Mai 2010: H.v.Doderer - Die Strudlhofstiege

  • Hallo zusammen!


    Ich lese den Roman mit wachsender Begeisterung und kann mich nur schwer von ihm losreißen. Mich verblüfft, wie meisterhaft er komponiert ist, mit welcher Souveränität Doderer die enorme Stofffülle handhabt und die verschiedenen Handlungsstränge, die Zeitsprünge, die vielfältigen Beziehungen zwischen seinen zahlreichen Figuren zu einem dichten Gebilde verwebt. Zum einen ist er ein unglaublich witziger und ironischer Fabulierer, der in einer üppigen, überbordenden, vor Metaphern nur so strotzenden Sprache erzählt, zum anderen erweist er sich als ein scharfer, analytischer Beobachter menschlicher Eigenarten und Verhaltensweisen. Seine psychologischen Bilder, diese detaillierten Darstellungen der „Seelenmischungen“ seiner Figuren machen für mich seine größte Stärke aus.
    Zum Beispiel Mary K: Eine ehrbare Frau, die auf ihre Ehrbarkeit stolz ist, sitzt eines Tages zwischen ihren Möbeln, die hübsch und poliert wie Mary selbst sind und plötzlich tut sich vor ihr ein Vakuum an Zeit auf. Sie spürt die „Sprödigkeit des Lebens“, Leutnant Melzer spukt ihr im Kopf herum, sie spielt mit dem Gedanken, die Einladung Negrias zu einer Bootspartie anzunehmen, sie weiß natürlich, was er von ihr will. Mit der Wahl des Tennisdress lässt sie sich die Option Negria oder Ehemann noch offen, das Ausweichen vor der Straßenbahn bringt ihren Mut zum Erliegen, gibt den Ausschlag für den Ehemann, dann ihre Unzufriedenheit und ihr Ärger, den sie nach dem verpatzten Spiel an ihrem Mann auslässt, der, den Grund dafür nicht ahnend, seiner Frau durch das alte, lange nicht mehr gespielte „Streitspiel“ sozusagen in das Gleis der Ehrbarkeit zurück hilft und ihr inneres Gleichgewicht wiederherstellt, wofür sie ihm dankbar ist. Das ist so tiefblickend und nachvollziehbar, einfach großartig beschrieben.
    Dazu kommt noch Doderers Fähigkeit, sehr intensive Stimmungsbilder und atmosphärische Dichte erzeugen zu können, die stark auf den Leser wirken. Man denke nur an die Eisenbahnfahrt Melzers und die eigenartige Stimmung, die ihn im Coupé umfängt.
    Der Roman ist beeindruckend und fesselnd, dabei zugleich ungeheuer unterhaltsam und amüsant, ich habe schon lange keinen so großen Spaß mehr beim Lesen gehabt.


    Die wechselnde Sprache, die hat mit den Figuren zu tun, oder? Für mich charakterisiert die Sprache die Figuren, also wie sie sich geben oder evtl. innerlich denken. Und bei der Fülle von Charakteren hat Doderer einiges zu tun :breitgrins:


    @ Anita, mir ist nicht ganz klar, was Du mit „wechselnder Sprache“ meinst. Dass die Figuren durch eine bestimmte Art zu sprechen charakterisiert wären, kann ich nicht erkennen. Sie stammen bis jetzt ja auch alle aus dem gleichen Milieu. Charakterisiert werden sie durch die Darstellung ihrer jeweiligen Psychologie.



    Kein Kommentar wegen Mangel der Zeit, nur ein Zitat aus S. 85-86, Biederstein Ausgabe:


    @ wanderer, die Antwort liegt schon in der Frage „gehört es wirklich zu uns?“ Doderer will ganz klar von uns ein „nein“ hören. :breitgrins: Das Handeln seiner Personen ist kein bewusster, kontrollierter, freier Willensakt, sondern wird von ihrer besonderen Seelenlage und der Wechselwirkung zwischen Innen- und Außenwelt bestimmt.


    Gruß
    Anna


  • Mich verblüfft, wie meisterhaft er komponiert ist, mit welcher Souveränität Doderer die enorme Stofffülle handhabt und die verschiedenen Handlungsstränge, die Zeitsprünge, die vielfältigen Beziehungen zwischen seinen zahlreichen Figuren zu einem dichten Gebilde verwebt.


    Hallo Anna,


    angeblich soll Doderer eine große Tapete mit zahlreichen Skizzen gefüllt haben, um den Überblick nicht zu verlieren. Das ist aber vermutlich nur eine dieser hübschen Legenden.


    Ich verfolge Eure Runde mit großem Interesse, kann aber aus Zeitmangel an der erneuten Lektüre eines meiner Lieblingsbücher nicht teilnehmen.


    Euch weiterhin viel Spaß wünscht


    Tom


  • @ wanderer, die Antwort liegt schon in der Frage „gehört es wirklich zu uns?“ Doderer will ganz klar von uns ein „nein“ hören. :breitgrins: Das Handeln seiner Personen ist kein bewusster, kontrollierter, freier Willensakt, sondern wird von ihrer besonderen Seelenlage und der Wechselwirkung zwischen Innen- und Außenwelt bestimmt.


    So einfach ist diese Frage für mich nicht Anna, für mich bezieht sich diese Frage nicht auf das bloße Handeln und den Wechselwirkungen derer. Ich habe darin noch eine höhere Ebene verstanden, da sich die Frage an den Leser richtet, der Leser der liest und nicht "(mit)handelt", und dadurch für mich in eine noch höhere Ebene rutscht, ähnlich dem "Glasperlenspiel". :zwinker:


    Zitat

    Charakterisiert werden sie durch die Darstellung ihrer jeweiligen Psychologie.


    Für mich einerlei, oder die Umkehrung, aber nichts Gegenteiliges. Die Sprache passt sich dem Charakter der Figuren an, charakterisiert also die Figuren, mal ist sie sehr poetisch, oder sehr mit Fremdwörtern gespickt, ausführlich beschreibend, belehrend (Einmischungen des Erzählers), aber teilweise auch sehr locker, dann finden wir auch Wörter wie "nix" u.a..


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • angeblich soll Doderer eine große Tapete mit zahlreichen Skizzen gefüllt haben, um den Überblick nicht zu verlieren. Das ist aber vermutlich nur eine dieser hübschen Legenden.


    Hallo Tom, das mit der Tapete kann ich mir gut vorstellen. Eine auch nur grobe Skizze dieser Figuren- und Beziehungsvielfalt würde nicht auf eine Din-A4- Seite passen. Und da Doderer zu der Zeit, als er den Roman schrieb, allein lebte (wie fast immer), wurde er auch nicht durch die kleinlichen Einwände einer Ehefrau vom Beschmieren der Tapete abgehalten.


    So einfach ist diese Frage für mich nicht


    Aber nein, über diese Stelle wird sicherlich noch zu diskutieren sein. Es war nur eine erste, vorläufige Antwort von mir nach 250 Seiten Romanlektüre. :zwinker: Zur höheren Ebene im „Glasperlenspiel“ kann ich nichts sagen, ich habe das Buch nicht gelesen. Habe ich da was verpasst?


    Die Sprache passt sich dem Charakter der Figuren an,


    Ich störe mich so ein bisschen an dem Wort „Charakter“, aber wir meinen, glaube ich, beide dasselbe: Die Sprache passt sich der jeweiligen Seelenlage und Situation an. Beim alten Stangler allerdings drückt sich seine tyrannische, unduldsame Art wirklich in einer aggressiven, autoritären Art zu sprechen aus.


    Gruß
    Anna :winken:

  • Zur Sprache der Figuren fällt auf, dass bei den Melzer-Passagen wiederholt geklammerte Einschübe zu finden sind, die sich mitunter an den Leser richten und sich manchmal auch ein bißchen spöttisch über Melzer auslassen. Diese Lässigkeit, aber auch den Zweifel am Charakter Melzers gefällt mir, denn sie spiegelt auch dessen Widersprüchlichkeit.


    Bei Mary K. wird viel mit detaillierten Beobachtungen gearbeitet, die wartenden Taxis an der Ecke, der Park oder auch das Zimmer. Das kommt m.E. bei den anderen Personen bisher so nicht vor. Auch hier glaube ich, dass sich ihr Charakter, abwartend und genau beobachtend, evtl. auch berechnend und sicherheitsbewusst, hier wiederfindet. Genaueres kann man sicher erst gegen Ende des Buches sagen.


    Im Grunde kann man schon eine stilistische Veränderung in Bezug auf die Personen erkennen, was für mich das Ganze sehr faszinierend macht. Allein mit einer ganzen Wand voll Skizzen kann da nicht ausgereicht haben.



    Ich verfolge Eure Runde mit großem Interesse, kann aber aus Zeitmangel an der erneuten Lektüre eines meiner Lieblingsbücher nicht teilnehmen.


    Tom, ich kann schon jetzt, nach knapp 100 Seiten sagen, dass es sicher auch eines meiner Lieblingsbücher werden wird ! Genauso wie Anna Magdalena bin ich begeistert von der Erzählweise und es ist beeindruckend, wie Doderer Atmosphäre beschreiben kann.



    Gruß von Steffi

  • Hallo Zusammen.


    Ja klar, frönt ihr nur eure Begeisterung und ich muss mal Dampf ablassen :breitgrins: Mir ist schon klar, dass auch Doderer mir die verlorene Zeit in aller Deutlichkeit zeigen möchte :zwinker:, aber muss es denn in einer Aneinanderreihung von Banalitäten ausarten :grmpf: Klatsch und Tratsch habe ich soeben gelesen, nichts anderes war das als diese illustere Gesellschaft im Pyjama :breitgrins: Was sie von sich gegeben haben diese Herren im Abenddress war Geschwätz und Mutmaßungen.
    Kurz davor habe ich von der "Fluder" gelesen, eine tolle Naturbeschreibung ...


    Nein, was ich sagen möchte, ich komme nicht voran, da ich wirklich nur scheibchenweise im Buch lesen kann und es für mich bisher ohne Zusammenhang sind. Ich weiß nicht, worauf Doderer hinaus möchte, und deshalb lese ich langsam um nichts zu verpassen. Nach einer guten Woche bin ich auf Seite 204 und ihr?


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

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  • Hallo zusammen,


    und ich habe das Gefühl, dass alles noch ungeheuer wichtig sein wird, sogar Banalitäten.
    z.B.. sagte Mary K., als sie noch Mary Allern hieß, zu Melzer, das er ihr doch den Bären schießen sollte, den er ihr aufgebunden hat. Später erleben wir Melzer auf der Bärenjagd in Bosnien und dieses Fell hat er Zeit seines Lebens.


    Diesen Satz über Melzer finde ich bedeutsam und hier benutzt der Erzähler zum ersten Mal das "Ich":


    .... nämlich im Kriege. Melzer hat 1914 - 1918 so ziemlich mitgemacht, was es da mitzumachen gab..... Nennbar Unvergeßliches! Aber der Mensch kommt, im Kriege erlebend, nicht zu sich selbst, sondern immer wieder zu den Anderen.



    Das würde auch erklären, warum ich in der Sekundärliteratur immer wieder auf den Begriff der "Menschwerdung" stoße.


    Alles sehr interessant und bedeutend.


    Auch finde ich die S. 63 - 90 (soweit bin ich derzeit) wegen den Zeitsprüngen sehr lese-intensiv. Man springt rückblickend zu 1910 und blickt voraus auf 1945. Man muß ganz schön aufpassen, um sich nicht verwirren zu lassen.


    Mir fiel auf, dass gerade auf diesen wenigen Seiten sich Melzer viel an verschiedenen Bahnhöfen aufhält, auch Wege mit der Bahn fährt, die ihn nicht dorthin bringen wo er gerne sein möchte (1910), später (1925) frequentierte er öfters den Böhmischen Bahnhof ....


    Mir fiel dazu ein, dass in der "Recherche" zahlreiche Szenen in der Eisenbahn spielen oder sind mit diesem Verkehrsmittel verbunden. Ich werde das weiter beobachten.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • muss es denn in einer Aneinanderreihung von Banalitäten ausarten :grmpf:


    Aber wie schön Doderer diese Banalitäten beschreibt! :smile: Es ist wahr, sonderlich Bedeutsames oder gar Weltbewegendes geschieht nicht. Doch diese ganzen Banalitäten, Nebensächlichkeiten, Zufälligkeiten gehören nun mal zum Leben hinzu und machen seine Vielfältigkeit aus. Außerdem glaube ich wie Maria, dass diese Bagatellszenen noch zu Überraschungen führen werden. Mich überrascht jetzt schon, dass dieser Roman mir über den Genuss an seiner Sprache und Komposition hinaus richtige Lebensfreude vermittelt.


    Ich weiß nicht, worauf Doderer hinaus möchte, und deshalb lese ich langsam um nichts zu verpassen. Nach einer guten Woche bin ich auf Seite 204 und ihr?


    Im Moment würde ich sagen, Doderer will einfach ein Panorama des Lebens im Wien jener Jahre zwischen 1911 und 1925 entwerfen. Ich bin schon auf Seite 250, werde in den nächsten Tagen aber kaum zum Lesen kommen. Lass Dir also ruhig Zeit, so ein Buch muss man genießen.


    Gruß
    Anna


  • Das würde auch erklären, warum ich in der Sekundärliteratur immer wieder auf den Begriff der "Menschwerdung" stoße.


    Alles sehr interessant und bedeutend.


    Hallo Maria,


    die "Menschwerdung" ist ein zentrales Motiv Doderers. Wenn Du mehr darüber aus des Meisters Feder lesen möchtest, empfehle ich den etwas kürzeren Roman "Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrats Julius Zihal". Der Titel spricht für sich, oder?


    So, nun verlasse ich Euch wieder.


    Einen schönen Sonntag wünscht


    Tom


  • Hallo Tom,


    danke dir für weitere Infomationen. Ich sauge gerade alles wie ein Schwamm auf. Bin fasziniert von Doderer und genieße jeden Satz und komme dementsprechend langsam voran, weil ich immer wieder auf Recherche gehe. Im Doderer-ABC gibt es ein Kapitel über Zihalismus, werde dem nachgehen. Das von dir erwähnte Buch gibt es in gebundener Form. Ich glaube darin sind zwei Geschichten zu finden; Die erleuchteten Fenster. Ein Umweg.:


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    was mich wundert, ist, dass es vom Doderer-Experten Wendelin Schmidt-Dengler kein Buch über Doderer gibt. Ich fand nur eine photographische Spurenreise, die auf dem Gebrauchtmarkt für über 100 Euro angeboten wird.



    vielleicht wird dem Doderer in D nächstes Jahr 2011 mehr Aufmerksamkeit gewidmet, wenn sein 45. Todestag und sein 115. Geburtstag ansteht.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

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  • Das von dir erwähnte Buch gibt es in gebundener Form. Ich glaube darin sind zwei Geschichten zu finden; Die erleuchteten Fenster. Ein Umweg.:


    Ja, Maria, das ist die Ausgabe, die ich auch besitze. An die zweite Geschichte des Buchs (Ein Umweg) kann ich mich leider nicht erinnern. Wahrscheinlich habe ich sie nicht gelesen ... :redface:


    So long


    Tom

  • Hallo zusammen,



    Ich lese den Roman mit wachsender Begeisterung und kann mich nur schwer von ihm losreißen. Mich verblüfft, wie meisterhaft er komponiert ist, mit welcher Souveränität Doderer die enorme Stofffülle handhabt und die verschiedenen Handlungsstränge, die Zeitsprünge, die vielfältigen Beziehungen zwischen seinen zahlreichen Figuren zu einem dichten Gebilde verwebt. Zum einen ist er ein unglaublich witziger und ironischer Fabulierer, der in einer üppigen, überbordenden, vor Metaphern nur so strotzenden Sprache erzählt, zum anderen erweist er sich als ein scharfer, analytischer Beobachter menschlicher Eigenarten und Verhaltensweisen. Seine psychologischen Bilder, diese detaillierten Darstellungen der „Seelenmischungen“ seiner Figuren machen für mich seine größte Stärke aus.



    Anna Magdalena:
    bestens ausgedrückt, genau das was mich so total anspricht. :-)


    hier noch eine kleine Recherche zu Spartacus-Wirren in Berlin (S. 89), falls sich auch jemand gefragt hat, was das für Wirren waren:
    http://einestages.spiegel.de/s…1/aufstand_in_berlin.html



    im Moment mache ich im Roman vermehrt die Farbe rot aus; Blut (Bärenjagd), roter Viersitzer u.a.




    Zitat von "Anna Magdalena"

    @ wanderer, die Antwort liegt schon in der Frage „gehört es wirklich zu uns?“ Doderer will ganz klar von uns ein „nein“ hören. :breitgrins: Das Handeln seiner Personen ist kein bewusster, kontrollierter, freier Willensakt, sondern wird von ihrer besonderen Seelenlage und der Wechselwirkung zwischen Innen- und Außenwelt bestimmt.


    Wechselwirkung zwischen Innen- und Außenwelt, das würde ich auch so sehen. Es wird uns durch die Figur Melzer sogar hin und wieder mitgeteilt, z.B. der Außenwall von Melzer, seine Schwächen...


    Edit:
    und vielleicht auch die Wechselwirkung und Annäherung zwischen dem Bewußten und Unbewußten bis zwischen beiden die Funken sprühen. (S. 95)


    In der Zwischenzeit bin ich auf S. 120


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Hallo zusammen,


    ich lese die „Strudlhofstiege“ in einem sehr gemächlichen Tempo, in erster Linie auch deshalb, um keine Nuance der Erzählung zu verpassen. Darum bin ich auch erst auf Seite 110. Momentan fehlt mir noch etwas der rote Faden und ich muss aufpassen, bei den unterschiedlichen Handlungssträngen, den vielen kleinen Nebensächlichkeiten, den Zeitsprüngen und den bruchstückhaften Biographien bestimmter Charaktere sowie deren Verflechtungen untereinander den Überblick zu behalten. Vieles kann ich momentan noch nicht richtig einordnen und für mich ist das Werk zum jetzigen Zeitpunkt ein großer Haufen Puzzleteile, den ich sichten und sortieren muss, um ihn nach und nach zu einem Bild zusammenzufügen. Ich nehme sozusagen Textpassagen wie Puzzleteilchen „in die Hand“, betrachte sie und lege sie erst einmal zur Seite, denn irgendwann finde ich die dazu passenden Teile und kann sie an ihren vorgesehenen Platz im Gesamtbild einfügen.


    Das Spiel Doderers mit der Sprache habe ich in einem Roman selten in solcher Vollendung erlebt und das ist etwas, was ich sehr genieße. Es gibt Textstellen, die lese ich drei- bis viermal, weil sie einfach nur schön sind. Und dass ich als Leser stellenweise auch direkt angesprochen werde, stellt mich in einen besonderen Bezug zur Handlung, regt es mich doch manchmal zu einem vertiefteren Nachdenken an. Irgendjemand von euch hat geschrieben, man möchte ständig irgendwelche schönen Textstellen zitieren. Das geht mir genauso; meine Ausgabe zieren jetzt schon mehrere Post-its. Leider hab ich mein Buch hier im Büro nicht dabei und kann deshalb jetzt nicht explizit auf bestimmte Textstellen eingehen.


    Steffi
    Mir ist auch aufgefallen, dass die Passagen, die sich mit Melzer befassen, sehr viel zusätzlichen Text in Klammern enthalten. Ich habe mir angewöhnt, diese Abschnitte zuerst mit den Texten in den Klammern zu lesen und anschließend das Ganze nochmals ohne den Text in der Klammer, so lässt sich oft die eine oder andere Nuance entdecken, die einem zuvor entgangen ist.


    Festgestellt habe ich übrigens, dass meine gute Wiener Ortskenntnis hier ein großer Vorteil ist. An die meisten Orte der Handlung kann ich mich gedanklich quasi „hinbeamen“. :smile: Selbst die Zugfahrt Melzers von Attnang-Puchheim über Linz nach Wien konnte ich gedanklich mitfahren, da der Zug von München nach Wien noch heute diese Strecke fährt.


    Viele Grüße
    Yvonne


  • Steffi
    Mir ist auch aufgefallen, dass die Passagen, die sich mit Melzer befassen, sehr viel zusätzlichen Text in Klammern enthalten. Ich habe mir angewöhnt, diese Abschnitte zuerst mit den Texten in den Klammern zu lesen und anschließend das Ganze nochmals ohne den Text in der Klammer, so lässt sich oft die eine oder andere Nuance entdecken, die einem zuvor entgangen ist.


    Hallo Yvonne,


    danke für den Tipp, das werde ich mal ausprobieren.


    Dein Vergleich mit dem Puzzle gefällt mir, mir geht es damit ähnlich. Allerdings befürchte ich ein bißchen, dass ich deshalb nicht alles mitkriege, aber vielleicht sollte ich da Doderer einfach vertrauen.



    Gruß von Steffi


  • Dein Vergleich mit dem Puzzle gefällt mir, mir geht es damit ähnlich. Allerdings befürchte ich ein bißchen, dass ich deshalb nicht alles mitkriege, aber vielleicht sollte ich da Doderer einfach vertrauen.


    Mir gefällt er auch sehr, ist mir direkt aufgefallen :smile: ABER, ich habe hier das Gefühl, wir haben alle ein wenig zu viel Ehrfurcht vor den großen Doderer, der ja auch im MRR Kanon steht (was man eben alles so gelesen haben soll und muss). Mir persönlich fehlt an dieser LR die Leichtigkeit.


    Ich werde dieses Buch lesen ohne Sekundärliteratur, ohne Recherche im Netz, werde mir meine Gedanken dazu machen, auch teilweise kritische, denn es ist unendlich langatmig und es steckt voller Banalitäten. Falls ich im weiteren Verlauf, die ein oder andere Nuance nicht verstanden habe sollte, gibt es zwei Möglichkeiten für mich: A. Doderer hat mich zum Schluss so von seinem Buch überzeugt, dass ich das Buch gerne wieder lesen werde oder eben, B. er hat mich nicht restlos überzeugt ... :zwinker: Aber ich mache bei der ersten Lektüre nie einen Staatsakt daraus :winken:


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Hallo Anita,


    vielleicht kannst du näher erklären, warum dir die Leichtigkeit in dieser Leserunde fehlt? Warum ist Recherche für dich ein Staatsakt, ob erste oder folge Lektüre?


    Es erwartet ja keiner hier, dass jeder recherchiert. Ich finde, wichtig ist die Kommunikation darüber. Niemand erwartet, dass du dir irgendeine Leichtigkeit nehmen lässt, sondern deine Eindrücke beschreibst und das tust du ja. Jeder geht halt anders an eine Leserunde.


    Ich recherchier gerne und geh immer so an ein Buch ran, wenn mich die Sprache und die Art eines Autors packt und teile auch gerne meine Recherche mit. Es gibt Bücher, die sind für mich etwas besonderes und das ist meine Art daran zugehen. Außerdem kann ich nicht so schnell durch ein Buch gehen. Ich erwarte aber nicht, dass jemand deswegen langsamer macht. Im Grunde kann auch jemand sagen, 'mir hats gut gefallen - oder nicht'.


    Du meinst also, man geht nicht kritisch genug mit Doderer um? Zuviel Ehrfurcht?


    Vielleicht kommt die Kritik ja noch, nach 100 Seiten finde ich nun mal den Aufbau hervorragend. Was du unendlich langatmig findest, finde ich bisher faszinierend, da Doderer mir die Personen glaubwürdig einführt. Die Atmosphäre finde ich sehr plastisch, ohne dass er großartig irgendetwas im Raum beschreibt. Die Erinnerungen, die Zeitsprünge, die inneren und äußeren Einflüsse, sind auf den ersten 120 Seiten, großartig beschrieben. Warum sollte ich nicht vor so einer Sprache Ehrfurcht zeigen? Wenn nicht jetzt, wann dann?


    ich verstehe dich jetzt nicht ganz.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • Du meinst also, man geht nicht kritisch genug mit Doderer um? Zuviel Ehrfurcht?


    Ja klar, ich lese kaum eine Äußerung zur Stiege (außerhalb), die nicht zumindest die Langatmigkeit erwähnt :zwinker:


    Aber nein, das ist es nicht. Ich denke, der Zeitpunkt der Lektüre ist für mich denkbar schlecht, weil einfach meine Lebenssituation momentan alles andere als ruhig ist. Und vom Typ her muss ich dann auch stöhnen dürfen, doch dieses Stöhnen bleibt mir ja hier fast in der Tastatur stecken, bei so viel Begeisterung :zwinker:)


    Für mich stellt sich wirklich die Frage, was will dieser Autor eigentlich von mir? Soll ich mir jetzt auch mein Arbeitszimmer zu pflastern mit Bruchstücken und Puzzleteilen? Gibt es einen Grund dafür, dass Doderer mein Gedächtnis so strapaziert? Wo führt das hin? Ich bin derzeit nicht in der Stimmung mich auf ein solches Versteckspiel einzulassen.


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

    Einmal editiert, zuletzt von Anita ()

  • Hallo,


    ich verfolge eure Eindrücke und Diskussionen über dieses Buch mit großer Freude und ich muss sagen: Die Begeisterung als auch die kritischen Stimmen sind mehr als ansteckend. Ich hatte heute sogar schon das Buch in der Bücherei in der Hand, habe es dann aber wieder zurück gestellt. Da ich noch so viele andere Bücher auf meiner Liste habe, wurde die Strudlhofstiege auf eine Warteliste gesetzt. Aber aus einem "Das Buch werde ich nie lesen" wurde dank dieses Threads ein "Werde ich mir sicher anschauen" geworden.


    Katrin

  • Hallo Anita,


    Aber nein, das ist es nicht. Ich denke, der Zeitpunkt der Lektüre ist für mich denkbar schlecht, weil einfach meine Lebenssituation momentan alles andere als ruhig ist. Und vom Typ her muss ich dann auch stöhnen dürfen, doch dieses Stöhnen bleibt mir ja hier fast in der Tastatur stecken, bei so viel Begeisterung :zwinker:)



    ich kann dich wirklich gut verstehen. Diverse Lebenssituationen bestimmen ja auch unseren Rhythmus. Du schreibst, dass es gerade nicht ruhig für dich zugeht und deshalb finde ich es wirklich gut, dass du dich so frei äußerst. Ich bin gerade in einer Trauerbewältigung und vielleicht vertiefe ich mich deswegen so sehr in das Werk. Obwohl ich das auch sonst wirklich äußerst gerne tue, mich in einem Werk aufgehen zu lassen. Ich kann es kaum anders ausdrücken.


    Doch sobald es etwas zu stöhnen gibt, gebe ich Laut, versprochen!



    Zitat von "Anita"


    Für mich stellt sich wirklich die Frage, was will dieser Autor eigentlich von mir? Soll ich mir jetzt auch mein Arbeitszimmer zu pflastern mit Bruchstücken und Puzzleteilen? Gibt es einen Grund dafür, dass Doderer mein Gedächtnis so strapaziert? Wo führt das hin? Ich bin derzeit nicht in der Stimmung mich auf ein solches Versteckspiel einzulassen.


    sicherlich will er viel Aufmerksamkeit. Ich bin gespannt, wie er alles verknüpft und sicher vergesse ich auch wieder etwas,wer kann sich schon alles merken. Aber dein Vergleich mit dem Versteckspiel ist wirklich treffend. Bei sowas fühle ich mich sehr herausgefordert. Fontane versteckt auch gerne Andeutungen und benutzt noch dazu viel Symbolik, dafür liebe ich ihn :-)


    Ich hoffe, deine derzeitige Situation hält dich nicht zurück, weiter deine Eindrücke zu schildern. Es wäre sehr schade, wenn du das Gefühl weiterhin hättest, deine berechtigten Fragen liefen ins Leere. Wir sind ja noch ziemlich am Beginn des Buches, zumindest ich, und wer weiß schon, wohin uns Doderer führen möchte.


    Mir fiel auf, dass Doderer viel mit "Tiefe" und ähnlicher Symbolik arbeitet, die diese Tiefe widerspiegelt. Das gibt natürlich auch der Untertitel preis. Auffallend ist, dass man meist die Stiege hinuntergeht und es gibt noch andere Beispiele.


    @Yvonne,
    deinem Hinweis, Passagen auch ohne die Klammersätze nochmals zu lesen, werde ich auch ausprobieren.


    Jaqui,
    schön, dass wir dich auf das Buch neugierig machen konnten.


    Ich vermisse auch noch unsere Manjula; wir haben eine tolle Zeit mit Proust verbracht :winken:
    Schade, dass es nicht geklappt hat, aber manchmal kommt halt etwas dazwischen.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

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