August 2010: Erasmus von Rotterdam - Lob der Torheit

  • Hallo Katrin,


    über diese Fragen bin ich auch 'gestolpert'. Sie sind wirklich bemerkenswert - und wahr. Ich glaube, es war Churchill, der von sich behauptete, es wäre ihm eigentlich nie langweilig. Nach seiner Ausführung könnten Menschen, die sich nicht mit sich selbst beschäftigen und bei Laune halten könnten, auch nie und nimmer gute Gesellschafter für andere Menschen abgeben! Ist auch was Wahres dran, oder?


    Was den roten Faden angeht - den Wiki-Artikel habe ich auch gelesen (mehr überflogen). Es erleichtert das Lesen eventuell. Die Frage ist doch aber, ob eine solche Einteilung bei einem Werk wie der Torheit überhaupt sinnvoll ist? Gewollt war sie von Erasmus jedenfalls nicht, darüber bin ich mir ziemlich sicher.


    Noch ein Gedanke beschäftigt mich beim Lesen: der Begriff der 'heiligen Einfalt'.


    Nach meinem Sprachempfinden sind die Begriffe Einfalt und Torheit mit ähnlichen Assoziationen besetzt. Einfalt steht (zumindest für mich) für Dummheit, Unachtsamkeit, langsames Denken. Torheit steht neben Dummheit auch für Überschwang und Unbedachtsamkeit. Warum mich das beschäftigt und was ich damit meine, möchte ich gerne an einem kleinen Beispiel veranschaulichen:


    Im benediktinischen Reformmönchtum des 11. Jh. gab es diverse Äbte verschiedener Klöster, deren Name und Wirken bis heute noch gewisse Strahlkraft besitzen. In der Vita eines dieser Äbte ist in der Beschreibung seiner Person die 'heilige Einfalt' als hervorstechende Eigenschaft und Tugend vermerkt. Dieser Abt war aber alles andere als einfältig oder töricht. Er war ein großartiger Gelehrter, ein Schaffer und Denker seiner Zeit...
    Also war der Begriff 'Einfalt' damals anders besetzt. Einfalt stand für Schlichtheit, Demut, Bescheidenheit, Gottergebenheit - das Gegenteil von Verschlagenheit, Hoffart und Hochmut.


    Erasmus kannte sich in der Weltanschauung des mittelalterlichen Klerus' sehr gut aus. Sie war ihm schließlich oft genug Dorn im Auge. Er wusste, dass die heeren Ideale, die Ende des 11. Jh. noch galten, nur 30 Jahre später reine Lippenbekenntnisse geworden waren. Das gleiche erlebte er sozusagen 'live' am Vorabend der Reformation. Was man sich nicht alles auf die Fahnen schreiben konnte, ohne auch nur im Ansatz daran zu glauben oder sich gar danach zu richten...


    Ich glaube, er wollte mit den Gelehrten seiner Zeit abrechnen, nicht weil sie gebildet und gelehrt waren - schließlich lag ihm die Bildung mehr als alles andere am Herzen - sondern weil sich die Gelehrten was darauf einbildeten und dabei verlernt hatten, über den Tellerrand zu schauen. Man darf auch nicht unterschätzen, wie groß der politische und soziale Einfluss der Bildungselite zu seiner Zeit war. Ein Gelehrter, der nicht wie die früheren Mönche nach der 'heiligen Einfalt' strebte, sondern seine Bildung gegen Ungebildete ausspielte, handelte verschlagen, hoffärtig und hochmütig und konnte dadurch enormen Schaden anrichten.


    Tja, immer wieder schweife ich beim Lesen in derartige Gedankengebilde ab... beschleunigt mein Durchkommen nicht unbedingt :rollen:
    Aber irgendwann schaffe ich es - bestimmt!


    Liebe Grüße
    Memmerle

    Dass Narren und Schelme immer an das glauben, was sie denken, sagen und schreiben, ist im Grunde eine große Tugend  - Asterix

  • Hallo Memmerle,


    Ich bin zwar noch nicht bei der "heiligen Einfalt", aber danke schon mal für deine Erklärung. Das hätte ich nämlich nicht gewusst, dass das früher eine Tugend war. Man lernt immer wieder was dazu.




    über diese Fragen bin ich auch 'gestolpert'. Sie sind wirklich bemerkenswert - und wahr. Ich glaube, es war Churchill, der von sich behauptete, es wäre ihm eigentlich nie langweilig. Nach seiner Ausführung könnten Menschen, die sich nicht mit sich selbst beschäftigen und bei Laune halten könnten, auch nie und nimmer gute Gesellschafter für andere Menschen abgeben! Ist auch was Wahres dran, oder?


    Ich denke Churchill hat hier durchaus recht. Blödes Beispiel: Kindergeburtstag. Wenn man als Kind nie selber Spiele im Garten gespielt und sich eigene Spiele ausgedacht hat, wie soll man dann seine eigenen Kinder motivieren das zu tun? Oder sich welche für sie ausdenken?




    Was den roten Faden angeht - den Wiki-Artikel habe ich auch gelesen (mehr überflogen). Es erleichtert das Lesen eventuell. Die Frage ist doch aber, ob eine solche Einteilung bei einem Werk wie der Torheit überhaupt sinnvoll ist? Gewollt war sie von Erasmus jedenfalls nicht, darüber bin ich mir ziemlich sicher.


    Da er das Buch in kurzer Zeit geschrieben hat, hat er sich darüber wahrscheinlich wirklich keine Gedanken gemacht. Er geht eben von einer Gruppe zur nächsten weiter und wenn ihm noch was einfällt kehrt er zur vorherigen zurück. Ich finde, er schreibt so wie man wirklich frei reden würde. Da kommen ja auch immer wieder Sätze a la "Was ich vorher noch vergessen hatte..." im Text vor.




    Tja, immer wieder schweife ich beim Lesen in derartige Gedankengebilde ab... beschleunigt mein Durchkommen nicht unbedingt :rollen:
    Aber irgendwann schaffe ich es - bestimmt!


    Es gibt ja auch keinen Wettstreit wer als erstes fertig ist. Ich bin mittlerweile bei Seite 82, also bei der Hälfte angelangt, aber ich habe dennoch noch immer das Gefühl, dass ich keinen blassen Schimmer habe was Erasmus mir eigentlich sagen will. Dass alle Toren besser dran sind? Dass die Weisen eigentlich die Idioten sind? Dass ohne die Torheit die Menschheit nicht bestehen könnte?


    Na, ich les mal weiter.


    Katrin

  • Hallo liebe Mitleser,


    ich bin fertig mit dem Buch. Die letzten Seiten sind nur so dahin gerast und ich muss sagen, ich bin froh, dass ich das Werk fertig gelesen habe. Einige Anmerkungen habe ich aber noch:


    Was hat Erasmus eigentlich gegen die Grammatik? Ständig beschwert er sich über sie.


    Von den Theologen hält er anscheinend auch nicht sehr viel, aber er gibt auch gute Gründe an. Immerhin beschwert er sich über schlechte Predigten und darüber dass Mönche und Prieser mit Frauen ins Bett gehen. Von Moral haben die damals auch nicht viel gehalten. Das kreidet er an, und das kann ich gut verstehen. Das bringt mich aber zu einer weiteren Frage: Wieso wurde das Buch nicht sofort auf den Index gesetzt? Immerhin erlaubt er sich für die damalige Zeit eine Menge gegen Mönche, Priester und sogar gegen den Papst. Dass dieses Klientel das Buch auch noch kommentarlos gelesen hat kann ich mir kaum vorstellen.


    Bewundernswert finde ich die Tatsache, dass Eramus das Buch in nur wenigen Tagen geschrieben haben soll. Immerhin ist das Buch, vor allem am Schluss, gespickt mit Zitaten und Kapitelangaben. Wusste er die alle auswendig?


    Katrin

  • Hallo zusammen,


    ich bin erst ca. bei der Hälfte des Buches. Nach der oben erwähnten Gliederung habe ich gerade den Abschnitt "Über Aberglaube, Ablass und Heilige" beendet. Hier zieht die Torheit schon ziemlich über die (Aber)gläubigen her und klagt nebenbei auch noch die Priester an, dieses dumme Spiel zu billigen.



    Wieso wurde das Buch nicht sofort auf den Index gesetzt? Immerhin erlaubt er sich für die damalige Zeit eine Menge gegen Mönche, Priester und sogar gegen den Papst. Dass dieses Klientel das Buch auch noch kommentarlos gelesen hat kann ich mir kaum vorstellen.


    Das ist vermutlich wieder genauso wie schon bei Thomas Morus: Es spricht ja die Torheit hier, nicht Erasmus selbst; muß man die Torheit ernst nehmen? Im Zweifelsfall kann sich Erasmus dahinter verstecken und sagen, daß das ja alles nur Äußerungen der Torheit sind und diese ja dann also eher töricht...



    Was hat Erasmus eigentlich gegen die Grammatik? Ständig beschwert er sich über sie.


    Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es könnte sein, daß er mit "Grammatik" eine der Sieben Freien Künste meint, die damals an den Universitäten gelehrt wurden. Die Grammatik war da die einfachste, grundlegendste Kunst; für die Torheit sozusagen der Anfang allen Übels bei den Wissenschaften...


    Viele Grüße
    thopas


  • Das ist vermutlich wieder genauso wie schon bei Thomas Morus: Es spricht ja die Torheit hier, nicht Erasmus selbst; muß man die Torheit ernst nehmen? Im Zweifelsfall kann sich Erasmus dahinter verstecken und sagen, daß das ja alles nur Äußerungen der Torheit sind und diese ja dann also eher töricht...


    Ja, kann sein. Wobei ich heute gelesen habe, dass Erasmus mit seinem Gesamtwerk auf dem Index stand. Vielleicht finde ich dazu näheres.




    Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es könnte sein, daß er mit "Grammatik" eine der Sieben Freien Künste meint, die damals an den Universitäten gelehrt wurden. Die Grammatik war da die einfachste, grundlegendste Kunst; für die Torheit sozusagen der Anfang allen Übels bei den Wissenschaften...


    Danke, das habe ich noch nicht gewusst. Klingt aber sehr plausibel.


    Katrin

  • Danke für Eure Hinweise bezüglich "Grammatik" und auch der Tatsache, dass Erasmus mit seinem Gesamtwerk auf dem Index stand. Das habe ich mich auch schon gefragt, warum das so hingenommen wurde.


    Ich glaube immer noch, dass Erasmus nichts gegen die Bildung an sich hatte - im Gegenteil - nur gegen die "EINbildung gebildet zu sein". Was nutzt es, wenn man gelehrt und gebildet ist (oder vorgibt es zu sein), aber seine Bildung nicht sinnvoll einsetzt und sich im Gegenteil auch noch törichter verhält als die Ungebildeten?
    Ich stelle mir die ganze Zeit vor, wer von seinen Zeitgenossen das Werk gelesen haben könnte - die "Törichten", also das ungebildete Volk war es nicht, von denen konnte so gut wie keiner lesen, sich geschweige denn ein Buch leisten. Also richtete es sich ausschließlich an diejenigen, die sich dann auch wieder in Morias Kritik wiederfinden. Entweder haben die es nicht verstanden oder nicht ernstgenommen... oder beides?


    lg Memmerle

    Dass Narren und Schelme immer an das glauben, was sie denken, sagen und schreiben, ist im Grunde eine große Tugend  - Asterix


  • und auch der Tatsache, dass Erasmus mit seinem Gesamtwerk auf dem Index stand. Das habe ich mich auch schon gefragt, warum das so hingenommen wurde.


    Ich habe das mal genauer nachgelesen. Der erste tatsächlich publizierte päpstliche Index stammt aus dem Jahr 1559. Er ist in drei Klassen unterteilt. In der ersten Klasse stehen Autoren, die "mehr als alle übrigen und gleichsam ex professo geirrt haben und darum mit ihren sämtlichen Schriften, worüber auch immer sie handeln mögen, grundsätzlich verboten sind". Da findet sich unter "L" zum Beispiel Luther und unter "E" Erasmus von Rotterdam. Insgesamt stehen dort 603 Namen ohne eine Angabe von Werken. Die Verschärfung dabei: Auch alle künftig erscheinenden Werke stehen sofort auf dem Index, auch wenn sie nichts mit Religion zu tun haben.


    In Klasse zwei stehen Schriftsteller von denen einige Werke verworfen werden, weil sie zur "Ketzerei oder zur zauberischer Gottlosigkeit verlocken". 126 Titel von 117 Autoren werden dort gelistet, unter anderem auch ein Werk von Papst Pius II (1458 - 1464) über das Basler Reformkonzil.


    In der dritten Klasse stehen Werke anonymer Autoren. Über 332 finden sich hier. Zum Beispiel unter "G" die "Geografia Universalis", also auch Werke mit Weltkarten oder Bücher zur Wahrsagerei.


    Was ich zudem gelesen habe: Viele wussten gar nicht, dass ihre Werke auf dem Index stehen, weil es nur einen Aushang an den drei römischen Hauptkirchen gab. Und bis 1870 wurden die Dekrete auch im Kleinformat an kirchliche Stellen in der ganzen Welt versandt. Meistens erfuhren es die Autoren durch Zufall. Sollten sie wieder gelöscht werden, hat es gar keiner erfahren, denn dazu gab es nicht mal mehr einen Aushang.


    Es gibt aber auch Autoren, die sich freuten auf dem Index zu stehen, wie etwa Ferdinand Gregorovius. Er wurde mit "Meine Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter" auf den Index gesetzt. 1874 schrieb er in sein Tagebuch: "Mein Werk ist vollendet und breitet sich in der Welt aus; der Papst macht ihm jetzt Reklame".


    Katrin

  • Danke für die Information zum päpstlichen Index, Katrin.


    Wenn der erste Index 1559 erstellt wurde, dann war das ja schon nach dem Tod von Erasmus. Dann hat ihn das also erstmal gar nicht betroffen. Die Frage ist, was es eigentlich genau geheißen hat, auf dem Index zu stehen? Hatte es Konsequenzen für den Autor, oder nur für die Leser/Besitzer solcher indizierten Bücher? Was drohte ihnen, Exkommunikation vermutlich, oder noch schlimmeres? In der Wikipedia habe ich mir den Artikel zum Index Librorum Prohibitorum durchgelesen, der ist allerdings nicht so ausführlich. Wenn man sich aber anschaut, welche Autoren alle auf dem Index standen, dann kann es ja doch keine so großen Konsequenzen gehabt haben (so ziemlich alle bedeutenden englischen Autoren des 17./18. Jhds. sind da drauf...).


    Nach dem Zitat von Ferdinand Gregorovius zu urteilen, das du erwähnt hast, ist es dann ja eher Reklame, wenn man auf dem Index steht :zwinker:.


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo thopas,


    als Strafe drohte Exkommunikation. Es wurden aber nicht nur Autoren bestraft, sondern auch Druckereien, die diese Werke gedruckt haben. Inwieweit diese Strafe allerdings tatsächlich in der Praxis angewendet wurde, darüber finde ich derzeit nichts.


    Katrin

  • Herzlichen Dank Jaqui und thopas fürs Recherchieren!


    Liebe Grüße
    Memmerle

    Dass Narren und Schelme immer an das glauben, was sie denken, sagen und schreiben, ist im Grunde eine große Tugend  - Asterix