Es ist vollbracht.
Großartig ist dieses letzte Buch – vor allem die Ausführungen des Pythagoras über das Wesen der Dinge: „Keinem bleibt seine äußre Gestalt, die Verwandlerin aller Dinge, die Natur, läßt aus dem Einen das Andere werden … Nichts in der Welt geht wirklich zugrunde, es wandelt sich nur, erneuert sein Gesicht … Nichts verharrt auf lange im gleichen Zustand ...“ usw. Hier haben wir also endlich den „programmatischen“ Teil, die alles umfassende Klammer.
Ein wenig enttäuscht war ich über die ovidsche Darstellung der Hippolytus-Phädra-Geschichte. Hier ist Phädra die unselige Frevlerin, die lüsterne Versucherin ihres Stiefsohnes und somit die Verantwortliche der Katastrophe, die zur Verbannung Hippolytus' und dessen Tod führt. Racine hat das in seinem Drama „Phèdre“ sehr viel differenzierter dargestellt, in etwa so, wie Thomas Mann die Versuchung des Joseph durch Potiphars Frau beschrieben hat. Vielleicht hat Ovid der Phädra in seinen „Heroides“ mehr Verständnis entgegengebracht. Ich bin durchaus gewillt, es herauszufinden (mit anderen Worten: das zweisprachige Reclamheft ist bestellt; vielleicht wartest Du, Gontscharow, mit Deiner Lektüre auf mich ...).
Recht kurz und knapp wird die unmittelbare Vergangenheit Roms abgehandelt. Die Verschwörung gegen Cäsar (sehr düsteres Szenario!) wird noch recht ausführlich „gewürdigt“, die Regentschaft des Augustus hingegen nur als kurze Pflichtübung abgehandelt.
Und dann dieser Schluß: „Habe vollbracht nun ein Werk, das nicht Jupiters Zorn noch Feuer wird können zerstören … ich werde mich mit dem besseren Teil meines Selbst über die Sterne heben, auf ewig und unzerstörbar wird bleiben mein Name … für alle Jahrhunderte werde im Ruhme ich leben.“ Das ist der würdige und verdiente Triumph des verbannten Dichters über den in der Ferne grollenden Kaiser – und nebenbei eine ganz und gar richtige Prophezeihung.
Zum Schluß zwei Zitate zur antiken Literatur und zu den „Metamorphosen“.
Der Geist der Antike ...
... ist unser Denken selber; ist das, was den europäischen Intellekt geformt hat.
... ist der Mythos unseres europäischen Daseins, die Kreation unserer geistigen Welt ...
... ist kein angehäufter Vorrat, der veralten könnte, sondern eine mit Leben trächtige Geisteswelt in uns selber: unser wahrer innerer Orient, offenes, unverwesliches Geheimnis.
Hugo v. Hofmannsthal
Ovids Metamorphosen – das ist eine Aneinanderreihung von Geschichten, die sicher an Komplexität, geistiger Aussage, zeitgeschichtlicher Relevanz etc. hinter modernen Novellensammlungen zurücksteht, aber formal und im Umgang mit den vorgegebenen Stoffen ist das Werk so „gekonnt“ gemacht, dass es nach wie vor zu den größten der Weltliteratur gehört.
Der Altphilologe Niklas Holzberg
Noch etwas:
Ob es sich bei Ransmayrs Ovid-Bearbeitung um reines Kunsthandwerk und teilweise sogar um Kitsch handelt, kann ich natürlich noch nicht sagen.
Sie nahm ihren Sohn aus der Zeit und legte ihn zurück in ihr Herz. Diesen Satz fand ich bei Literaturschock zitiert als Beispiel für die Wucht der Ransmayr’schen Sprache. Für mich ist das Kitsch! Bei Bedarf erläutere ich, warum.
Den Vorwurf kann ich nachvollziehen. Weitere Erläuterungen zu "Kitsch und Kunst" sind ausdrücklich erwünscht ... :zwinker:
So long!
Tom