Gustav Freytag

  • Hallo ...


    Ich hatte schon erwähnt, dass ich sein Buch "Soll und Haben" lese. Aber wie bewertet man denn nun seinen "anscheinenden" Antisemitismus? Darf man es einfach als zeitgemäß hinnehmen? Muss man strikt darauf verweisen?


    Mir gefällt der Roman von der Handlung (ja wenn da nicht eben X wäre) und von Sprache ganz gut, aber wie präsentiere ich ihn nach außen :hm:


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

    Einmal editiert, zuletzt von Anita ()

  • Hallo Anita,


    ich bin kein Historiker, aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war im Deutschen Reich der Antisemitismus ziemlich gegenwärtig. In diesem Zusammenhang spiegelt der Antisemitismus natürlich auch in den Roman hinein. Dem Autor ist kein Vorwurf zu machen. Der wikipedia-Artikel über Gustav Freytag rückt den angeblichen Antisemitismus des Schriftstellers ins rechte Licht.


    Liebe Grüße
    mombour

  • Oh mombour, jetzt wird es ja noch verwirrender, da musste ich doch gleich mein Post von oben ändern, ich muss nun schreiben "anscheinend", denn der Autor denkt in anderen Werken doch anders :breitgrins: Okay, ich bin erst im ersten Drittel, aber meiner Meinung nach ist es augenscheinlich, dass Itzig bewusst dieser miese Jude ist und Anton der edle Ritter.
    Natürlich ist auch der Blick aus heutiger Sicht einfach eine Perspektive, die dem Werk seine Schönheit nimmt, denn wenn ich davon absehen könnte, würde ich das Buch gerne abends vorm Einschlafen schmökern.


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Ich würde Mombour zustimmen. Zwar ist der Hauptschurke in Soll und Haben ein Jude, aber nicht alle Schurken im Roman sind Juden, und nicht alle Juden sind Schurken. Freytag verwendet m.E. die Stereotypen seiner Zeit.


    Hat man übrigens Dickens den Vorwurf des Antisemitismus gemacht? Immerhin ist eine der Hauptfiguren von Oliver Twist der jüdische Verbrecher Fagin.


    Ich habe Soll und Haben vor einigen Monaten gelesen und habe die knapp 900 Seiten nicht bereut. Ich denke z.B. an den Herrn von Fink... vielleicht die interessanteste Figur im Roman. Interessant waren für mich auch die Schilderung des polnischen Aufstandes. An Thackeray oder Fontane allerdings reicht Freytag m.E. nicht heran.


    - Harald

    Aktuell: Altägyptische Literatur. Kafka. Theater des Siglo de Oro. Gontscharow. Sterne, Fielding, Smollett.


  • Hat man übrigens Dickens den Vorwurf des Antisemitismus gemacht? Immerhin ist eine der Hauptfiguren von Oliver Twist der jüdische Verbrecher Fagin.


    Fagin the Jew is the title of a graphic novel by Will Eisner (ISBN 0-385-51009-8).
    In this book, Eisner retells the story of Fagin from Charles Dickens's Oliver Twist from Fagin's point of view. Eisner portrays Fagin as a distressed and complex character, and tells the story of his life and his place in the Ashkenazic community of London in the first person, with many illustrations. The book was written in response to Eisner's belief that much classic literature contains anti-Semitic stereotypes, including Dickens's portrayal of Fagin. Eisner has cast the story in the form of an interview between Fagin and Dickens, on the night before Fagin is to be hanged, in which Fagin tells his life story and pleads for a more understanding portrayal by Dickens.

    http://en.wikipedia.org/wiki/Fagin_the_Jew


  • ich bin kein Historiker, aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war im Deutschen Reich der Antisemitismus ziemlich gegenwärtig.


    Man höre mal in den Briefwechsel von Marx und Engels rein (genial gelesen von Rowohlt und Gysi). Man glaubt kaum, was man da zu hören bekommt.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Vor ein paar Jahren habe ich ein Radiointerview gehört, in dem eine israelische Literaturwissenschaftlerin (Name leider entfallen, es war beim Auto fahren) über die deutsche Literatur im 18. und 19. Jahrhundert sprach. Sie nannte nur zwei Namen von Autoren, denen sie sie zugestand keine antisemitische Haltung aufzuweisen. Es waren Lessing und Gottfried Keller.
    Mann sollte natürlich auch berücksichtigen, dass eine kritische Auseinandersetzung mit dem Judentum sehr oft ebenfalls als antisemitisch (im modernen biologischen Sinn) etikettiert wird.

  • Danke für eure Einschätzungen. Nun kann ich erleichtert abends den Freytag lesen, ohne diese verkehren Gedanken im Hinterkopf haben zu müssen. Diesbezüglich bin ich sehr leicht zu verunsichern, vielleicht liegt das an meiner Erziehung, Schule und Umgebung. So viele Worte oder Gedanken werden so leicht und schnell als Antisemitismus gedeutet, dass man sich angewöhnt diskret zu schweigen. Obwohl ich eine sehr direkte Person bin, und meist sage was ich denke, mit dieser Thematik komme ich immer wieder ins Schleudern :redface:


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"


  • So viele Worte oder Gedanken werden so leicht und schnell als Antisemitismus gedeutet, dass man sich angewöhnt diskret zu schweigen.


    Nur weil Antisemitismus im 19. Jahrhundert "normal" war, heißt das ja nicht, dass es keiner war. Und Schweigen aka Verdrängung: ist keine gute Lösung. Man sollte sich da schon auch der Frage stellen, warum es einem peinlich ist oder warum man darüber "diskret scheigt". Statt sein Unbehagen möglichst verständlich - auch für einen selbst - zu artikulieren. (Selbst)Reflexion: ist durch nichts zu ersetzen ;-)

  • Das ist ein schwieriges Thema, das mich bei anderen Autoren auch immer wieder bewegt hat. Die Tatsache, dass Antisemitismus im 19. Jahrhundert (und ich denke auch früher schon) gesellschaftlich latent vorhanden war und zu diesen Zeiten anders bewertet wurde, heißt ja nicht, dass es damit erledigt oder gar entschuldigt wäre. Auch wenn ich ob der rückblickenden Bewertung die Problematik begreife.


    Vielleicht ist das Unwohlsein, dass wir heute dabei empfinden, wichtig, um uns eine gewisse Wachheit und Sensibilität zu erhalten. Ich stelle mir allerdings dann immer die Frage, welchen Balken wir, bei der Betrachtung der Probleme unserer Zeit, vor Augen haben könnten, den "wir" heute einfach ausblenden?


    Nachdenkliche Grüße,
    akira

  • Nur weil Antisemitismus im 19. Jahrhundert "normal" war, heißt das ja nicht, dass es keiner war. Und Schweigen aka Verdrängung: ist keine gute Lösung. Man sollte sich da schon auch der Frage stellen, warum es einem peinlich ist oder warum man darüber "diskret scheigt". Statt sein Unbehagen möglichst verständlich - auch für einen selbst - zu artikulieren. (Selbst)Reflexion: ist durch nichts zu ersetzen ;-)


    Natürlich kenne ich mein eigenes Unbehagen ganz genau, Giesbert Damaschke. Das ist ja mein Drahtseilakt, wie viele Eckpunkte und Missverständnisse es geben könnte, meine Worte, die ich vielleicht äußern würde über das Buch, weil es in gewisser Weise gefällt, ganz schnell in eine Richtung interpretiert werden könnte, die von mir gar nicht beabsichtigt wurde. Welche Probleme sich bei einer Buchvorstellung ergeben würden, wenn ich denn eine solche schreiben würde. :zwinker:


    Zitat von "akira"

    Die Tatsache, dass Antisemitismus im 19. Jahrhundert (und ich denke auch früher schon) gesellschaftlich latent vorhanden war und zu diesen Zeiten anders bewertet wurde, heißt ja nicht, dass es damit erledigt oder gar entschuldigt wäre.


    Eben!


    Es ist ja auch seltsam, dass über Freytag wenig im Netz gesprochen und diskutiert wurde/wird, und dass er lange nicht mehr gelesen worden ist, erst in diesem Jahrtausend wieder neu aufgelegt wurde.


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Zitat

    Es ist ja auch seltsam, dass über Freytag wenig im Netz gesprochen und diskutiert wurde/wird, und dass er lange nicht mehr gelesen worden ist


    das könnte einfach daran liegen, dass er ein schlechter Autor ist ;-). Davon gibt es noch mehr, die heute auch zu Recht vergessen sind. Felix Dahn zB, dessen "Kampf um Rom" immer mal wieder aufgelegt wird. Oder Georg Ebers, zu Lebzeiten sehr erfolgreich, später erfolgreich vergessen. Oder Hackländer. Jensen. Und das sind noch die bekanntesten Namen ;-)


  • Es ist ja auch seltsam, dass über Freytag wenig im Netz gesprochen und diskutiert wurde/wird, und dass er lange nicht mehr gelesen worden ist, erst in diesem Jahrtausend wieder neu aufgelegt wurde.



    das könnte einfach daran liegen, dass er ein schlechter Autor ist ;-). Davon gibt es noch mehr, die heute auch zu Recht vergessen sind. Felix Dahn zB, dessen "Kampf um Rom" immer mal wieder aufgelegt wird. Oder Georg Ebers, zu Lebzeiten sehr erfolgreich, später erfolgreich vergessen. Oder Hackländer. Jensen. Und das sind noch die bekanntesten Namen ;-)


    Ich habe da ein "Verdikt" Marcel Reich-Ranickis im Ohr, das sinngemäß lautet: Freytag ist zurecht ein Fall ausschließlich für die Germanistik geworden. Was wohl heißt: Eine breite Leserschaft hat dieser Autor nicht verdient. Aber es wird noch besser: Ich erinnere mich, dass MRR dieses Urteil auch auf Wilhelm Raabe ausdehnte. Ob sich diese Ablehnung auch auf angeblichen oder tatsächlichen Antisemitismus bezieht, ist mir entfallen. Wäre ein solcher Vorwurf überhaupt berechtigt? Ich kenne mich mit W. Raabe nicht aus.


    LG


    Tom
    (der ganz gewiss nicht alle MRR-Weisheiten auf die Goldwaage legt ...)


  • [...] sie dann auch noch in die Nähe der Judenfeindlichkeit bringen kann, ist mir schleierhaft.


    Doch - das geht ;). Mit dem latenten Antisemitismus Thomas Manns kann man Bände füllen (was denn auch getan wurde), beide Brüder haben früh für ein nationalistisches Hetzblatt geschrieben, Wälsungenblut wurde der latenten Judenfeindlichkeit wegen von der Familie Pringsheim wenig geschätzt etc. Oder eine Tagebucheintragung Th. Manns gefällig: "[...] Dass die übermütige und vergiftende Nietzsche-Vermauschelung Kerrs ausgeschlossen ist, ist am Ende kein Unglück; auch die Entjudung der Justiz am Ende nicht." (Aus Th. Manns Tagebuch nach der Machtergreifung Hitlers)


    Was nichts damit zu tun hat, dass Th. Mann ein großartiger Schriftsteller war.


    Grüße


    s.


  • Wälsungenblut wurde der latenten Judenfeindlichkeit wegen von der Familie Pringsheim wenig geschätzt etc.


    Eine andere Interpretation, weshalb die Pringsheims diese Novelle nicht sehr schaetzten hat weniger mit der "Judenfeindlichkeit" zu tun, als mit der Geschichte selbst, die angeblich zu sehr an die Familienwuerde ruehrt (oder wie auch immer man dies nennen soll).


    Ich fuer meinen Teil sehe Heinrich Mann in einem wesentlich zwielichtigeren Verhaeltnis zum Antisemitismus, insbesondere in seinen "jungen Jahren" - angeblich gab es auch ziemliche Zwistigkeiten zwischen den Bruedern, gerade weil Thomas eine juedische Frau heiratete...


    Aber dies fuehrt alles off-topic.


    Kenne von Gustav Freytag nur "Die verlorene Handschrift" - und hatte dabei nicht das Gefuehl eine "gefaehrlichen" Antisemitismus (d.h. hetzerischen), sondern mehr, dass er halt ein Kind seiner Zeit war und nicht gerade sehr vorbildlich diesbezueglich...


    Gruesse
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Also ich fand alle drei Romane von Freytag lesenswert. Am besten aber haben mit "Die Ahnen" gefallen.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)