Oktober 2010 - Ovid: Metamorphosen

  • Hallo zusammen,


    ich bin euch leider ein bißchen vorausgeeilt und habe die Metamorphosen gestern beendet. Bitte entschuldigt, aber ich fahre übermorgen in Urlaub und würde dann erst wieder Mitte Dezember dazu kommen, weiterzulesen. Mir hat die Lektüre, wider Erwarten, sehr viel Spaß gemacht, deswegen ging es auch viel leichter voran als gedacht.


    Ich möchte euch nicht zu viel vorweg nehmen. Im letzten Drittel des Werks drehen sich die Geschichten hauptsächlich um den Trojanischen Krieg und ganz am Schluß geht es dann um die Gründung Roms und die Fortführung der Linie bis hin zu Caesar. In diesem Rahmen sind dann die Verwandlungsgeschichten angesiedelt.


    Mal sehen, ob ich im Urlaub ins Internet komme - vermutlich eher nicht -; ich bin aber schon gespannt, dann zu lesen, was ihr noch alles beitragt. Ich wünsche euch noch eine angenehme Lektüre :winken:.


    Viele Grüße
    thopas


  • Gewundert ... hat mich, dass Ovid hier so ohne weiteres ägyptische Gottheiten auftreten lässt. ... ging die Toleranz der griechisch-römischen Kultur so weit, dass sie sich fremde Gottheiten assimilierte?


    Ich bin wahrlich kein Experte auf diesem Gebiet, aber in der spätantiken Kaiserzeit (die mit Augustus beginnt) hat es immer wieder religiöse Experimente der Herrschenden gegeben. Ob aus Toleranz oder aus reinem Cäsarenwahn: Die Römer sogen fremde Götter immer dann auf, wenn sie in ihr Herrschaftssystem passten. Es gab aber auch verbotene Religionen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse zu sehr zu untergraben drohten (wie z.B. das Christentum).



    Tja, unser Orpheus, ein Pädophiler.


    Das geht aus meiner Übersetzung nicht hervor, wohl aber aus dem lateinischen Original! So etwas nennt man wohl eine vorsätzliche Fälschung ...


    Als Vorbereitung auf den Besuch der Gluck-Oper "Orpheus ed Eurydike" habe ich mir übigens mal das (ins Deutsche übersetzte) Libretto aus dem Netz besorgt. Ich habe es noch nicht gelesen, halte aber jede Wette, dass darin weder von Pädophilie noch Homosexualität die Rede sein wird ...


    Es grüßt


    Tom

  • Hallo Tom,


    soweit ich das Libretto kenne, ist davon tatsächlich keineswegs die Rede. Im Gegenteil; in dieser Version kommt sogar zu einem Happy-End, indem Orpheus durch Amor davor bewahrt wird sich zu erstechen, während er Eurydike gleichzeitig wiedererweckt. Ich hoffe nun, nicht zuviel verraten zu haben, zumal ich davon ausgehe, dass du dir die Oper vorwiegend wegen des Musikerlebnisses ansehen möchtest. Herrn thopas zudem an dieser Stelle Dank für die kurzfristige Beantwortung meiner Frage. Ich werde die Stelle zu Hause auch schnellstmöglich einmal heraussuchen, da unter Umständen die filmische Umsetzung einer darauf beruhenden Kurzgeschichte geplant ist.


    Gruß
    Meier

    "Es gibt andere Geschichten auf einem andern Blatt Papier, doch jede ist mit der ersten verwandt" * Keimzeit

  • Zitat von Autor: Sir Thomas« am: 19. November 2010

    Zwei herrlich geschilderte Sexualneurosen stehen im Mittelpunkt der Geschichten von Pygmalion und Myrrha. Insbesondere Pygmalion käme heute wohl kaum um eine Einweisung in die geschlossene Psychiatrie herum ...


    Findest du wirklich? :zwinker:
    Im Zeitalter von virtueller Erotik und Cybersex nimmt sich Pygmalions Schwärmerei für das Bildnis doch eher harmlos aus. Und nach der Verwandlung der Statue in eine Frau aus Fleisch und Blut stellt Pygmalion seine Normalität und psychische Gesundheit vollends unter Beweis, indem er von seiner „pervertierten Sexualpräferenz“ ablässt und sehr wohl fähig ist, die Frau in der Realität zu lieben. Ihre Verbindung wird sogar von einem Kind gekrönt.


    Die Geschichte der Myrrha erinnert doch sehr an die biblische Erzählung von Lot und seinen Töchtern. Auch da wird ein Vater mit Wein betrunken gemacht und getäuscht und zum Inzest mit den Töchtern genötigt bzw verführt, wie sich überhaupt so einige biblische Motive in den Metamorphosen wiederfinden.


    Die Schilderung der Verwandlung Myrrhas in den gleichnamigen Baum ist bei aller Phantastik plastisch und anschaulich, eine Steigerung der Baumverwandlung Dryopes aus dem IX. Buch, und die Geburt des Baumkindes Adonis ist einfach hinreißend. Ovid at his best!


    [Blockierte Grafik: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/2/28/Picart_-_Birth_Adonis.jpg/220px-Picart_-_Birth_Adonis.jpg]



    Zitat von Autor: thopas« am: 17. November 2010

    Das elfte Buch habe ich nun auch gelesen … die Geschichte um Keyx und Alkyone fand ich sehr beeindruckend. Sehr schön gemacht ist die Beschreibung der Höhle von Hypnos/Somnus. Überall liegen die Träume herum, die Iris erstmal zur Seite scheiben muß, um überhaupt durchzukommen .


    Ja, im XI. Buch ist besonders diese Geschichte hervorzuheben!
    Nun weiß ich endlich, woher Ingeborg Bachmann die Idee für ihre frühe wunderschöne Erzählung Ein Geschäft mit Träumen hat! Die körperlosen Träume liegen nicht herum wie im Hause des Somnus, sondern stapeln sich in Regalen. Seltsamerweise aber ist gerade die Stimmung in der heute spielenden Erzählung Bachmanns ähnlich wie die in Ovids antiker Geschichte.


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    Zur Oper von Gluck:
    Die Musik ist hinreißend! Von der Handlung hab ich nur noch in Erinnerung, dass da auf Leitern herumgeturnt wurde …


  • Zur Oper von Gluck:
    Die Musik ist hinreißend! Von der Handlung hab ich nur noch in Erinnerung, dass da auf Leitern herumgeturnt wurde …


    Es ist zu erwarten, dass die Dortmunder Inszenierung ein ähnlich abstruses Spektakel wird.



    Ich hoffe nun, nicht zuviel verraten zu haben, zumal ich davon ausgehe, dass du dir die Oper vorwiegend wegen des Musikerlebnisses ansehen möchtest.


    So ist es.


    LG


    Tom

  • Doleo!
    Bei mir wird's noch etwas dauern, habe aber immerhin auch schon 4/5 hinter mir!
    Ich wünsche dir einen schönen Urlaub! :winken:


    Danke, Gontscharow!




    Mit dem zwölften Buch habe ich noch begonnen: sehr schön ironisch ist hier wieder der Kampf zwischen Achilles und Kyknos beschrieben. Achilles haut auf Kyknos ein und ist jedesmal wieder erstaunt, daß er ihn nicht verletzen kann (da fällt mir dann auch gleich wieder Bud Spencer ein...).


    Wenn ich mich richtig erinnere (das Buch habe ich momentan nicht vorliegen), kam nach diesem Kampf dann eine ganz andere Art von Kampf, nämlich der der Kentauren gegen die Laistrygonen. Da beschreibt Ovid dann schon ganz genau, wer wem welche Verletzung zuführt, welche Knochen wie brechen, und wohin genau die Gehirnmasse spritzt... Da tauchen dann eher Bilder aus Horror-/Splatterfilmen vor dem geistigen Auge auf. Diese Art von Unterhaltung war wohl auch damals schon begehrt :zwinker:.


    Viele Grüße
    thopas


  • Die Schilderung der Verwandlung Myrrhas in den gleichnamigen Baum ist bei aller Phantastik plastisch und anschaulich, eine Steigerung der Baumverwandlung Dryopes aus dem IX. Buch, und die Geburt des Baumkindes Adonis ist einfach hinreißend. Ovid at his best!


    Diese Geschichte hat mir auch sehr gut gefallen. Schade daß gegen Ende der Metamorphosen immer weniger dieser schönen Verwandlungen vorkommen, sondern der Schwerpunkt dann in Richtung Geschichte und das damit Verwertbare geht...


    Vermutlich werde ich die Metamorphosen nochmal irgendwann lesen, um die guten Stücke noch besser genießen zu können.

  • Im XII. Buch geht es um den Trojanischen Krieg.
    Die Opferung Iphigenies, die den Griechen günstige Winde für ihre Überfahrt nach Troja bescheren soll, erinnert an Isaacs Opferung aus dem 1.Buch Mose. Beiden Vätern wird die Opferung abverlangt (wobei Iphigenies Vater sich im Gegensatz zu Abraham zunächst sträubt), beide Gottheiten haben in letzter Sekunde ein Einsehen, Diana zaubert eine Hirschkuh herbei, die an Stelle Iphigenies geopfert wird, Jahwe einen Widder.


    Bevor Ovid die Griechenflotte am Gestade von Troja landen lässt, macht er den Leser mit Fama bekannt. Denn sie spielt eine wichtige Rolle im Krieg! Z. B. sind die Trojaner durch sie bereits vorgewarnt und empfangen die Griechen dementsprechend.
    Die Allegorie der Fama, die O. hier entwickelt, gehört für mich neben den Personifikationen der Invidia und des Somnus zu den eindrucksvollsten Passagen der Metamorphosen. Sie tragen seine individuelle Handschrift.
    Bei der suggestiven Beschreibung von Famas Burg im Mittelpunkt der Welt, von der aus alles gesehen und alles gehört werden kann, wo Leichtgläubigkeit, Irrtum und Missgunst zu Hause sind, einem Wachtturm mit tausend Öffnungen, vollständig gebaut aus hallendem Erz, das jeden Schall verdoppelt und wieder verdoppelt, wo niemals Stille herrscht, doch auch kein deutliches Wort, sondern nur Gemurmel und halb verständliches Gezischel usw., musste ich an A. Paul Webers moderne Allegorie des Gerüchts denken (laut Arno Schmidt die beste Allegorie seit Leonardo). Sicher hat er sich von Ovid inspirieren lassen!


    Seltsam finde ich, dass Ovid Kyknos Verwandlung in einen Schwan hier noch einmal erzählt, obwohl er diese Aition schon „verschossen“ hat, nämlich im II. Buch, wo Kyknos als Geliebter des Phaiton in den weißen Wasservogel verwandelt wird. Wenn die Metamorphosen ein zusammenhängendes fortlaufendes Ganzes sein sollen, warum hat dann Ovid nicht zumindest darauf hingewiesen und diese Doppelung irgendwie gerechtfertigt? Versehen, Absicht? (Inzwischen habe ich ergoogelt, dass es 4 verschiedene Versionen von Kyknos Verwandlung gibt.)


    Der Kampf Achills mit Kyknos markiert den Anfang, Paris’ Sieg über Achill (am Ende des XII. Buches) das Ende des Krieges. Dazwischen liegen 2 mal 5 Jahre nicht erzählte Zeit. Statt vom Krieg um Troja hört der Leser eine lange Erzählung Nestors über über den Kampf der Lapithen gegen die Kentauren. Es ist ein Kampf, der an Drastik nichts zu wünschen übrig lässt. Würde er verfilmt, hätten Special- Effekt-Leute und Maskenbildner alle Hände voll zu tun:
    Da bleiben nur zertrümmerte Knochen, keine Züge sind mehr erkennbar. Aus ihren Höhlen sind die Augen gesprungen und eingedrückt in das zermalmte Gesicht, hängt die Nase mitten am Gaumen…oder: Zertrümmert ist die weite Wölbung des Kopfes, und aus dem Mund und den Nasenlöchern, aus Augen und Ohren fließt das weiche Hirn, genau wie zerronnene Milch aus dem Seier aus Eichenbast oder wie zäher Saft unter Druck durch ein Sieb fließt und überall aus den vielen Löchern gepresst wird.
    Warum lässt Ovid Nestor diese brutale Geschichte mit ihren grausigen Einzelheiten erzählen? Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Kampf der Lapithen mit den Pferdemenschen, der da Achill u. anderen griechischen Helden zu Beginn des Krieges erzählt wird, als groteske Spiegelung des trojanischen Krieges! Auch hier ist ein Frauenraub Auslöser des Gemetzels, auch hier finden viele auf grausame Weise den Tod, nur weil ein blindwütiger Gast sich vergreift! Soll das eine Warnung sein? Zeigt Ovid indirekt Wahnsinn und Sinnlosigkeit des Krieges? Man ist fast geneigt das anzunehmen, wenn man liest, was die Erzählung Nestors umrahmt: Achill ist bei Ovid ein verbissener, protziger Held, eine Art killing machine. Dabei wird seine aus der Ilias bekannte Untat, dieses ungeheuerliche archaische Rritual der Leichenschändung durch Schleifen vor den Augen des Vaters, glaube ich, noch nicht einmal oder nur in einem Halbsatz erwähnt. Wir sehen nur den lächerlichen und umso verbisseneren Kampf der beiden fast Unverwundbaren. Dabei probiert Achill, da er an der Effektivität seiner Waffen zu zweifeln beginnt, sie mal eben so nebenbei an einem gemeinen Mann aus Lykien aus, indem er ihn mit der Lanze durchbohrt!
    Der Wilde, der grausamer als der Krieg selbst ist, nennt Ovid ihn an ein einer Stelle. Vieh Achilles aus Christa Wolfs Kassandra klingt an.
    Auch Paris, der Verursacher des Krieges, der am Ende Achill mit göttlicher Hilfe zur Strecke bringt, wird von Ovid, sonst mit Urteilen eher zurückhaltend, mit harschen Worten bedacht: Der einen langwierigen Krieg über sein Volk brachte… der feige Räuber der Frau aus Griechenland, nennt er ihn.


    Schön ist am Ende des XII. Buches das Fazit: Schon ist er zu Asche geworden, und von dem so großen Achilles blieb so wenig übrig, dass es kaum die Urne füllt.
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    Der Ehrlichkeit halber sei angemerkt, dass dieser schöne Schluss wieder aufgehoben wird und von Achills Nachruhm die Rede ist- allerdings mit IRONIE!

  • Ihr seid so weit und so fleißig - und ich komme seit einer Woche nicht dazu, auch nur eine einzige Verszeile zu lesen ... :redface: Das wird sich hoffentlich schnell ändern.


    Ich stecke immer noch im 11. Buch. Sorry, schneller geht es derzeit nicht.


    LG


    Tom


  • Achill ist bei Ovid ein verbissener, protziger Held, eine Art killing machine. ... Der Wilde, der grausamer als der Krieg selbst ist, nennt Ovid ihn an ein einer Stelle. Vieh Achilles aus Christa Wolfs Kassandra klingt an.


    Der Wikipedia-Artikel zu Achilles listet einige wichtige literarische Verarbeitungen und Interpretationen von Homer bis C. Wolf auf. Meine Lieblingsversion des Superhelden ist immer noch die des Dramas "Penthesilea" (H. v. Kleist). Ergänzen möchte ich die moderne filmische Umsetzung des trojanischen Kriegs von Wolfgang Petersen ("Troja"). Achilles (Brad Pitt) ist dort zwar auch der zornige und aufbrausende Krieger, er wird jedoch mit einem Mindestmaß an Menschlichkeit dargestellt. An dem Film ist viel herumgemäkelt worden; ich fand ihn nicht allzu undifferenziert und insgesamt gut gemacht.


    Ovid gönnt Achilles nur zwei recht kurze Auftritte. Ich hätte gern mehr über ihn gelesen, habe mich aber mittlerweile an die straffe Erzählweise gewöhnt, die Altbekanntes nur kurz streift, um anderen Details mehr Raum geben zu können. Die Ablehnung, die Ovid dem Griechenhero entgegenbringt, hat mich nicht verwundert, eher schon die Verachtung des Paris'.


    Ich stecke mitten im 13. Buch und habe zuletzt den rhetorischen Zweikampf zwischen Ajax und Odysseus beendet. Die Redekunst genoss in der Antike hohen Stellenwert; Ovid bereitete es sichtlich Vergnügen, sich in dieser Passage mit berühmten Rednern wie Cicero zu messen. Nun bin ich gespannt, ob er sich noch länger mit den trojanischen Ereignissen aufhält oder deren Fortgang nur kurz anreisst, um ein anderes Thema anzugehen.


    Viele Grüße


    Tom

  • Hallo Gontscharow,


    ich bin mittlerweile tief in das 14. Buch vorgestoßen.



    ... sehr erhellend für das Ganze!


    Ich kann Dir nicht folgen ... :redface: Was wird wodurch erhellt?


    Ovid ist nun endgültig in der Frühgeschichte Roms gelandet. Mit der Figur des Aeneas betritt er das weite Feld Vergils, der seine "Aeneis" rund 20 oder 30 Jahre vor Ovids "Metamorphosen" geschrieben hat. Erneut finde ich es schade, dass der eine oder andere interessante Aspekt nur am Rand behandelt wird, wie z.B. die Geschichte der Dido. Andererseits hat Vergil sich damit ausführlich beschäftigt, so dass von Ovid nicht viel mehr zu erwarten war.


    Apropos Dido und Aeneas: Das war auch eine der Geschichten, die im Lateinunterricht breiten Raum einnahmen. Sie macht durchaus Lust, Vergil einmal wieder in die Hand zu nehmen. Kennst Du übrigens die gleichnamige Oper von Henry Purcell? Mir war es leider noch nicht vergönnt, eine der eher seltenen deutschen Inszenierungen zu besuchen.



    Bin gerade dabei, (ohne Ovid) nach Berlin aufzubrechen.


    Aha! Nofretete im Neuen Museum kucken? Unbedingt hingehen (und das nicht nur wegen der niedlichen Ägypterin)!


    So long


    Tom


  • Apropos Dido und Aeneas:


    Schöner Zufallsfund: In den elegischen "Heroides" hat Ovid sich mit Didos Schicksal beschäftigt. Eine online-Version des 7. Briefs gibt es hier: http://www.kirke.hu-berlin.de/ovid/heroides/heroid.html


    Auch einige Bekannte aus den "Metamorphosen", z.B. Medea und Ariadne (Brief 10 und 12, leider nicht online verfügbar), kommen in den Elegien vor. Was für eine schöne Ergänzung zu unserer laufenden Lektüre!


    LG


    Tom


  • ich bin mittlerweile tief in das 14. Buch vorgestoßen.


    Ich kann Dir nicht folgen ... :redface: Was wird wodurch erhellt?


    Oh pardon! Ich meinte natürlich Buch XV und darin die Rede des Pythagoras! Sie wirft ein Licht auf das gesamte Werk!



    Aha! Nofretete im Neuen Museum kucken? Unbedingt hingehen (und das nicht nur wegen der niedlichen Ägypterin)!



    Im Neuen Museum war ich schon im Frühjahr. Ja, du hast recht, es ist unbedingt sehenswert! Ich glaube, es ist jetzt schöner als es je war. Demolierung im II.Weltkrieg und anschließende jahrzehntelange Verwahrlosung waren wahrscheinlich fast so etwas wie ein Glücksfall für das Gebäude. Da Beschädigtes zwar ausgebessert, Fehlendes aber nicht rekonstuiert wurde, ist das ursprünglich neoklassizistische, historisierende und wahrscheinlich reichlich überladene Dekor gemildert, die Fresken, Mosaiken, Friese sind als Fragmente jetzt einfach wunderschön! Die stellenweise Offenlegung der Bausubstanz und die Verwendung von schlichten edlen Materialien, aber auch z.B. von Beton, ist äußerst gelungen.
    Man kann nur staunen über diese Räume, die doch hinter die Exponate zurücktreten und sie hervorheben und damit ihre Funktion erfüllen, selbst aber auch zum Exponat werden und ihre eigene Geschichte erzählen!
    Ja, und in diesem Gebäude, ich glaube sinnigerweise sogar unter dem Schievelbein-Fries Die Zerstörung Pompejis sind jetzt die als Entartete Kunst verfemten Skulturen ausgestellt, die man vor kurzem vor dem Roten Rathaus bei archäologischen Grabungen zufällig gefunden hat:
    http://www.smb.museum/smb/kale…D=30402&lang=de&typeId=10
    Die wollte ich mir eigentlich ansehen, bin aber nicht mehr dazu gekommen. Ich hoffe, die Skulpturen bleiben im NeuenMuseum, sie gehören dahin, schließlich ist es ein Museum für Vor- und Frühgeschichte! :zwinker:



    Schöner Zufallsfund: In den elegischen "Heroides"... Was für eine schöne Ergänzung zu unserer laufenden Lektüre!


    Ja, mit diesem Werk Ovids liebäugele ich, seit ich im Zuge der Metamorphosen-Lektüre davon erfahren habe. Erstaunlich, dass es so wenig bekannt ist. Es erscheint einem so modern. Fiktive Briefe, die bekannte Frauengestalten zu Wort kommen lassen und bekannte Geschichten aus ihrer Perspektive erzählen, das erinnert doch sehr an Christine Brückners Wenn du geredet hättest, Desdemona. - “Frauenliteratur“, ein Bestseller in den Achtzigern. Ich weiß nicht, ob du das kennst.
    Schon in den Metamorphosen habe ich über die modern anmutenden Monologe der Frauen gestaunt, die Selbstgespräche von Medea, Skylla(Tochter des Nisus) und Myrrha z. B. !. Es sind innere Monologe, gehalten in entscheidenden Situationen ihres Lebens, in denen sie mit ihrer Problematik, ihrer Zerissenheit alleine sind und alles mit sich selbst abmachen müssen.
    Wenn Männer in den Metamorphosen länger zu Wort kommen, klingt das ganz anders. Oder fällt dir etwas Vergleichbares aus Männermund ein ? Sie halten keine Monologe. Sie haben Adressaten. Sie halten Reden wie z.B. Ajax und Odysseus:



    Ich stecke mitten im 13. Buch und habe zuletzt den rhetorischen Zweikampf zwischen Ajax und Odysseus beendet. Die Redekunst genoss in der Antike hohen Stellenwert; Ovid bereitete es sichtlich Vergnügen, sich in dieser Passage mit berühmten Rednern wie Cicero zu messen.


    Ovid lässt seine Geschlechtsgenossen (selbst den angeblich unbedarften Ajax) rhetorisch brillieren, aber es ist Distanz zu ihnen spürbar. Ovid scheint sich psychologisch mehr für seine Frauengestalten zu interessieren, ihnen gefühlsmäßig näher zu sein. Insofern wären die Heroides eine interessante sinnvolle Ergänzung zur laufenden Lektüre, zumal ja auch Frauen zu Wort kommen, die uns aus den Metamorphosen bekannt sind.
    Bei Wikipedia habe ich nun gelesen, dass die Echtheit des Werkes angezweifelt wird. Schade, das lässt meinen Lesewunsch ein bisschen ins Wanken geraten.


    Aus dem XIII. Buch sollte, glaube ich, Priamos’ Frau Hekuba, einzige und widerwillig Überlebende ihrer großen Familie, als herausragende Figur erwähnt werden!
    Die große Leidtragende, Trauernde und blindwütige Rächerin, deren Qualen Ovid eingehend schildert, verkörpert so etwas wie das Leid und Elend des Krieges über dessen Ende hinaus. Sie versteinert nicht in ihrem Schmerz wie Niobe, die auch sämtliche Kinder verliert, sondern wird zu einem knurrenden, bellenden, heulenden Hund! Das passt meiner Meinung nach zu Ovids vollkommen unheroischer Darstellung des Trojanischen Krieges vor allem als schreckliches Desaster für die Menschen - darin anders als z. B. der von dir erwähnte Film, der in seiner technischen Perfektion nicht umhin kann, den Krieg irgendwie zu feiern.


    Nicht unerwähnt lassen möchte ich die Geschichte der Galathea über den verliebten Zyklopen. Das scheint ja die Urvorlage zu sein für King Kong, La Belle et la bête, Zeraldas Riese! Für all diese unbeholfenen Riesen und Unholde, die sich verlieben und die einem dann nur noch leid tun. Verliebt Frankenstein sich nicht auch? Herrlich, wie Polyphem versucht zu gefallen, sich mit dem Rechen kämmt, seinem Spiegelbild im Wasser zulächelt und sich einredet, doch ganz passabel auszusehen, die Sonne habe (sei) ja auch nur ein Auge. Rührend in seiner Tapsigkeit und Unbeholfenheit!


    [Blockierte Grafik: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/9/91/Fresco_Polyphemus_Galatea_MAN_Naples_27687.jpg/220px-Fresco_Polyphemus_Galatea_MAN_Naples_27687.jpg]
    Fresken in Pompeji Polyphem und Galatea darstellend sprechen allerdings eine andere Sprache.


  • Ich meinte natürlich Buch XV und darin die Rede des Pythagoras! Sie wirft ein Licht auf das gesamte Werk!


    Hi Gontscharow,


    das 15. und letzte Buch habe ich noch vor mir. Ich werde es vermutlich am Wochenende lesen.


    Und nun zu einigen Deiner Anmerkungen.



    Schon in den Metamorphosen habe ich über die modern anmutenden Monologe der Frauen gestaunt, die Selbstgespräche von Medea, Skylla(Tochter des Nisus) und Myrrha z. B. !. Es sind innere Monologe, gehalten in entscheidenden Situationen ihres Lebens, in denen sie mit ihrer Problematik, ihrer Zerissenheit alleine sind und alles mit sich selbst abmachen müssen.


    Die Frauenfiguren und -monologe Ovids klingen einerseits modern, könnten aber auch aus klassischen Dramen stammen. Erst kürzlich blätterte ich in der Schiller-Übersetzung von Racines "Phèdre" (das Werk wird von Proust häufig zitiert) - und siehe da: Die Phädra-Monologe hätten auch in den "Metamorphosen" stehen können! Vermutlich hat Racine Ovid und weitere antike Autoren sehr gut gekannt und gründlich studiert.



    Oder fällt dir etwas Vergleichbares aus Männermund ein ? Sie halten keine Monologe. Sie haben Adressaten.


    ... und sind natürlich in erster Linie Handelnde, nicht Redende.



    Ovid scheint sich psychologisch mehr für seine Frauengestalten zu interessieren, ihnen gefühlsmäßig näher zu sein.


    Ja, das hat er schon in den "Heroides" bewiesen - ein Werk, dessen "Echtheit", wie Du erwähnst, wohl leider bezweifelt wird. Ich überlege noch, ob mich das wirklich daran hindert, zumindest den einen oder anderen Brief bei nächster Gelegenheit zu lesen.


    Soviel für den Augenblick von mir.


    Liebe Grüße


    Tom

  • Zitat von Autor: Sir Thomas« am: 1. Dezember 2010


    Ovid ist nun endgültig in der Frühgeschichte Roms gelandet. Mit der Figur des Aeneas betritt er das weite Feld Vergils, der seine "Aeneis" rund 20 oder 30 Jahre vor Ovids "Metamorphosen" geschrieben hat. Erneut finde ich es schade, dass der eine oder andere interessante Aspekt nur am Rand behandelt wird, wie z.B. die Geschichte der Dido. Andererseits hat Vergil sich damit ausführlich beschäftigt, so dass von Ovid nicht viel mehr zu erwarten war.


    Der kleine Dido-Vierzeiler bei Ovid ist wirklich ein Witz! Vielleicht ist ja die römische Frühgeschichte nicht nur das weite Feld Vergils, sondern auch ein vermintes Feld?
    Wie dem auch sei, diese extreme Kürze ist entweder eine Reverenz an Vergil, Tenor: Seht her, ich überlasse ihm das Feld. Er kann es besser. Oder das Gegenteil: Was ist darüber schon zu berichten, alte Kamellen! Auf jeden Fall aber hat es etwas mit Vergil zu tun.
    Ich habe daraufhin bei Vergil im 4.Buch der Aeneis( Übersetzung Voss) nachgelesen:
    Da fallen Sätze, die auch Ovid geschrieben haben könnte, wie:
    Liebe, du Graun, was nicht von der Sterblichen Herzen erzwingst du?
    Und es gibt wie bei Ovid die liebevolle Anrede der Person durch den Erzähler, die eine mitfühlende Nähe ausdrückt:
    Dido, was fühltest du da?
    Aber es ist auch ist die Rede von Schuld, Wahnsinn und Torheit der Dido und sehr ausführlich vom Willen der Götter und Aufrag des Aeneas.
    Ovid beschränkt sich darauf, Dido als Ge-und Enttäuschte zu bezeichnen und verliert kein Wort über Aeneas oder rechtfertigt gar sein Tun.


    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: 1. Dezember 2010

    Apropos Dido und Aeneas: Das war auch eine der Geschichten, die im Lateinunterricht breiten Raum einnahmen. Sie macht durchaus Lust, Vergil einmal wieder in die Hand zu nehmen.


    Die Aeneis war auch bei uns Thema im Lateinunterricht. Von Ovid hingegen haben wir nicht eine Zeile gelesen! Meine Lateinpauker werden gewusst haben, warum.
    Ehrlich gesagt, verspüre ich wenig Lust, Vergil noch mal in die Hand zu nehmen - ganz im Gegensatz zu anderen Texten von Ovid!
    Arma virumque cano - von Waffen und dem Mann will ich singen … nein danke!
    Wenn man Vergils Stadtgründungsepos mit Ovids Verwandlungsepos vergleicht:
    Vergil erzählt linear, eins muss passieren, damit das nächste geschehen kann, fast teleologisch immer auf das Ziel der Gründung Roms hin. Kein Wunder, dass es zum Nationalepos der augusteischen Zeit wurde. Bei Ovid verspüre ich so etwas wie Freiheit, nichts wird zum Zwecke von etwas anderem erzählt. Die Geschichte von Picus dem Specht ist genauso wichtig und erzählenswert wie die von Achilles …


    Ich bin gespannt, was du zum XV. Buch sagst!


  • Ich bin gespannt, was du zum XV. Buch sagst!


    Gestern war der Herr noch krank; jetzt liest er wieder, Gott sei Dank!


    Spaß beiseite. Widrige Umstände haben mich vom Lesen abgehalten; ich bin also nicht einen Deut weiter. Das soll sich heute Abend ändern ...



    Ehrlich gesagt, verspüre ich wenig Lust, Vergil noch mal in die Hand zu nehmen - ganz im Gegensatz zu anderen Texten von Ovid!


    Du hast mich missverstanden; ich werde sicher nicht die vollständige "Aeneis" lesen, sowenig wie ich die komplette Schlachtplatte namens "Ilias" ertrage. Aber Auszüge sind immer wieder mal interessant (z.B. Buch 4 mit der Dido-Geschichte).


    Mein Vorschlag: Erst die "Heroides" lesen, dann "Die letzte Welt" von Ransmayr ... Wie schaut's aus?


    LG


    Tom


  • Mein Vorschlag: Erst die "Heroides" lesen, dann "Die letzte Welt" von Ransmayr ... Wie schaut's aus?


    Sehr gern! Die Heroiden habe ich in der lateinisch-deutschen Reclam-Ausgabe bestellt … Ransmayrs Letzte Welt allerdings am Wochenende bereits gelesen!
    Hoffentlich nehmt ihr mir, besonders du, geschätzter scheichsbeutel, der du uns dieses Werk ans Herz gelegt hast, meine offene Meinung dazu nicht übel:
    Ich halte es für Kunsthandwerk. Ovid light. Kitsch. Über Prokne (bei Ransmayr eine Schlachtersfrau), die ihr Kind tötet, um ihren Mann zu strafen, heißt es: Sie nahm ihren Sohn aus der Zeit und legte ihn zurück in ihr Herz. Diesen Satz fand ich bei Literaturschock zitiert als Beispiel für die Wucht der Ransmayr’schen Sprache. Für mich ist das Kitsch! Bei Bedarf erläutere ich, warum.
    Ich kann verstehen, dass jemand, der die Metamorphosen gelesen hat - und Ransmayr hat sie intensiv gelesen, ursprünglich wollte er sie nur übersetzen, hätte er es doch getan! - überall ovidische Reinkarnationen zu sehen meint. Auch ich ertappe mich dabei, dass ich meinen Lieblingsitaliener vor Ort, Betreiber des „Piccolo Abruzzo“, den es aus der Nähe von Sulmona in den rauen Norden verschlagen hat und der zudem eine lange elegante Nase hat, verstohlen von der Seite betrachte und versucht bin, bei passender Gelegenheit „Naso?“ zu raunen.
    Die Detektivhandlung ist platt; die wirklich schönen eindrucksvollen Passagen fast 1:1 von Ovid übernommen.
    Das Schiff, mit dem Cotta ankommt, heißt Trivia. Eine selbstkritische Anspielung des Autors?


    Zitat von Thomas Lang (Die 10 schlechtesten guten Bücher, zehn.de)den Rhythmus eines Ransmayr-Satzes nachahmend:
    Unaufhaltsam wie ein Zug Lemminge wälzen sich Ransmayrs Sätze über den Bordstein der Literatur in den Gulli der Postmoderne.


    Tut mir leid. Vielleicht hätte mich der Roman mehr beeindruckt, wenn ich Ovid vorher nicht gelesen hätte. So kommt es mir vor, als hätte man kostbare alte Gewänder zerschnippelt und zu einer Patchworkdecke verarbeitet.