Mai 2010: H.v.Doderer - Die Strudlhofstiege

  • Hallo!


    da hab ich etwas ungewollt angestoßen. Nein, die vierfache Wurzel vom Grunde führt nicht (oder kaum) zu den Verbindungen Schopenhauers mit indischer Philosophie, sondern ist eine epistemologische Abhandlung über das, was wir (seiner Meinung nach) wissen können. Bzw. wie dieses Wissen zu gewinnen wäre. Das Ganze ist eine Art Unterbau für das Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung" und Schopenhauer definiert für sich, was denn er für einen zureichenden Grund hält. Worüber philosophisch Einigung zu erzielen noch nicht gelungen ist.


    Keinesfalls aber ist diese Schrift in irgendeiner Form notwendig, um die Strudlhofstiege zu verstehen (oder auch nur besser zu verstehen). Vielmehr lässt eine solche Form der philosophischen Lektüre über das in Frage stehende Paar Aufschlüsse zu (da man sich in trauter Zweisamkeit zumeist anderes zur gefälligen Erbauung zu Gemüte führt ;)).


    Grüße


    s.


    Nachsatz: Wer da tatsächlich meint, seiner Herzallerliebsten eine solche Lektüre zumuten zu können sei gewarnt: Solches trifft nicht immer auf Zustimmung, im Gegenteil - man sollte ein an Unverständnis grenzendes Erstaunen gewärtigen, wenn man den romantischen Abend mit "Plato der göttliche und der erstaunliche Kant vereinigen ihre nachdrucksvollen Stimmen in der Anempfehlung einer Regel zur Methode alles Philosophierens, ja alles Wissens überhaupt. Man soll, sagen sie, zweien Gesetzen, dem der Homogeneität und dem der Spezifikation, auf gleiche Weise, nicht aber dem einen, zum Nachteil des andern, Genüge leisten" eröffnet. Vielleicht aber ist es dennoch ein Nagelprobe, denn wenn das Objekt der Begierde trotz solcher intellektueller, der Jugend geschuldeter Kraftmeierei nicht stante pede den heimeligen Ort einer prospektiven Annäherung verlässt, kann man mit Fug und Recht von der Annahme ausgehen, dass man gemocht wird (frei zitiert aus den scheichsbeutelschen Erinnerungen).


  • Hallo scheichsbeutel,


    ich bedanke mich für deine weiteren Erläuterungen. Ist schon interessant, wohin ein Buch einen führen kann. :-)
    Gerne wäre ich imstande, solch einen Nachsatz zustande zu bringen, wie du ihn gebracht hast, doch das würde mir nie gelingen. Doch ich lese deine scheichsbeutelschen Erinnerungen sehr gerne.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen,


    Der humorvolle Doderer:
    Seine Äußerungen zum Volkslied haben mich zum Schmunzeln gebracht;über die Mühle die nicht klappert -


    Das ist nur eine Erfindung sangesfroher Gesellen, bei denen ich für mein Teil keineswegs niederlassen möchte, und je mehr Lieder sie haben um so weniger.


    oder über den Müller -


    Daher stimmt's bei ihm mit der Lust nicht (was nicht heißen soll, daß er gar irgendwie verkehrt sei), mit des Müllers Lust stimmt's nicht, nämlich mit dem Wandern. Davon kann hier in keiner Weise die Rede sein....


    Jemand hat hier bereits über die Naturbeschreibungen geschrieben. Ich fand sie in Bezug auf René voller Reflexionen.


    Edit:
    Die Begegnung mit dem Lindwurm (was für ein schönes altes Wort, so mystisch, wie das Einhorn) scheint bei René, wie auch bei Melzer die Haselnatter, ein Schlüsselerlebnis gewesen zu sein.


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()


  • Edit:
    Die Begegnung mit dem Lindwurm (was für ein schönes altes Wort, so mystisch, wie das Einhorn) scheint bei René, wie auch bei Melzer die Haselnatter, ein Schlüsselerlebnis gewesen zu sein.


    Liebe Maria,


    die Schlangenthematik ist mir auch aufgefallen und auch, dass die Schlange immer ein Auslöser für Reflexionen ist, sowohl bei Melzer als auch bei Rene. In der Doderer-Monographie steht dazu folgendes:


    "Auffälliger noch ist das Drachen-Motiv, das in fast allen Werken Doderers auftaucht. Die alten Drachen leben! hatte Doderer anlässlich der Entdeckung von Großwaranen auf der Insel Komodo im Jahre 1928 geschrieben und seitdem war er "Drakontophiler". ... Im "Umweg" erblickt Manuel Cuendias einen Tatzelwurm, später erscheinen die Reptilien dann nur noch als Ringelnattern oder Molche."



    LG Yvonne

  • Hallo zusammen !


    Ich konnte leider in dieser Woche nicht soviel lesen und bin daher nur bis S.225 gekommen.


    Der zweite Teil beginnt ja mit einer längeren Naturbeschreibung, als Erinnerung von René konzipiert. Oder sind es die Erinnerungen von Doderer, die da durchscheinen ? Mir ist aufgefallen, dass die Beschreibungen nur so von Adjektiven strotzen - grün, erdig, feucht ist der Eindruck, der mir davon geblieben ist.


    Mit der Begegnung des Tropidonotus wird auch ein Zusammenhang zwischen Melzer und René hergestellt. Beide sind auf der Suche nach etwas, vielleicht nach dem, was Doderer als Menschwerdung, als die Erkenntnis der Wahrheit bezeichnet ? Für mich hängen beide irgendwie zusammen.


    Dann übernimmt Geyrenhoff eine Weile als Erzähler, der Stil ist anders, mehr reporterhaft oder auch lässig. Im Gegensatz zu dem grün-feuchten Wald sehe ich jetzt auch das weiß-rot des Tennisplatzes vor mir, sonnig und grell. Aber das ist der Platz, wo die Welt, die Gesellschaft sich tummelt.


    Im abendlichen Gespräch, der Pyjama-Party fallen interessante Bemerkungen: über die Nation als eine Idee, über kleine, ausschlaggebende Ereignisse, die zu weitreichenden Handlungen führen können (Editha und ihre Zwillingsschwester) und auch über das Doppelgängermotiv Der Doppelgänger aber - das ist das Schlechteste, das Unterste, das Unbeherrschteste in uns, worüber wir die Gewalt verloren haben.


    Immer wieder überlege ich, wie sich das mit der Menschwerdung oder dem Verstehen der Welt und das Bewußtsein seiner selbst, im Doderer-ABC wird auch der Begriff Apperzeption gebraucht, verhält. Wichtig dabei sind sicherlich die Erinnerungen, die auch bei Paula Schachl thematisiert werden. Denn Paula strebt danach, sich bestimmte Erinnerungen zu schaffen und zu erhalten: ... sondern mit Sorgfalt, ja Andacht sammelte sie hier einen in der Tiefe gestapelten Vorrat zarter, belebender Stoffe und Essenzen, mit welchem vielleicht durch ein ganzes Leben dereinst sie auszulangen hatte;


    Leider bin ich philosophisch nicht so sehr bewandert, um das eindeutig irgendwo zuordnen zu können. Ich bin aber gespannt, welches Bild Doderer am Ende des Romans in Bezug auf Philosophie zurücklässt.




    Gruß von Steffi

  • Hallo Zusammen!


    Ich folge mit Vergnügung Eure Kommentare über Doderers Buch. Hallo zusammen !


    Leider konnte ich in der letzten Zeit fast nichts lesen und bin daher immer nur bis S.90 gekommen. Diese Mangel der Zeit ärgert mich sehr, aber die Arbeit hat Vorrang ... :grmpf:


    Ich möchte nur sagen, trotz allem, bin ich noch dabei ...


    Ein schönes Pfingstenswochenende wünsche ich Euch!


    Gruß
    wanderer

  • Hallo zusammen,


    Ich bin auf S. 230.
    Die Erwähnung, dass Editha einen Zwilling hat, finde ich bedeutsam. Es ist nicht das erste Mal, dass im Buch Zwillinge genannt werden, so ganz nebenbei erwähnte Doderer bereits zweimal die Miserowsky'schen Zwillinge. Eigentlich passt ein Zwilling doch gut ins Doderer'sche Konzept; die Spiegelungen in diversen Bereichen haben wir nun schon öfters entdeckt.





    Ich weiß auch nicht, wie lange ich meine Drittlektüre noch hinauszögern kann ...


    CK



    du kannst es nicht mehr hinauszögern, du kannst es nicht mehr hinauszögern, du kannst es .... *hüstel* :breitgrins:




    Zitat von "wanderer"

    Ich möchte nur sagen, trotz allem, bin ich noch dabei ...


    Zwischenmeldungen finde ich immer sehr hilfreich und verbindet, das finde ich wichtig für eine Leserunde :winken:



    ein schönes Pfingstwochenende wünscht euch
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo.


    Ich bin auf Seite 408 angelangt, und begebe mich nun mit meinen Doderer ins Pfingstwochenende :winken:



    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"



  • Hallo Anita,


    ich habe bei den Gesprächen in diesem Gasthaus darauf geachtet, wie auf mich diese Szenen wirken. Es ging um Tratsch und Heiratsspekulationen.
    Somit war der Gesprächsstoff leicht und urlaubsmäßig. Ich fand es nützlich für den Leser, dass es einen längeren Dialog gab, der so manches von den beteiligten Personen preis gab. Soviele Dialoge gabs ja auf den ersten 230 Seiten nicht. Somit fand ich diesen Einschub wichtig.


    wie sind denn deine weiteren Eindrücke? Hast du dich etwas versöhnt mit der Doderer'schen Gesellschaft?


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Maria, Hallo Zusammen.



    wie sind denn deine weiteren Eindrücke? Hast du dich etwas versöhnt mit der Doderer'schen Gesellschaft?


    Diese sehr oberflächliche, dekadente Gesellschaftsschicht, gab es in Grunde genommen immer, extremer fiel sie auf, wenn durch Inflation, Wirtschaftskrisen und anderen politischen Lagen, die unteren Schichten arg zu knabsen hatten. Persönlich kann ich mich nie mit dieser dekadenten Haltung anfreunden :zwinker:


    Wenn dann im weiteren Verlauf der Skandal auf der Stiege oder Briefchen schreiben, hin oder her, betont im Mittelpunkt steht, dann erinnert das natürlich an Austen, doch zwischen den Zeilen versöhnt mich Doderer in der Tat. Das ist eben nicht das wirkliche Leben, da gibt es noch andere Ebenen hinter dem Spiegel, ob sie ihn nun liebt oder nicht, nicht das ist die Frage, sondern warum diese Frage überhaupt in Erwägung gezogen wird.


    Ich hoffe, ich habe durch mein typisches Kauderwelsch nichts vorweg genommen, sondern rede in Rätsel, denn bei so wenig Handlung wäre es traurig :zwinker:


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • [quote author=JMaria ]

    Zitat von "wanderer"

    Ich möchte nur sagen, trotz allem, bin ich noch dabei ...


    Zwischenmeldungen finde ich immer sehr hilfreich und verbindet, das finde ich wichtig für eine Leserunde :winken:[/quote]


    Hallo Maria,


    Du hast Recht: Die Zwischenmeldung ist für mich sehr hilfreich und verbindet. Danke Dir für dein Feedback. :smile:


    Schönes Wochenende noch einmal.
    wanderer

  • ich habe bei den Gesprächen in diesem Gasthaus darauf geachtet, wie auf mich diese Szenen wirken. Es ging um Tratsch und Heiratsspekulationen.
    Somit war der Gesprächsstoff leicht und urlaubsmäßig.


    Meinst du diese Pyjama-Party ? Da ging es in Nebensätzen auch um Politik und verschiedene Motive, die im Roman auftauchen z.B. Doppelgänger und die Beleuchtung der handelnden Personen aus anderer Seite. Diese Spiegelungen und Verfremdungen finden sich ja immer wieder und mir machen sie besonders Spaß.


    Das ist eben nicht das wirkliche Leben, da gibt es noch andere Ebenen hinter dem Spiegel, ob sie ihn nun liebt oder nicht, nicht das ist die Frage, sondern warum diese Frage überhaupt in Erwägung gezogen wird.


    Das finde ich ebenfalls sehr wichtig und ich glaube, man sollte sich durch die äußere Form z.B. auch das Vornewegnehmen von beutenden Ereignissen nicht irritieren lassen.


    @wanderer: macht ja nichts, Hauptsache du bist noch dabei und irgendwann hast du wieder mehr Zeit !



    Gruß von Steffi

  • Meinst du diese Pyjama-Party ? Da ging es in Nebensätzen auch um Politik und verschiedene Motive, die im Roman auftauchen z.B. Doppelgänger und die Beleuchtung der handelnden Personen aus anderer Seite. Diese Spiegelungen und Verfremdungen finden sich ja immer wieder und mir machen sie besonders Spaß.



    Ja, ich meinte die Pyjama-Party. Unbedingt sollte man noch hinzufügen, dass es nicht nur um leichte Gespräche ging. Danke fürs Erwähnen. Doderer lässt keine Situation aus um die Spiegelungen unterzubringen, auch in diesen Dialogen. Ich habe in diesen Zeilen mehr nach der "Verschmocktheit" (tolles Wort) gesucht.



    Zitat

    Denn Paula strebt danach, sich bestimmte Erinnerungen zu schaffen und zu erhalten: ... sondern mit Sorgfalt, ja Andacht sammelte sie hier einen in der Tiefe gestapelten Vorrat zarter, belebender Stoffe und Essenzen, mit welchem vielleicht durch ein ganzes Leben dereinst sie auszulangen hatte;


    was für ein schöner weiser Satz.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo miteinander!


    Ich bin jetzt im dritten Teil, auf Seite 424. Mir sind leider wieder Übersetzungsarbeiten dazwischen geraten, die mich am regelmäßigen Schreiben hindern. In ein paar Stunden muss ich für zwei Wochen nach Deutschland fliegen, was ich zu Beginn der LR noch nicht wusste. Aber Ihr lest ja erfreulicherweise mit bedächtigem Genuss, so dass ich vielleicht noch rechtzeitig vor Ende der LR wieder zurück bin.


    die Schlangenthematik ist mir auch aufgefallen und auch, dass die Schlange immer ein Auslöser für Reflexionen ist, sowohl bei Melzer als auch bei Rene.


    Die Begegnung mit der Schlange scheint in der Tat bei beiden eine Art Bewusstwerdungsprozess in Gang zu setzen, Renè spricht in einem Brief an Geyernhoff später vom „Beginn von etwas Neuem“. Ein wenig irritieren mich diese Schlangen schon. Sie sind doch sehr … symbolisch. Eine kleine Schlange für Melzer, eine große für René Stangeler. Hat Stangeler es nötiger? Oder entwickelt er das höhere oder tiefere Bewusstsein? Ich bin kein großer Freund solcher Bedeutsamkeiten.


    Nach wie vor lese ich den Roman mit Erstaunen und Vergnügen. Abgesehen vom Erzähltempo der „Stiege“, das im Vergleich zur „Recherche“ geradezu rasant zu nennen ist, erinnert auch mich einiges an Proust. Die Bedeutung der Nebensächlichkeiten zum Beispiel. Kurze Sinneseindrücke, ein Bild, ein Geruch, ein Geschmack, können Assoziationsketten auslösen und den Ausschlag geben für bestimmte Handlungen und Entwicklungen. Auch wie Doderer das Wesen der Liebe beschreibt, ist Prousts Auffassung sehr ähnlich.
    Was ich sehr bewundere, ist die scharfsinnige Beschreibung psychologischer Vorgänge. Die Szene mit Ingrid Schmeller und Semski auf der Strudlhoftreppe zum Beispiel. Wie Asta Stangeler da plötzlich dämmert, dass das ihr Verhalten und das ihrer Geschwister, dieses Aufbäumen gegen den Vater, die Lügen und Heimlichkeiten eigentlich eine Schwäche sind, während Ingrid Schmeller, die wie eine „geknickte Pflanze“ ihrem Vater folgt, die Stärkere ist. In herkömmliche Romanen würde das genau umgekehrt gewertet werden. Oder das Gespräch zwischen dem kleinen E.P. und Melzer in der Kneipe (S. 333 f.) Dieses Aneinandervorbeireden, das falsche Einschätzen des Anderen, den man innerlich für geordneter hält als sich selbst, das Herzausschütten als reine Ablenkung vom wunden Punkt bei sich selbst, das ist wirklich ganz genau beobachtet und großartig beschrieben. Ich stelle immer wieder fest, dass gute Schriftsteller nicht nur präzise Beobachter sind, sie sind vor allem bewusste Beobachter. Die Fähigkeit, sich literarisch ausdrücken zu können, beeinflusst offenbar die Intensität und die Bewusstheit des Schauens.


    Der ganze Roman scheint in verschiedenen Ebenen zu spielen, in innen und außen, Wahrnehmungen und Wirklichkeit. Am Ende des zweiten Teil löst sich m. M. n. auch dieses ganze Bruchstückhafte auf, dieser ganze Scherbenhaufen verteilt sich mehr in zwei Säulen :smile: (Oder aber zum Ende eines Teils lässt Doderer den Leser bewusst aufatmen :zwinker:


    Bei Doderer sind Innen- und Außenwelt untrennbar, eine geht in die andere über, daher auch der schnelle Perspektivenwechsel zwischen Innen und Außen. Er zeigt eine unglaubliche Könnerschaft darin, innere Vorgänge mit Hilfe von Metaphern und Vergleichen sprachlich zu fassen. Die Metaphern sind zum Teil sehr breit ausgeführt, oft folgt Bild auf Bild, manche sind sehr stimmungsvoll, andere wieder humoristisch oder flapsig, aber immer sind sie originell, ungewöhnlich und treffend. Einprägsam sind sie auch. Wenn mir in Zukunft irgendwelche romantische Vorstellungen durch den Kopf gehen, werde ich wahrscheinlich sofort an ranzige Leberwurst denken (S.287), aber das ist für eine unvoreingenommene Sicht der Welt – und ich glaube, das meint Apperzeption – nicht das Schlechteste.


    Als bruchstückhaft oder als Scherbenhaufen empfinde ich den Roman nicht, ich würde die Darstellungsweise eher als kaleidoskopartig bezeichnen. Es ist ja nicht so, dass Doderer aus vielen Einzelteilen ein Ganzes zusammensetzen will. Das Ganze – die Welt und ihr fragwürdiger Bestand – ist bereits vorgegeben. Doderer breitet die vielen Einzelheiten vor uns aus, das weite Spektrum an inneren und äußeren Lebenserscheinungen. Es geht ihm augenscheinlich nicht um zielgerichtete Linearität, nicht um kontinuierliche Lebensläufe oder um Handlungen, die auf einen dramatischen Höhepunkt zustreben, was notwendigerweise immer auch eine Verengung des Blickwinkels auf das Geschehen hin nach sich zieht. Er schildert den epischen Fluss des Lebens mit seinen unzähligen Variationen, Nebensächlichkeiten und Abschweifungen. Diese Lebensfülle kommt nicht nur im Inhalt, sondern auch in der ebenso abwechslungsreichen wie präzisen Sprache und ín der Form des Romans zum Ausdruck. Eine stringente Handlung oder dramatische Entwicklungen vermisse ich gar nicht. Für meinen Geschmack ist in der „Strudlhofstiege“ genug los.


    Da Anita uns ermahnt hat, ein wenig kritischer zu sein, will ich ein leises Unbehagen eingestehen bei einer Stelle, die wohl eine zentrale Passage des Romans bildet. Es geht um den Abschnitt S. 295 bis 333. Ihr seid noch nicht soweit, deshalb nur einige Stichpunkte. Melzer erlebt einen „Vorbeisturz“ an sich selbst, er erkennt, dass die innere Mechanik eines Menschen ganz unabhängig von seinen Absichten funktioniert, später wird das Thema in René Stangelers Worten von der Selbstbiographie wieder aufgenommen, schließlich kommt Doderer auf die Bedeutung der Strudlhofstiege zu sprechen. So ganz von fern erinnert mich diese Stelle an das „Schnee“-Kapitel im „Zauberberg“, wo Thomas Mann auf furchtbar pädagogisch-didaktische Weise und in aller Deutlichkeit dem Leser vor Augen führt, worum es ihm in seinem Roman geht. Bei Doderer ist das viel subtiler gemacht, nicht so holzhammermäßig wie bei Thomas Mann. Und doch – auch Doderer gibt dem Leser hier einige kräftige Deutungshilfen. Aber das ist nur eine vorläufige Einschätzung, die Szene wird man erst im Gesammtzusammenhang des Romans richtig beurteilen können. Außerdem ist das natürlich auch eine Geschmackssache. Mag sein, dass einem anderen Leser gerade diese Stelle besonders gut gefällt.


    Diese sehr oberflächliche, dekadente Gesellschaftsschicht,


    Ist unsere Gesellschaft heute wirklich so viel tiefgründiger, so viel vitaler, so viel moralischer?


    "Verschmocktheit" (tolles Wort)


    Stimmt! Ein anderes tolles Wort: uterale Räson. :finger:


    So, jetzt habe ich für zwei Wochen im Voraus geschrieben. Nun hoffe ich, dass mich die Lektüre der „Strudelhofstiege“ von den merkwürdig rumpelnden Geräuschen in den Triebwerken des Flugzeugs ablenken wird. Ich wünsche Euch schöne Pfingsttage!


    Gruß
    Anna

  • Hallo Anna. Hallo Zusammen.


    Nur kurz zu deiner Frage „Ist unsere Gesellschaft heute wirklich so viel tiefgründiger, so viel vitaler, so viel moralischer?“ Natürlich nicht, das hatte ich auch schon geschrieben, dass dieses Dekadente zu manchen Zeiten nur extrem auffällt, nämlich dann, wenn es einer Gesellschaft nicht allzu gut geht.


    Zitat von “Anna“

    Da Anita uns ermahnt hat, ein wenig kritischer zu sein, will ich ein leises Unbehagen eingestehen bei einer Stelle, die wohl eine zentrale Passage des Romans bildet. Es geht um den Abschnitt S. 295 bis 333.


    Ich habe mir dieses Kapitel gleich nochmal angesehen, da stehen in meiner Ausgabe lauter Fragezeichen am Rand. Allerdings mag ich diesen „Denkschlaf“.
    Womit ich meine Schwierigkeiten bei Doderer habe, ist, dass ich nicht genau weiß wie weit Doderer (oder vielleicht auch Schopenhauer) in Metaebenen eintaucht. Ich persönlich tauche da noch über die Ebene des Seins ein, zur wirklichen Transzendenz. So wie ich jetzt recherchiert habe, bleibt Schopenhauer im Sein stecken … Deshalb weiß ich nie wie weit ich wirklich denken darf …


    Zitat von “Anna“

    Was ich sehr bewundere, ist die scharfsinnige Beschreibung psychologischer Vorgänge. Die Szene mit Ingrid Schmeller und Semski auf der Strudlhoftreppe zum Beispiel. Wie Asta Stangeler da plötzlich dämmert, dass das ihr Verhalten und das ihrer Geschwister, dieses Aufbäumen gegen den Vater, die Lügen und Heimlichkeiten eigentlich eine Schwäche sind, während Ingrid Schmeller, die wie eine „geknickte Pflanze“ ihrem Vater folgt, die Stärkere ist. In herkömmliche Romanen würde das genau umgekehrt gewertet werden.


    Gutes Beispiel. Hier wird uns ein Dualismus präsentiert, wir denken immer das eine oder das andere. Also man kann hinnehmen oder sich dagegen wehren, dass es darüber hinaus auch die Möglichkeit gibt, dass beide Entscheidungen gleichzeitig existieren könnten, wird weites gehend unterschlagen. Diese Ebene ist die Findung im „Sein. Aber dann gibt es noch eine andere Ebene, in der man nur als neutraler Zuschauer betrachtet, über dem Sein hinaus, jenseits vom Hinnehmen oder Wehren. Und das sind wir hier als Leser, diese Möglichkeit liefert uns Doderer.


    So das reicht jetzt erst einmal, auf deine Gedanken komme ich aber zurück.


    LG
    Anita


    Edit 1: Was alles so viel heißt wie, soll ich das Werk nun analysieren oder lediglich betrachten :winken:


    Edit 2: Nein, Edit 1 stimmt nicht, meine Antwort war schon goldrichtig, ich war nur sehr unsicher. Schopenhauer hat sehr wohl Meister Eckhart (Pfarres Wäldchen) mit Buddha vereinbart, und den Schlüssel findet man auf den Seiten 428 bis 29, das Vehikel hat sich verraten, "im Buddhismus betrachtet man die Sexualität als Vehikel des >Erwachens<" und das war mir geläufig. Nur mit den Begriffen von Transzendenz (mir geläufig) und Tranzendental muss ich mich noch anfreunden :smile:

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in &quot;Also sprach Zarathustra&quot;

    Einmal editiert, zuletzt von Anita ()

  • Hallo zusammen,




    Nach wie vor lese ich den Roman mit Erstaunen und Vergnügen. Abgesehen vom Erzähltempo der „Stiege“, das im Vergleich zur „Recherche“ geradezu rasant zu nennen ist, erinnert auch mich einiges an Proust. Die Bedeutung der Nebensächlichkeiten zum Beispiel. Kurze Sinneseindrücke, ein Bild, ein Geruch, ein Geschmack, können Assoziationsketten auslösen und den Ausschlag geben für bestimmte Handlungen und Entwicklungen. Auch wie Doderer das Wesen der Liebe beschreibt, ist Prousts Auffassung sehr ähnlich. ...



    Sinneseindrücke, das fiel mir ebenfalls auf und erinnerte mich an Proust:


    Beispiel:
    Gerüche sind oft wie platzende Blasen der Erinnerung aus der Tiefe der Zeiten, wenn sie uns unvermutet anfliegen und man kaum recht weiß, ob von innen oder von außen. Den Geruch einer Person modifizieren: das geht schon an's Leben.


    ein Zitat von vielen. Ich bin auf S. 313.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Ihr


    Bin zwar etwas ruhig... aber ich bin auch noch dabei und meine Zurückhaltung ist nicht einem "Mangel an Feuer" (S.17) geschuldet. Jetzt über Pfingsten mit dem dritten teil fertig geworden, also auf Seite 558.


    Das Buch gefällt mir ausserordentlich, aber...


    ... wäre ich nicht in einer Leserunde (wenn auch eher schweigend, aber doch Eure Beiträge verfolgend), hätte ich mir die 900 Seiten in leicht bekömmlichere Häppchen unterteilt und wohl nach den einzelnen Teile eine Pause eingelegt. Es ist ja nicht so, dass das Buch von der Spannung lebt, eine Pause wäre also durchaus möglich, ohne dass man den Handlungsfaden verlöre.


    Es ist ein wenig wie mit allen schönen Dingen, im Übergemass genossen, verlieren sie etwas an Wert. Eine wunderbare Formulierung folgt der nächsten, wenn ich mir anschaue, was ich mir alles angestrichen habe, dann sehen ich eine einzige lange Markierung durch die 500 Seiten gehen. Deshalb bräuchte man eigentlich etwas schlechtere Lektüre zwischendurch, um die Ausserordentlichkeit wieder schätzen zu können.


    Bin übrigens Melzer-Fan (und Asta). Er ist so etwas der ruhende Pol in dem "Dorf" Wien, wo jeder jeden kennt und man sich ständig über den Weg läuft.


    Viele Grüsse
    Andi

  • Schön Andisonne, dass du auch mitschreibst :smile:



    ... wäre ich nicht in einer Leserunde (wenn auch eher schweigend, aber doch Eure Beiträge verfolgend), hätte ich mir die 900 Seiten in leicht bekömmlichere Häppchen unterteilt und wohl nach den einzelnen Teile eine Pause eingelegt.


    Ich genieße das Buch auch in Häppchen, bin auf Seite 504. Mir würde aber eine längere Pause nicht gut tun (habe da schon meine Bedenken, da ich vom 12. bis 18. im Urlaub bin, und nicht zum Lesen komme). Verteilt über den Tag lese ich meine kleinen Portionen, und mittlerweile ist mein Notizheft zum Buch ziemlich beschrieben. In diesem blätter ich ständig, wer war das, wann war das und wer mit wem :breitgrins:


    Bin übrigens Melzer-Fan (und Asta). Er ist so etwas der ruhende Pol in dem "Dorf" Wien, wo jeder jeden kennt und man sich ständig über den Weg läuft.


    Prima, ich bin da bisher mehr ein René-Typ, hochinteressant ist dieser Schleichsbeutel :zwinker: :breitgrins:


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in &quot;Also sprach Zarathustra&quot;