Oktober 2010 - Ovid: Metamorphosen


  • Besonders gefallen hat mir der Drachentöter Cadmus (zu Beginn des dritten Buchs). Das Erschlagen irgendwelcher Ungeheuer durch irgendwelche Helden scheint ein grundlegendes Thema der mythologischen und später der phantastischen Literatur zu sein. Beowulf und Siegfried fallen mir spontan ein, aber auch in Grimms Märchensammlung taucht dieses Motiv auf (ich erinnere mich leider nicht, in welchem Märchen).


    Wie gut, dass es Wikipedia gibt! Angeregt durch deinen Beitrag habe ich ein bisschen recherchiert und diese imposante Auflistung von Drachentötern gefunden: http://de.wikipedia.org/wiki/Drachent%C3%B6ter.


    Drachentöterei ist ja sonst eigentlich immer etwas langweilig und kindisch und eine rein männliche Domäne. Hier fand sich zu meiner Überraschung auch mal ein Frauenname: Martha von Bethanien. Und was hat sie im Gegensatz zu den Herren der Weltgeschichte mit dem Untier gemacht? Sie hat es nicht getötet, sondern gezähmt. Zivilisation ist weiblich! Überhaupt ist die ganze Geschichte der Martha interessant.
    Danke Ovid, danke Sir Thomas, ohne euch wäre sie mir unbekannt geblieben.


  • Drachentöterei ist ja sonst eigentlich immer etwas langweilig und kindisch und eine rein männliche Domäne.


    Nun ja, ich habe meinen ersten und bislang einzigen Drachen mit sieben erschlagen; insofern hast Du mit "kindisch" sicher recht. Langweilig war es übrigens nicht ... :breitgrins:


    LG


    Tom

  • In was für einem rachsüchtigen und brutalen Kosmos haben die Römer gelebt!


    Genau das, Sir Thomas, denke ich auch die ganze Zeit!


    Es ist ein kaltes grausames Universum mit sich widerstreitenden Machtbefugnissen und Kompetenzen. Es herrscht kein väterlicher fürsorglicher Gott, der alles aufs beste bestellt hat. Es gibt keine Gerechtigkeit. Auch das Leben nach dem Tod verspricht keine Kompensation für das Jammertal oder ausgleichende Gerechtigkeit.
    Die Götterwelt ist getrieben von den menschlichsten und kleinlichsten Gelüsten und Gefühlen wie Geilheit, Eifersucht, Eitelkeit und Neid und die Menschen sind ihnen ausgeliefert. Juno z. B., Göttin der Haus- und Ehefrauen, lässt sich nur leiten von Eifersucht, Missgunst und Rachegefühlen. Was dabei herauskommt, ist schreiend ungerecht, entspricht aber seltsamerweise der kleinbürgerlichen Moral bis heute: Das Opfer hat die „Arschkarte“, das Verführungs- und Vergewaltigungsopfer ist schuld, entehrt und wird bestraft, Vergewaltigung ist ein Kavaliersdelikt etc.
    Die Götter täuschen, tricksen und betrügen beinahe so oder schlimmer als die Menschen. Schlimmer, weil sie mit göttlicher Macht ausgestattet sind und es umso schlimmer treiben können und auch noch Ehrfurcht, Verehrung und Respekt verlangen dürfen. Das einzige, was vielleicht für sie einnimmt: Dass sie nicht allmächtig sind, auf Beziehungen angewiesen sind, leiden können … Im Grunde sind sie aber auf den Olymp projizierte, in ihren Lastern, Schwächen und Fehlern vergrößerte Menschen.



    Frei nach Nietzsche stelle ich mir die Frage: Was waren das für Menschen, die sich solche Götter gaben?


    Sie müssen stark gewesen sein, um mit einer Religion leben zu können, die keinerlei Trost, Geborgenheit, Entschädigung, Ordnung und Gewissheit bietet.
    Was man sonst Religionen nachsagt, nämlich dass sie aus Wunschvorstellungen und Idealisierungen gestrickt seien, kann man von dieser nicht sagen! Diese hier, wie Ovid sie beschreibt, spiegelt realistisch bis pessimistisch jene Zustände auf der Welt, über die die Religion eigentlich hinwegtäuschen soll. :zwinker:


    Die Metamorphosen sind vermutlich im Jahre 1 post Christum natum geschrieben.


  • Im Grunde sind [die Götter] ... auf den Olymp projizierte, in ihren Lastern, Schwächen und Fehlern vergrößerte Menschen.


    Auch wenn er hier nicht gern gesehen ist, habe ich jetzt doch noch einmal bei Herrn Nietzsche persönlich nachgefragt. In "Menschliches Allzumenschliches" heißt es: "Die Griechen sahen über sich die homerischen Götter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als Knechte ... Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der gelungensten Exemplare ihrer eigenen Kaste, also ein Ideal, keinen Gegensatz des eigenen Wesens. Man fühlt sich miteinander verwandt ... Der Mensch denkt vornehm von sich, wenn er sich solche Götter gibt ..." (Drittes Hauptstück, Das religiöse Leben, Abschnitt 114)


    Nun hat Nietzsche dies über die Griechen, und nicht über die Römer behauptet. Ich halte das jedoch für übertragbar. Was mich irritiert: Er hat diese antike Gottesidee positiv gewertet, um sie der "Sklavenmoral" des Christentums entgegen zu halten. Wenn wir jedoch berücksichtigen, was Du, Gontscharow, über die Schlechtigkeiten der antiken Götter zusammengetragen hast, lässt das interessante Schlüsse auf die damalige Moral zu.


    LG


    Tom


  • Ich habe auch noch die Geschichte mit Aktäon gelesen, und erinnere mich, daß wir diese im Lateinunterricht übersetzt haben. Auch an Tiresias, Narziß und Echo erinnere ich mich (da hat sich mein Lateinlehrer wohl hauptsächlich aus dem dritten Buch bedient...);


    Wir mussten die Geschichte von Orpheus und Eurydike übersetzen. Die kommt aber wohl erst einige Bücher später, wenn ich richtig orientiert bin.


    LG


    Tom


  • In "Menschliches Allzumenschliches" heißt es: "Die Griechen sahen über sich die homerischen Götter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als Knechte ... Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der gelungensten Exemplare ihrer eigenen Kaste, also ein Ideal...


    Was mich irritiert: Er hat diese antike Gottesidee positiv gewertet, um sie der "Sklavenmoral" des Christentums entgegen zu halten.


    Ich kann die positive Wertung schon nachvollziehen. Der Mensch ist den Göttern quasi ebenbürtig, es sind Götter auf Augenhöhe...


    Allerdings, zwischen den homerischen Göttern und den Ovid'schen liegen 7-8 Jahrhunderte! Von [i]Spiegelbild der gelungensten Exemplare ihrer Kaste und Ideal kann bei Ovid keine Rede (mehr) sein! Außerdem schönt ja Nietzsche die antike Götterwelt zu Ungunsten des Christentums noch!


    Auf jeden Fall aber ist die Götterwelt der Metamorphosen ein Spiegel der realen Welt um Christi Geburt und so mancher mag sich darin erkannt haben, was vielleicht zu Ovids Verbannung beigetragen hat.
    Ich weiß leider (noch) zu wenig über die Gründe.


  • ... was vielleicht zu Ovids Verbannung beigetragen hat. Ich weiß leider (noch) zu wenig über die Gründe.


    SALVE!


    Darüber gibt es mWn. keine gesicherten Erkenntnisse. Es gibt die Vermutung, Ovid habe etwas Pikantes aus dem Leben des Kaisers Augustus in Erfahrung gebracht. Die Verbannung sollte ihn zum Schweigen bringen bzw. als Warnung dienen. Möglich wäre es schon.


    Bekannt ist, dass die "Metamorphosen" einige Spitzen gegen Augustus beinhalten. (Ich habe sie allerdings noch nicht gefunden oder schlicht überlesen). Auch das könnte ein Grund für die Verbannung sein.


    VALE!


    Tom


  • Das dritte Buch hat mir ausgesprochen gut gefallen. Die Bacchus-Geschichte ist wirklich gnadenlos! In was für einem rachsüchtigen und brutalen Kosmos haben die Römer gelebt! Denn ich nehme an, dass Ovid den Geist seiner Zeit so "realistisch" wie möglich einfängt und wiedergibt. Frei nach Nietzsche stelle ich mir die Frage: Was waren das für Menschen, die sich solche Götter gaben?


    Ich habe jetzt auch das dritte Buch beendet, das mit einem richtigen Knall zuende geht. Das wirkt ja fast schon wie eine Szene aus einem Horrorfilm. Es scheint so, als ob Pentheus' Mutter ihn für einen Eber hält; wie dann allerdings sein Leib zerrissen wird, wirkt eher so, als ob er noch ein Mensch wäre. Er kann ja offensichtlich auch noch sprechen. Das ist dann schon viel grausamer als bei Aktäon. Aber da Bacchus auch der Gott des Rausches ist, läuft vielleicht hier auch einiges aus dem Ruder...


    Aber ihr habt schon recht: die Götter wirken extrem grausam und ungerecht. Und die armen Menschen, die ihnen unschuldig in die Quere kommen, werden dann gnadenlos zerrieben (o.ä. :zwinker:).


    Ich erinnere mich jetzt auch, daß wir den Text im Lateinunterricht immer laut vorlesen mußten, bevor wir ihn übersetzt haben, um zu zeigen, daß wir die Hexameter richtig lesen und betonen können. Besonders der Beginn der Geschichte um Jupiter und Semele ist mir da noch im Gedächtnis: "Rumor in ambiguo est" (in meiner Ausgabe S. 134) wird "Rúmor in ámbiguóst" gelesen. Da sehe ich meinen Lateinlehrer noch deutlich vor mir und höre seine Stimme dazu :breitgrins:.


    Viele Grüße
    thopas

  • Fast ein Drittel der Metamorphosen, also die erste Pentade, liegt jetzt hinter mir.Trotzdem möchte ich nochmal zu Aktäon im dritten Buch zurückrudern.


    Zitat von thopas

    Ich habe auch noch die Geschichte mit Aktäon gelesen, und erinnere mich, daß wir diese im Lateinunterricht übersetzt haben.


    Ich glaube, dein Lehrer hat nicht zufällig diese Geschichte ausgewählt.
    Eine lektürebegleitende Frage für mich ist: Wieviel Ovid steckt in den einzelnen Geschichten? Was ist spezifisch für Ovid? Und in der Aktäon- Geschichte scheint mir viel Ovid zu stecken!


    Sie erzählt wie manch andere äußerst kunstvoll von jemandem, der unschuldig schuldig wird, den subjektiv keine Schuld trifft und der hart bestraft wird.
    … erwägt man es wohl, dann findet man dabei nur Fortunas Schuld, keinen Frevel, denn welche Sünde wars, sich zu verirren? leitet der Erzähler seine Geschichte ein, in einer rhetorischen Frage ihr Fazit vorwegnehmend.

    Netze und Eisen triefen vom Blut der Tiere, ihr Freunde; Glück genug brachte der Tag...
    Diese Worte Aktäons, die einen erfolgreichen Jagdtag beenden sollen, erfahren im folgenden ihre tragisch ironische Umkehrung. Der Leser weiß, erst wird noch sein, Aktäons, Blut fließen, ehe der Tag alles andere als glücklich enden wird, hat man doch außerdem noch den letzten Satz der vorangegangenen Kadmos-Geschichte im Ohr:
    Aber freilich muss der Mensch stets seinen letzten Tag abwarten, und keinen darf man glücklich nennen vor dem Tod und der letzen Feier.


    Aktäon wird zufällig Zeuge, wie die unbekleidete Diana mit ihren Nymphen ein Bad nimmt. Diese wunderschön geschilderte Szene ist zu einem beliebten Motiv der Kunstgeschichte geworden. Es gibt dazu Bilder von Rembrandt, Tizian, Cranach, Breughel, um nur die allerwichtigsten zu nennen! 2008 gab es in Düsseldorf dazu eine Ausstellung Aktäon und der Blick auf die Nacktheit.


    Zur Strafe für diesen unbeabsichtigten Blick auf Verbotenes wird er von der Göttin in einen Hirsch verwandelt und dann von seinen eigenen Jagdhunden gejagt und zerfleischt.
    Bevor sich aber sein Schicksal erfüllt und er den Tod findet, lässt der Erzähler, wie um den Jammer voll zu machen, das Schicksal noch seine ironischen Pointen ins Spiel bringen. Da werden erstmal noch alle seine ihn verfolgenden Jagdhunde mit ihren nichts Gutes verheißenden Namen, manche sogar mit ihrem Stammbaum und ihren kürzlichen Jagderfolgen und einst nützlichen, jetzt tödlichen Fähigkeiten genannt und beschrieben! Aktäon muss sich noch sinnlos an die Idee klammern, seine ehemaligen Helfer davon überzeugen zu können, dass ihr Jagdobjekt doch eigentlich ihr Herr sei.
    Ach, er flieht vor den eigenen Helfern
    Und seine ahnungslosen ehemaligen Jagdgefährten müssen noch, Ironie des Schicksals, nach Aktäon rufen, weil sie die Freude über den todeswunden kapitalen Hirsch mit ihm teilen möchten!
    Da wünscht er zwar fern zu sein, aber er ist da! Er möchte nur sehen nicht spüren das wilde Treiben der eigenen Hunde! ... und zerreißen ihren Herrn in der trügerischen Erscheinung eines Hirsches

    Ich habe nicht das Gefühl, dass das zynisch, sadistisch oder hämisch ist, dieses ironische Spiel mit seinem Helden, dieses Auskosten bis zur bitteren Neige. Natürlich ist auch etwas von the laugh is always on the loser dabei. Aber ich meine vor allem so etwas wie Melancholie und Weltschmerz zu spüren. Das ging mir schon beim Lesen anderer Geschichten so. Wie ist das bei euch, wie versteht ihr Ovids Ironie?


    Kalt, hämisch, schadenfroh und voyeuristisch dagegen scheinen mir die Götter dargestellt, die sich über den durch den Fleischwolf des Schicksals gedrehten Aktäon auslassen:
    Man spricht darüber verschieden. Den einen scheint die Göttin ungebührlich grausam, andere preisen und nennen sie entschiedner Jungfräulichkeit würdig. Beide Seiten finden ihre Gründe. Jupiters Gemahlin allein verrät nicht, ob Tadel, ob Lob sie spendet, sie freut sich vielmehr des Unglücks ...

  • Ich stecke noch mitten im vierten Buch... Es war interessant, die Geschichte von Pyramus und Thisbe zu lesen, die ich bisher nur aus dem Sommernachtstraum kannte. Shakespeare hat allerdings auch bei Romeo und Julia u.a. auf diese klassische, tragische Liebesgeschichte zurückgegriffen.


    Die Ironie Ovids kommt für meine Begriffe nur sehr selten zum Vorschein. Die Aufzählung der Hunde ist da wohl die deutlichste Stelle (von dem, was ich bisher gelesen habe). Ovid erzählt diese Geschichten voller Hinterhältigkeit und Bösartigkeit zumeist sehr nüchtern. Ich werde mal bei der weiteren Lektüre mehr darauf achten, inwieweit man die Einstellung des Erzählers zur Handlung herauslesen kann.


    Viele Grüße
    thopas

  • Zitat von Autor: thopas« am: Gestern um 13:20 »

    Die Ironie Ovids kommt für meine Begriffe nur sehr selten zum Vorschein.


    Ehrlich? :zwinker: Ich meine, in nahezu jeder Geschichte lassen sich ironische Wendungen und Zuspitzungen ausmachen. Sie sind für mich der Hauptleseanreiz, jenes Gran Salz, das das Aufgetischte erst genießbar macht.*

    Zitat von Autor: thopas« am: Gestern um 13:20 »

    Ovid erzählt diese Geschichten voller Hinterhältigkeit und Bösartigkeit zumeist sehr nüchtern.


    Ja, das stimmt, nüchtern, fast stoisch (war Ovid Stoiker?), kühl und distanziert - beste Voraussetzungen für Ironie!


    _____________________________________________________________________________________
    *Ironie ist das Gran Salz, das …. ( Zitat von Goethe)


  • Fast ein Drittel der Metamorphosen, also die erste Pentade, liegt jetzt hinter mir.


    Dort stehe ich auch.


    Ehrlich? :zwinker: Ich meine, in nahezu jeder Geschichte lassen sich ironische Wendungen und Zuspitzungen ausmachen. Sie sind für mich der Hauptleseanreiz, jenes Gran Salz, das das Aufgetischte erst genießbar macht.*


    Ja, das stimmt, nüchtern, fast stoisch (war Ovid Stoiker?), kühl und distanziert - beste Voraussetzungen für Ironie!


    _____________________________________________________________________________________
    *Ironie ist das Gran Salz, das …. ( Zitat von Goethe)


    "Distanziert" ist wohl die treffendste Beschreibung. Besonders aufgefallen ist mir diese Kälte zu Beginn des fünften Buchs. Das dort geschilderte Massakrieren ist ziemlich krass, wird aber so nüchtern serviert, dass man fast schon wieder schmunzeln könnte, aber eben nur fast.


    Was bei mir hängen bleibt sind großartige Beschreibungen wie die des Tartarus im vierten Buch und die besonders ergreifenden Schicksale (z.B. Pyramus und Thisbe), die in der Literatur in Form von Variationen fortgewirkt haben.


    Die Frage, ob Ovid Stoiker war, ist interessant. Leider weiß ich darauf keine Antwort. Hinweise diesbezüglich habe ich in der Sekundärliteratur nicht gefunden. Ich tendiere jedoch dahin, ihm aufgrund seiner Erzählweise stoische Einstellungen zuzuschreiben. Die weiteren Bücher unter diesem Aspekt zu lesen, könnte interessant sein.


    Es grüßt


    Tom

  • Kurzer Nachsatz:


    Wenn ich die "Metamorphosen" mit den antiken Großepen Homers vergleiche, dann fehlt dem Römer Ovid jegliches Pathos. Nun erinnere ich mich wieder an das Vorwort meiner Metamorphosen-Ausgabe, in dem es heisst, Ovid habe das traditionelle Epos modernisiert, indem er zwar den Hexameter als episches Versmaß beibehielt, jedoch eine elegische Moll-Tonart anschlug. Damit erzielt er vermutlich genau das, was wir entweder als Distanz und Kälte oder als Trauer und Melancholie empfinden.


    Apropos Homer: Ich werde mir im Laufe des Tages evtl. die Mühe machen, das Odysseus-Kapitel nachzulesen, in dem es um den Besuch des Helden in der Unterwelt geht. Mich interessiert, wieviel Homer in den ovidschen Schilderungen des Tartarus steckt.


    So long


    Tom


  • Kurzer Nachsatz:


    Wenn ich die "Metamorphosen" mit den antiken Großepen Homers vergleiche, dann fehlt dem Römer Ovid jegliches Pathos. Nun erinnere ich mich wieder an das Vorwort meiner Metamorphosen-Ausgabe, in dem es heisst, Ovid habe das traditionelle Epos modernisiert, indem er zwar den Hexameter als episches Versmaß beibehielt, jedoch eine elegische Moll-Tonart anschlug. Damit erzielt er vermutlich genau das, was wir entweder als Distanz und Kälte oder als Trauer und Melancholie empfinden.


    Diese Moll-Tonart fällt immer dann besonders auf, wenn sich Menschen in Tiere verwandeln; sie klagen und wollen ihren Kummer äußern, doch es kommt nur noch ein Muhen, Zischen etc. aus ihrem Mund/Maul. Wenn es um die Verwandlungen dieser armen Opfer geht, dann fällt mir kaum Ironie auf (oder sie ist zu subtil für mich). Eher ironisch empfinde ich die Darstellung der Götter und deren Handlungen, die oft schon arg überzogen sind. V.a. Juno kommt ziemlich schlecht weg bisher. Sie scheint nichts anderes zu sein, als die ewig eifersüchtige und rachsüchtige Ehefrau.


    Interessant finde ich die Strafen, die bei der Mißachtung von Bacchus bzw. seinen Riten folgen. Bacchus selbst tritt nicht auf, es wachsen nur überall Efeuranken und man hört Trommeln und Hörner spielen und es duftet nach Myrrhe. Das hat schon etwas unheimliches und es erinnert mich auch an irgendeinen Film-Bösewicht (der Joker bei Batman?/oder irgendetwas aus Akte X?), wo auch das Auftreten des Bösewichts durch bestimmte Veränderungen in der Umgebung/Musik etc. angekündigt werden. Ich denke, die Metamorphosen sind bestimmt eine unerschöpfliche Fundgrube für Filmemacher etc.


    Buch 4 habe ich beendet; da hier morgen Feiertag ist, schaffe ich vielleicht noch Buch 5 :smile:.


    Viele Grüße
    thopas

  • Wenn man die Metamorphosen in Hinblick auf Ironie liest, dann kann die Lektüre auch etwas ausarten: ich habe gerade die Kampfszene zwischen Perseus und Phineas am Anfang des fünften Buches gelesen. Ovid schildert die Kampfhandlungen durchaus mit Ironie, wie mir scheint, denn nach kurzer Zeit hatte ich das Gefühl, in das Drehbuch für einen Bud Spencer/Terence Hill-Film gerutscht zu sein :breitgrins:. Da macht es dann auch mir Spaß, die ausführlichen Kampfbeschreibungen zu lesen, was mich sonst immer eher langweilt...


    Jetzt hast du mich auf den Geschmack gebracht, Gontscharow :winken:.


    Viele Grüße
    thopas

  • Zum einen sollte eine Leseempfehlung nicht fehlen bei dieser Runde: Ransmayrs "Die letzte Welt", ein wirklich hervorragendes Buch, das die Zeit der Verbannung in Tomi behandelt und für dessen Lektüre die "Metamorphosen" eine ideale Vorbereitung darstellen.


    Zur Verbannung Ovids (die sich wohl nie mehr ganz klären lassen wird): Er dürfte ob seiner erotischen Gedichte schon früh sich den (noch verhaltenen) Zorn des Augustus zugezogen haben (außerdem hätte er der iulischen Gesetze wegen nicht nur wegen eines seiner freizügigen Werke eingesperrt werden können, hatte aber wohl einflussreiche Fürsprecher); entscheidend scheint schlussendlich die Verwicklung in eine delikate Geschichte mit der Kaisertochter Julia gewesen zu sein, die zur gleichen Zeit verbannt wurde.


    Grüße


    s.

  • Ich habe das 6. Buch beendet und ermüde ein wenig aufgrund der thematisch ähnlichen Moritaten über Rachdurst, Mord- und Sinneslust. Habt Ihr schon die „nette Geschichte“ der Schwestern Progne und Philomela gelesen? Was für ein Sadismus, welch ein Horror!


    Halten wir ein wenig inne. Was steckt hinter all den kunst- und lustvoll zelebrierten Schauertaten und Verwandlungen, diesem göttlichen Mummenschanz? Geht es darum, dem Leser einen Spiegel seiner Zeit vorzuhalten? Steckt dahinter gar ein wenig Moralismus? Ersteres halte ich für tragfähig; letzteres schließe ich aus.


    Versetzen wir uns in die damalige Zeit (so gut es eben geht): Die Welt wandelt sich zu Zeiten des Kaisers Augustus vermutlich schneller als je zuvor. Noch ahnen die Römer nicht, was das Aufkommen des Christentums für ihr Imperium bedeutet, noch sind es „nur“ barbarische Stämme, die an den ausgedehnten Grenzen des Weltreichs für Unruhe sorgen (eine Tatsache, mit der Ovid an seinem Verbannungsort deutlich konfrontiert wurde).


    Der Autor der „Metamorphosen“ scheint wie ein Seismograph zu spüren, dass die Grundfesten der römischen Kultur herausgefordert werden und dass Veränderungen bevorstehen, die weitreichender sein werden als je zuvor. Er hat gewiss nicht aus einer schriftstellerischen Laune heraus das Thema der Verwandlung aus der mythologischen Mottenkiste gezogen. Es scheint vielmehr, als wolle er der staatlichen Propaganda, die ein goldenes Zeitalter herangebrochen glaubte, das Negativbild permanenter Zerstörung, kosmischer Katastrophen und schleichender Dekadenzprozesse entgegensetzen. Dafür waren die Geschichten der Vergangenheit bestens geeignet, waren sie doch politisch unverdächtig und daher für den Autor ungefährlich.


    Ich habe irgendwo gelesen, dass man die „Metamorphosen“ auch psychoanalytisch deuten könne. Nun, das mag sein, aber ich ziehe es vor, diese Interpretationsvariante nicht zu beachten. Denn was dabei herauskommt, kann man sehr deutlich anhand einiger Kafka-“Deutungen“ (die eher Deformationen sind) erfahren. (Aber das gehört nicht mehr zum Thema, sondern in einen eigenen Thread mit dem Titel „Die irrsinnigsten Kafka-Auslegungen).


    Es grüßt


    Tom


  • Ich habe das 6. Buch beendet und ermüde ein wenig aufgrund der thematisch ähnlichen Moritaten über Rachdurst, Mord- und Sinneslust. Habt Ihr schon die „nette Geschichte“ der Schwestern Progne und Philomela gelesen? Was für ein Sadismus, welch ein Horror!


    Ich habe inzwischen das fünfte Buch beendet. Die Geschichte um Proserpina fand ich recht schön. Dazu gibt es auch jede Menge Bilder. Vermutlich weil Proserpina so geheimnisvoll bleibt und gar nicht zu Wort kommt. Man erfährt nur, daß es ihrer Mutter nicht paßt, daß die Tochter nun in der Unterwelt leben muß; aber ob Proserpina das wirklich als so schlimm empfindet? Jedenfalls ist die Geschichte auch eine schöne Erklärung für den Wandel der Jahreszeiten...


    Ich werde nun ein paar Tage Pause einlegen, da ich bis Montag unterwegs bin und kaum zum Lesen kommen werde. Ich beginne dann also nächste Woche mit dem sechsten Buch.


    Viele Grüße
    thopas

  • Zitat von Autor: Sir Thomas« am: Heute um 15:45 »

    Es scheint vielmehr, als wolle er der staatlichen Propaganda, die ein goldenes Zeitalter herangebrochen glaubte, das Negativbild permanenter Zerstörung, kosmischer Katastrophen und schleichender Dekadenzprozesse entgegensetzen.


    Das klingt sehr plausibel!
    Wandel generell ist den Herrschenden ja nicht so geheuer, sie lieben die Stagnation und die Petrifizierung der Verhältnisse. Und nun Ovid mit seinem Hohen Lied der Verwandlung:
    In nova fert animus mutatas dicere formas corpora/ In neue Gestalten verwandelte Wesen will ich besingen!
    Wandel erinnert die Herren auch daran, dass sie so fest auf ihren Stühlen nicht sitzen. Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine… Ich kenne mich (noch) nicht aus im augusteischen Zeitalter, könnte mir aber vorstellen, dass sich Augustus gerne als dem Wandel und dem Fluss der Geschichte enthoben verstanden wissen wollte. Schließlich ließ er sich als Gott verehren.