2011: Franz Kafka - Amerika (Der Verschollene)


  • Ich hatte den Eindruck, dass er nicht will, dass Karl diesen Herrn Pollunder begleitet. Stellt sich nur die Frage, warum nicht?


    Hallo Katrin,
    hallo zusammen,


    das zweite Kapitel liest sich ja ganz flüssig: Karl genießt den Luxus im Hause des Onkels, er lernt Englisch, Klavier und Reiten und macht sich mit der ihm fremden Welt in New York vertraut. Das alles ist so anti-kafkaesk erzählt, dass man fast vergisst Kafka zu lesen. – Aber dann hat es mich doch noch umgehauen. Hier mal vier Zitate aus dem 2. Kapitel und ich hab’s eigentlich erst richtig beim vierten Zitat gemerkt (so selbstverständlich streut Kafka dies alles, sich steigernd in den Text ein):


    „Dieser Herr Pollunder schien überhaupt an Karl ein besonderes Gefallen zu finden, und während der Onkel und Herr Green wieder zu den geschäftlichen Besprechungen zurückkehrten, ließ Herr Pollunder Karl seinen Sessel nahe zu sich hinschieben,“


    „Herr Pollunder schüttelte Karl ganz glücklich beide Hände, als wolle er sich so stark als möglich dessen vergewissern, dass Karl nun doch mitfahre.“


    „Sie saßen eng beieinander, und Herr Pollunder hielt Karls Hand in der seinen, während er erzählte.“


    „Karl aber lehnte froh in dem Arm, den Herr Pollunder um ihn gelegt hatte;“


    Sicher kannte der Onkel diese homoerotische Seite von Pollunder und wollte nicht, dass Karl einen Nebenbuhler begleitete, denn Anfang des dritten Kapitels erfahren wir durch Green:


    „… wie die Liebe des Onkels zu Karl zu groß sei, als dass man sie noch Liebe eines Onkels nennen könne.“

  • So, jetzt krieche ich auch kurz aus meinem Versteck. :zwinker:
    Ich habe "Amerika" ja ca. vor einem Jahr gelesen und war ganz hin und weg. Nun macht es Spaß, eure Gedanken mitzuverfolgen - manche passen ziemlich genau zu dem, was mir selber damals durch den Kopf ging, auf andere Interpretationen wäre ich nie gekommen. Und danke für diese Info:



    da Kafka ja nie in Amerika war, konnte er sich natürlich nicht an die Freiheitsstatue erinnern, aber genau aus diesem Grund, hat er zu diesem Roman im Gegensatz zu allen anderen seiner Werke sehr viel recherchiert. D.h. er wusste genau was die Freiheitsstatue in Wirklichkeit in den Himmel hält.


    Ich dachte nämlich auch eher, dass es ein Irrtum Kafkas war. So wie Shakespeare Böhmen ans Meer legte! :breitgrins:

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."


  • 2. Warum wird Karl von Herrn Green gehindert seinen Onkel rechtzeitig zu erreichen und somit seinen Rauswurf zu vermeiden?


    Ich denke, eben dies war der Auftrag des Onkels an Herrn Green. Er sollte dafür sorgen, dass Karl den Brief bekommt. Green jedenfalls bezeichnet das als "höheren Befehl". Dass die wahren Umstände (?) Karl von Beginn der Begegnung an planmäßig verschleiert werden liegt übrigens - soweit ich sehe - an Klara, die das Motiv für Greens Besuch Karl berichtet ("irgendein großes Geschäft für Papa"). Überhaupt ist das Verhältnis zu Klara wohl eher gestört und nicht einmal als bizarre Beziehung innerhalb des Nachvollziehbaren, oder?


    Die eigentliche Problematik der bisherigen Verhältnisse wird dann - für mich völlig überraschend - sogar offen ausgesprochen: "Es lag ja schließlich nur an dem Mangel dieser offenen Aussprache, wenn er heute dem Onkel gegenüber etwas unfolgsam (...) gewesen war."


    Die Zitate stammen übrigens allesamt aus Kapitel 3.


    Schöne Grüße, Niclas

    "Das Ganze ist das Unwahre" - Theodor W. Adorno - Minima Moralia

  • Mal eine eher technische Frage: Wie sieht es denn mit der Lesegeschwindigkeit aus? Gibt es da irgendwelche Vorgaben? Jeden Tag ein halbes Kapitel, oder so? Anfang war ich etwas weiter, jetzt habe ich das Ende des dritten Kapitels schon erfahren, bevor ich es gelesen habe.


    Ich finde aus dem dritten Kapitel folgende Stellen bezeichnend:


    1. »Ich kann ja nichts«, sagte Karl nach Schluss des Liedes und sah Klara mit Tränen in den Augen an.
    2. ...da ich noch keine Zeit hatte, hier wo alles erst noch im Werden ist,


    Karl ist einfach nicht bereit für die Welt, die ihn in Amerika erwartet. Darum klammert er sich auch an die verschiedensten Rockzipfel (erst steht er Pollunder zwischen den Beinen, dann fasst er Green unten beim Rock), weil er nach einer Leitfigur (man könnte auch sagen Vaterfigur) sucht. Meine These :zwinker:

  • Hallo,


    in punkto Lesegeschwindigkeit gibt es keine Vorgaben, der eine liest schneller, der andere langsamer. Um zu vermeiden, dass man was erfährt, was man nicht wissen will, sollte man am Anfang seines Beitrages dazu schreiben, wie weit man ist.


    Katrin

  • 2. Warum wird Karl von Herrn Green gehindert seinen Onkel rechtzeitig zu erreichen und somit seinen Rauswurf zu vermeiden?


    Im ersten Moment dachte ich,dass für Herrn Green Karls Verschwinden eine wirtschaftliche Bedeutung hat,wenn Karl der Erbe des onkelschen Imperiums wäre...


    Ich bin mittlerweile schon im Kapitel um das Hotel Occidental.


    Beim Lesen ist mir folgender Satz aufgefallen:


    ["Dann sind Sie also frei?",fragte sie."Ja,frei bin ich" sagte Karl und nichts schien ihm wertloser.]


    Karl ist schon wieder allein.Erst die Eltern,dann der Onkel und nun seine Wegbegleiter Robinson und Delamarche.
    Das könnte das Hauptmotiv sein,passend zum Titel des Buchs "der Verschollene".
    Obwohl in Karls Fall das ein ziemlich bitteren Beigeschmack hat,denn normalerweise macht man sich auf die Suche nach Verschollenen.Aber niemand sucht Karl,alle wolllen ihn loswerden und hören niemals wieder etwas von ihm.


  • Sind diese nicht zu erwartenden Textpassagen typisch für Kafka?
    (Der Verschollene ist mein erstes Buch von Kafka, daher bin ich ziemlich ahnungslos)


    Hallo André,


    obwohl „Der Verschollene“ imo sehr unkafkaesk ist, wenn man diesen ersten Roman mit den beiden folgenden „Das Schloss“ und „Der Prozess“ vergleicht, die sehr viel düsterer und undurchsichtiger sind, so kommen gerade auch unerwartete Textpassagen und unvorhergesehene Wendungen des Geschehens auch in diesen beiden Romanen vor.


    Gruß


    Hubert

  • Hallo zusmmen,


    gestern Abend habe ich das dritte Kapitel zu Ende gelesen. Was haltet Ihr von folgender Interpretation?


    Karl lebte bei seinem Onkel wie im Paradies. Er wird zu etwas Verbotenem verführt. (von Pollunder zu einem Besuch in dessen Landhaus). Dafür wird er jetzt im 3. Kapitel mit der Vertreibung quasi aus dem Paradies bestraft.


    Eigentlich ist dies eine Variation des 1. Satzes von Kapitel eins.


    Auch dort lebte Karl noch im „Paradies“ (bei seinen Eltern). Er wird zu etwas Verbotenem verführt (vom Dienstmädchen) und dafür mit der Verbannung (nach Amerika) bestraft.


    busbian hatte ja schon darauf hingewiesen, dass wir den Roman nicht naturalistisch lesen dürfen, da Kafka Parabeln schreibt und beispielhafte Bilder.


    Wenn aber in dem Roman „Der Verschollene“ beispielhafte Bilder für Genesis Kap. 3 (Die Vertreibung aus dem Paradies) beschrieben werden, kann man dann die Freiheitsstatue mit dem Schwert, nicht als Cherubim deuten, der nach der Vertreibung aus dem Paradies den Weg zum Baum des Lebens mit dem flammenden, blitzenden Schwert bewacht?


    Grüße


    Hubert

  • Hallo Hubert,


    deine Interpretation mit der Vertreibung aus dem Paradies gefällt mir sehr gut! Und das ist tatsächlich ein Motiv, dass sich in gewisser Weise den Roman hindurch mehrmals wiederholt.


    Übrigens kristallisiert sich durch deine Zusammenstellung der homoerotischen Stellen auch einiges heraus. Ich kann mich zwar erinnern, dass ich beim Lesen auch manchmal so eine diffuse Ahnung hatte, aber wirklich deutlich wurde es mir erst jetzt durch dein explizites Aneinanderreihen.


    Ein Punkt, in dem ich übrigens mit dir übereinstimme, ist folgender:



    Nun ja, ich will nicht zu hart urteilen: Karl ist Sechzehn.


    Für Alfa_Romea aus dem Literaturschockforum waren Karls Naivität und seine überstürzten Schlussfolgerungen einer der Hauptgründe, warum ihr das Buch ziemlich auf die Nerven ging. Das war bei mir nicht so, ich fand es eher beeindruckend, wie überzeugend sich der Autor in dieses sechzehnjährige Kind versetzen - fast bin ich geneigt, zu sagen "verwandeln" - konnte.

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."

  • Hallo,


    ich stecke nach wie vor mitten im dritten Kapitel und komme nur sehr langsam voran.


    Das mit der ganzen Homoerotik wäre mir bewusst gar nicht aufgefallen, erst als ich es hier so aufgeschlüsselt gelesen habe, wurde mir klar, dass mir das die ganze Zeit schon ins Auge gestochen ist. Ich es aber nicht benennen konnte was es ist.


    Eure ganzen Eindrücke über das Paradies und so finde ich aber sehr interessant. So habe ich das ganze noch gar nicht gesehen. Das erste Mal als ich das Buch las, habe ich es als Roman gelesen ohne groß auf Metaphern und ähnliches zu achten. Das ist beim zweiten Lesen ganz anders.


    Katrin

  • Hubert & Bluebell


    Vertreibung aus dem Paradies finde ich als Idee gut - aber ich würde weniger das Alte Europa als Paradies sehen, denn das beinahe noch kindliche Alter Karls. Das Paradies endet für ihn, weil er sich den Mühen des Lebens stellen muss und hierbei notwendig die Unschuld (nicht im sexuellen Sinn) verliert: Das Leben ist nichts, was ohne Zutun geschieht. Es muss verdient und bewältigt werden. Unter dieser Perspektive stimme ich zu, dass Karl sein Paradies verloren hat.


    Die angeblich homoerotischen Anspielungen lese ich dagegen anders. Die Rockschöße, an denen Karl hängt, sind nicht sexuell zu deuten (denke ich), sondern vielmehr als elterliche Vormundschaft. Es geht also weniger darum, was naturalistisch hinter einem solchen Rock steckt, sondern welches Sysmbol der "Rockschoß" darstellt. Dazu vergleiche man das Sprichwort: "An den Rockschößen der Mutter hängen" (von der Mutter abhängig bleiben). Vielleicht liege ich hier auch ganz falsch.


    Allerdings beginne ich jetzt das Kapital "Der Fall Robinson" und bis jetzt sind mir keine weiteren Stellen aufgefallen, die homoerotisch gedeutet werden könnten. Allerdings immer wieder Figuren, die Leitbilder für den jungen Karl sind.


    Und folgende Stelle hat mir gut gefallen (Anfang Kapitel "Weg nach Ramses"): "In dem Augenblick, als Karl die Luke freigelegt hatte, hob einer der Schläfer die Arme und Beine ein wenig in die Höhe, was einen derartigen Anblick bot, daß Karl trotz seinen Sorgen in sich hineinlachte." Ich kenne zwar nicht die chronologische Reihenfolge, aber die Schilderung der Bewegung erinnert mich sehr an "Die Verwandlung".


  • Vertreibung aus dem Paradies finde ich als Idee gut - aber ich würde weniger das Alte Europa als Paradies sehen, denn das beinahe noch kindliche Alter Karls. Das Paradies endet für ihn, weil er sich den Mühen des Lebens stellen muss und hierbei notwendig die Unschuld (nicht im sexuellen Sinn) verliert: Das Leben ist nichts, was ohne Zutun geschieht. Es muss verdient und bewältigt werden. Unter dieser Perspektive stimme ich zu, dass Karl sein Paradies verloren hat.


    Guckst Du hier:


    http://www.klassikerforum.de/i…21.msg45581.html#msg45581


    ich habe nicht geschrieben: Karl lebte im Paradies (Europa) sondern:


    Auch dort lebte Karl noch im „Paradies“ (bei seinen Eltern), also genau das was Du jetzt einforderst. Ich denke Kafka bereitet uns auch so schon genug Schwierigkeiten, da brauchen wir uns nicht noch gegenseitig das Leben schwer machen.



    Die angeblich homoerotischen Anspielungen lese ich dagegen anders. Die Rockschöße, an denen Karl hängt, sind nicht sexuell zu deuten (denke ich), sondern vielmehr als elterliche Vormundschaft. ……
    Allerdings beginne ich jetzt das Kapital "Der Fall Robinson" und bis jetzt sind mir keine weiteren Stellen aufgefallen, die homoerotisch gedeutet werden könnten.


    Guckst Du hier:


    http://www.klassikerforum.de/i…21.msg45538.html#msg45538


    ich habe doch nicht geschrieben: Karl ist schwul, sondern nur, der Grund warum der Onkel Karl nicht mit Pollunder gehen lassen will, sind imo dessen homoerotischen Neigungen und diese habe ich eindeutig mit Zitaten belegt. Wenn Dir der Unterschied zwischen Erotik und Sex nicht klar ist: es gibt Bedeutungswörterbücher. Weder Bluebell noch Katrin noch ich haben das Wort Sex gebraucht, das hast erst Du ins Spiel gebracht. Und die Argumentation, angebliche homoerotische Neigungen (von Pollunder) kannst du nicht sehen, da im weiteren Verlauf des Buches keine solchen erkennbar sind (imo kommt Pollunder später nicht mehr vor) musst Du mir erklären.


    Gruß


    Hubert

  • @ Hubert


    Es handelt sich dann um ein klassisches Missverständnis:


    - Du hattest geschrieben: "Auch dort lebte Karl noch im „Paradies“ (bei seinen Eltern)."
    - Ich habe gelesen: "Auch DORT lebte Karl noch im „Paradies“ (bei seinen Eltern)." - habe also gedacht, du meinst Europa mit Paradies und dachte, das in Klammern hast du nicht für deine Interpretation, sondern nur der Vollständigkeit halber eingefügt.


    Immerhin sind wir uns einig, wenn auch auf Umwegen.


    Ein wenig schade finde ich dann aber, dass du nicht auf meine andere Lesart deiner Zitate eingehst. Vielmehr scheint dich nur zu interessieren, dass ich "sexuell" statt "erotisch" geschrieben habe und um dich einer weiteren Argumentation zu entziehen, verweist du auf die Bedeutungswörterbücher (wobei ich nach Lektüre von Wikipedia sagen würde, dass die dortige Definition meine Verwendung des Begriffs durchaus stützt).
    Ich habe den Begriff "schwul" selber nicht verwendet und es wundert mich, dass er nun auftaucht. Auch habe ich den Begriff "Sex" nicht benutzt, sondern "sexuell". Damit meinte ich ganz sicher keine Handlung, sondern eine Spannung zwischen zwei Menschen (die wiederum auch mit erotisch beschrieben werden kann). Sei es drum.
    Und die Argumentation, angebliche homoerotische Neigungen (von Pollunder) kannst du nicht sehen, da im weiteren Verlauf des Buches keine solchen erkennbar sind (imo kommt Pollunder später nicht mehr vor) musst Du mir erklären.


    Zitat

    Und die Argumentation, angebliche homoerotische Neigungen (von Pollunder) kannst du nicht sehen, da im weiteren Verlauf des Buches keine solchen erkennbar sind (imo kommt Pollunder später nicht mehr vor) musst Du mir erklären.


    Ich denke, diese Aussage stützt meine Auslegung. Denn selten tauchen Themen einmal in einem Roman auf und werden dann nicht mehr verwendet. Wenn "homoerotische Neigungen" also ein Thema wären, müssten sie wieder auftauchen. So ist mein Roman-Verständnis. Dies wäre unabhängig von der Figur des Pollunder. Das Thema, welches ich in meiner Auslegung des Textes erkannt habe, ist, dass auch an Green und Pollunder wie schon am Onkel verschiedene Formen der Vaterfiguren und der Beziehung zu ihnen durchgespielt werden. Diese These wird durch den weiteren Verlauf des Buchs gestützt.


    Was also ist von meiner Auslegung zu halten?


  • Übrigens kristallisiert sich durch deine Zusammenstellung der homoerotischen Stellen auch einiges heraus. Ich kann mich zwar erinnern, dass ich beim Lesen auch manchmal so eine diffuse Ahnung hatte, aber wirklich deutlich wurde es mir erst jetzt durch dein explizites Aneinanderreihen.



    Das mit der ganzen Homoerotik wäre mir bewusst gar nicht aufgefallen, erst als ich es hier so aufgeschlüsselt gelesen habe, wurde mir klar, dass mir das die ganze Zeit schon ins Auge gestochen ist. Ich es aber nicht benennen konnte was es ist.


    Hallo ihr Lieben,


    ja das hat der Kafka sehr geschickt gemacht, immer so sich langsam steigernd in den Text eingestreut und da es immer nur ein einzelner Satz ist liest man da einfach drüber weg. Mir ging es ja genau so bis dann Karl froh in dem Arm lehnte den Herr Pollunder um ihn gelegt hatte.


    Ich hab jetzt noch mal das erste Kapitel gelesen und da geht’s ja schon los mit der Homoerotik:


    „Und er (Karl) ging langsam in solchen Gedanken zum Heizer, zog dessen rechte Hand aus dem Gürtel und hielt sie spielend in der seinen.“


    „Karl zog seine Finger hin und her zwischen den Fingern des Heizers, der mit glänzenden Augen ringsumher schaute, als widerfahre ihm eine Wonne, ..“


    „Und nun weinte Karl, während er die Hand des Heizers küsste, und nahm die rissige, fast leblose Hand und drückte sie an seine Wangen, wie einen Schatz, auf den man verzichten muß.“


    Der zweite Satz ist imo ja schon sehr hart und ich kann es selbst kaum verstehen, dass ich das zunächst überlesen hatte. Übrigens erst wenn man diese Sätze kennt, versteht man die folgenden drei (Bett-) Sätze am Anfang des Kapitels als Metapher die das ganze vorausdeutend einleiten. Allein für sich sind diese Sätze ja noch unverfänglich?:


    „Legen Sie sich doch aufs Bett, …, sagte der Mann. Karl kroch, so gut es ging hinein und lachte …“


    „Bleiben Sie nur, sagte der Mann und stieß ihn mit einer Hand gegen die Brust, geradezu rau, ins Bett zurück.“


    „… so heimisch war ihm (Karl) hier auf dem Bett des Heizers zumute.“


    Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob da wirklich nur ein bisschen Erotik gemeint ist?


    Liebe Grüße


    Hubert


  • Denn selten tauchen Themen einmal in einem Roman auf und werden dann nicht mehr verwendet. Wenn "homoerotische Neigungen" also ein Thema wären, müssten sie wieder auftauchen. So ist mein Roman-Verständnis. Dies wäre unabhängig von der Figur des Pollunder. Das Thema, welches ich in meiner Auslegung des Textes erkannt habe, ist, dass auch an Green und Pollunder wie schon am Onkel verschiedene Formen der Vaterfiguren und der Beziehung zu ihnen durchgespielt werden. Diese These wird durch den weiteren Verlauf des Buchs gestützt.


    Was also ist von meiner Auslegung zu halten?


    Wenn Karl 8. Jahre alt wäre, würde ich Dir Recht geben. Aber Karl ist 16. Jahre alt: der Höhepunkt der Pubertät und in der Pubertät suchen Jungs keine Vaterfigur sondern lösen sich vom Vater. Das meistens einzige, was Jungs in der Pubertät interessiert: Sex. Außerdem kannst Du mir nicht erzählen, dass Karl im Heizer, für den er letztendlich als Beschützer und Verteidiger auftritt und in den beiden Landstreichern eine Vaterfigur sucht. Und dass Homoerotik nur bei Pullunder auftritt, stimmt imo auch nicht -> Guckst Du hier:


    http://www.klassikerforum.de/i…21.msg45659.html#msg45659


    Gruß


    Hubert

  • Hallo,


    nachdem ich heute meine Reise durch Kafkas "Amerika" beendet habe, ergibt sich für mich folgende Schlussbetrachtung bezüglich Karls Charakter:


    Karls Leben in Amerika ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Misserfolgen. So verliert er beispielsweise den Rückhalt durch den gut betuchten Onkel und auch seine Beziehung zu Therese und der Oberköchin ist durch einen - nicht absehbaren- Bruch gekennzeichnet. Die finanzielle und soziale Sicherheit, die ihm als Liftjunge im Hotel occidental gewährleistet ist, verspielt er, indem er sich seinem alten Weggefährten Robinson verbunden fühlt. Spätestens an dieser Stelle sehe ich Karls Unsicherheit als Charaktereigenschaft gegeben. Als Entschuldigung könnte man seine jugendliche Naivität vorbringen, doch kann man nicht leugnen, dass er leicht zu manipulieren ist. Er fühlt sich mit Robinson verbunden ( was er meiner Ansicht nach gar nicht ist!) und leitet erneut sein Scheitern ein. Später als er gemeinsam mit Robinson als Diener der Brunelda fungiert wird sein Charakter erneut deutlich sichtbar. Er lässt sich von ihr (Brunelda bzw. Delamarche) unterdrücken und stellt seine eigenen Bedürfnisse nach hinten. Ich denke, dass er zu diesem Zeitpunkt immer noch den Wunsch hegt Ingenieur zu werden und insgeheim seinen Nachbarn, den Studenten beneidet.


    Karls Rettung erfolgt als Aufruf des Theaters von Oklahama. So sehe ich das Theater als eine Art Rettungsinsel, die jeden Menschen eine Arbeit gibt. Unabhängig davon, ob ihm die Papiere fehlen (wie bei Karl) oder er eine Familie zu versorgen hat. Spätestens nach dem gemeinsamen Essen erscheint es mir als einen Garten Eden in Amerika, der im Gegensatz zur eigentlichen Berufswelt steht. Somit kann man wohl von einer Art "Happy End" reden auch wenn wir nicht wissen ob es Kafkas Intention war.


    Ich muss sagen, dass es kein Fehler war Kafka zu lesen. Selten habe ich ein Buch gelesen, welches so viele Überraschunen parat hielt. Schade, dass es Kafka in seinem kurzen Leben nicht gelungen war sein Werk fertig zu stellen.


    Wie erscheint euch meine Darstellung über Karls Charakter? Habt ihr euch ähnliches gedacht oder erschien euch sein Charakter ganz anders?


    Gruß André

    Miguel de Cervantes Saavedra:&nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &quot;Don Quixote von la Mancha&quot;&nbsp; <br />- Tieck Übersetzung -

  • Hallo,


    irgendwie werde ich mit dem Buch derzeit einfach nicht warm. Beim ersten Lesen vor einigen Jahren war ich total fasziniert vom Buch und nun nervt mich die ganze Geschichte nach wenigen Seiten.


    Ständig muss ich den Roman weglegen und komme daher nur sehr langsam voran. Da ich nächste Woche auf Urlaub bin, werde ich in der Zeit nichts zum Buch sagen können. Ich werde es aber mitnehmen, mal sehen ob es mir abseits vom Alltagsstress besser gefällt.


    Katrin


  • Beim Lesen ist mir folgender Satz aufgefallen:


    .........."Ja,frei bin ich" sagte Karl und nichts schien ihm wertloser.


    Hallo minthy,


    Du hast den Blick für das Wesentliche. Obwohl ich mit dem Buch ja noch nicht durch bin, wage ich schon jetzt die Prognose, dass dieser Satz am Anfang des fünften Kapitels die Kernaussage des ganzen Romans ist. Vermutlich will uns Kafka sagen, dass Freiheit nicht alles ist. Viele gingen ja aus dem beengten Europa ins Land der Freiheit nach Amerika, aber nicht allen ist das gut bekommen wie man an der Erzählung von Therese im 5. Kapitel oder auch an Karl selbst sieht. Andere wollen in der Pubertät aus dem Elternhaus in die Freiheit, oder später aus einer Partnerschaft in die Freiheit, oder aus einem Job der zwar nicht alle Freiheit bietet, aber dafür auch Sicherheit und als Selbständige merken sie dann, dass Marius Müller Westernhagen nicht immer Recht hat, und Freiheit nicht das einzige ist, das zählt. Nun ja, das alles war sicher nicht Kafkas Anliegen, er der sich ausgiebig mit der Thora beschäftigt hat und insbesondere mit dem Sündenfall und der anschließenden Vertreibung aus dem Paradies hat imo diesen Roman geschrieben um sich diesem schwierigen Kapitel anzunähern.


    Wie weit bist Du eigentlich mit dem Buch, oder falls Du schon fertig bist, hast Du ein Fazit für uns?


    Gruß


    Hubert

  • Hallo zusammen,


    inzwischen habe ich eine weitere Version der „Vertreibung aus dem Paradies“ gelesen: Karl lebt im Hotel Occidental unter dem Schutz der Oberköchin und mit Therese (Eva?) wie im Paradies, da taucht Robinson (die Schlange) auf und Karl wird in der Folge aus dem Hotel (Paradies) vertrieben. Da mir die Verführungsszene nicht ganz einleuchtend erschien habe ich noch einmal nachgelesen und dann war alles ganz klar: Kafka gibt uns in dieser Version, fast schon plump, einen direkten Hinweis auf „Adam und Eva“ im Paradies, wie die Szene von Albrecht Dürer gemalt wurde (Gemälde aus dem Madrider Prado siehe hier)
    http://de.wikipedia.org/w/inde…etimestamp=20050519094502


    und bestätigt so meine Interpretation: Am Ende des 5. Kapitels hatte Karl eine kleine Abwechslung, „denn Therese (Eva!), …, brachte ihm einen großen Apfel ….“. Deutlicher geht’s nimmer.


    Viele Grüße


    Hubert


  • Dem gibt’s eigentlich nichts hinzuzufügen. Imo hast Du Karls Charakter gut erfasst.



    Ich muss sagen, dass es kein Fehler war Kafka zu lesen. Selten habe ich ein Buch gelesen, welches so viele Überraschunen parat hielt. Schade, dass es Kafka in seinem kurzen Leben nicht gelungen war sein Werk fertig zu stellen.


    Heißt das, dass Du auch an der Leserunde von Kafkas Erzählungen teilnimmst? Wenn ja, trag Dich doch bitte dort noch ein. Ich verspreche Dir, dass es auch dort jede Menge Überraschungen geben wird.


    Gruß


    Hubert